Prolog

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Eine junge Frau schwebte über den dicht bewachsenen Waldboden, der in dem Dunkel der Nacht eigenartig bläulich erschien. Die sanfte Brise, welche durch das Wäldchen strich, spielte mit ihrem glatten, weißblonden Haar, sobald sie ihre Hände über die Blätter eines kranken Haselnussstrauches gleiten ließ. Ihr im Mondlicht silbrig wirkendes Kleid umschmeichelte ihren zierlichen Körper, der allerdings in einer Art Nebel endete, anstatt in Füßen.

„Du spürst es auch, nicht wahr?"

Die Stimme ihres Begleiters, welche aus der Krone eines nahestehenden Baumes ertönte, ließ sie in ihrer Bewegung innehalten und ihr fein gezeichnetes Gesicht dem Sprechenden zuwenden, sodass ihre hellblauen Augen das weiße Licht des Mondes reflektierten und einen fremdartigen Schimmer erhielten.

„Rae." Ihre helle Stimme trug den Namen des Mannes gerade so weit genug, dass dieser ihn hören konnte, woraufhin sich sogleich ein Grinsen auf seine kantigen Gesichtszüge stahl.

„Man hätte meinen können, dass du von dem Ganzen hier nichts mitbekommen hast, nachdem du schon seit Stunden durch diesen Wald streifst und alles um dich herum ausblendest. Aber da ich dich lange genug kenne, weiß ich natürlich, dass du bereits vorhergesehen hast, was passieren wird, nicht wahr?" Ein belustigter Unterton war nicht zu überhören, doch die jung erscheinende Frau ging nicht darauf ein, sondern wandte sich wieder dem Haselnussstrauch zu, welcher unter der Berührung ihrer Fingerspitzen regelrecht gesünder zu werden und an Stärke zu gewinnen schien. Als sie zufrieden war, drehte sie sich zu Rae um und bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick, während sie ihren Kopf zur Seite neigte.

„Ich sehe vieles, Rae, aber dennoch nicht alles. Das weißt du ebenso wie ich", begann sie schließlich. „Aber es stimmt, ich spüre es. Diese uralte Macht - sie erwacht."

„Kannst du vorhersehen, wer sie dieses Mal bezwingen soll?", fragte Rae ratlos.

Die Frau schwebte zu ihm hinauf und lächelte. „Ja, das kann ich. Allerdings schwebt sie in großer Gefahr."

„Sie? Es hat doch-„

„Das stimmt. Es wurde noch nie ein weibliches Wesen zur Auserwählten bestimmt. Das muss bedeuten, dass es jetzt anders ist als die anderen Male. Mehr kann ich allerdings nicht dazu sagen."

Rae machte ein nachdenkliches Gesicht. „Und weißt du schon, welcher Art sie angehört? Dann könnte ich bereits jetzt ein paar Vorbereitungen treffen."

„Nein, tut mir leid. Du wirst dich wohl auf die altmodischen Methoden verlassen müssen. Gib Allen Bescheid."

„Sollte ich mich nicht lieber eigenhändig um ihren Schutz kümmern? Mit mir als Begleiter kann ihr doch sicherlich nichts passieren!" Corelia streifte Rae lediglich mit einem ungläubigen Blick.

„Rae, ich bin mir nicht sicher, ob du dir darüber im Klaren bist, welch große Verantwortung auf unseren Schultern lastet. Wenn wir auch nur eine falsche Entscheidung treffen, könnte dies undenkbare Folgen haben, die selbst ich noch nicht vorhersehen kann. Außerdem ist es wichtig, dass du an meiner Seite bleibst, um den weiteren Verlauf der Ereignisse nicht zu beeinflussen. Mehr kann ich dir nicht sagen, da sich das sonst unter anderem auf deine Entscheidungen auswirken und diese verfälschen würde."

„Aber woher willst du das wissen?"

„Hör zu, ich habe meine Anweisungen und die gebe ich einfach an dich weiter!"

„Aber sie ist eine Frau! Wie soll sie denn bitte unsere Welt retten?!"

Mit einem leichten Kopfschütteln und einem resignierten Augenrollen wandte sie sich von ihm ab und schwebte wieder zurück zum Waldboden. Rae schlug sich hinter ihrem Rücken mit der Hand gegen seine Stirn und kletterte behände den Baum herunter. Als er auf dem Waldboden ankam, war die zierliche Frau ihm bereits einige Meter voraus, sodass er seine Schritte beschleunigen musste, um sie einzuholen.

Grey ClawWo Geschichten leben. Entdecke jetzt