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Er war es wirklich. Er stand wirklich neben meinen Eltern und meiner Schwester und sah mich erschrocken an. Genau, er stand. Und ich lag am Boden, sah wahrscheinlich aus wie ein plattgetretener Pfannkuchen und machte keinen sonderlich eleganten Eindruck, wie mir nun klar wurde. Er befreite sich als Erster aus der Schockstarre und reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Allerdings rappelte ich mich von alleine wieder auf und schaute Elias ungläubig an.

„D-du?", stammelte ich sprachlos. Langsam zog er seine Hand zurück und sein bis eben freundliches Lächeln begann zu bröckeln, bis er mich verunsichert ansah.

„Hey, ich wollte -"

„Warum hast du dich nur einmal bei mir gemeldet? Ich dachte, wir wären Freunde", fuhr ich ihm über den Mund. Ich hatte eigentlich nicht so verletzt klingen wollen, doch die Worte waren mir über die Lippen gekommen, bevor ich überhaupt nachdenken konnte.

Schuldbewusst senkte er seinen Blick und inspizierte mit scheinbar großem Interesse unseren dunklen Holzboden.

„Ich habe dich vermisst, verdammt nochmal!", schniefte ich wütend und zugleich irgendwie überglücklich, aber auch verletzt. Unter anderen Umständen hätte ich mich gewundert, dass gerade ich, die sonst so ausgeglichen war, so viele unterschiedliche Emotionen auf einmal empfinden konnte, ja regelrecht ein Gefühlschaos durchlebte, doch diesen Gedanken schob ich sofort zur Seite, als er wieder aufblickte und sich in seinen Augen Reue und Trauer spiegelte. Gut, wenigstens hatte er den Anstand, Reue zu empfinden oder diese zumindest vorzuspielen.

Schuldbewusst setzte er zu einer hoffentlich guten Erklärung für den abrupten Kontaktabbruch seinerseits an, als meine wundervolle Schwester mit dem Einfühlungsvermögen eines schimmeligen Brotes wahrscheinlich die Lage deeskalieren wollte, sich zwischen uns schob, mich unsanft zur Seite und dann in Richtung ihres Zimmers zerrte und zum krönenden Abschluss auch noch ein entschuldigendes Lächeln an Elias richtete. Als ob gerade ER eine Entschuldigung verdient hätte! Wenn überhaupt schuldete er MIR eine riesige, gigantische Entschuldigung, die selbst sadistische Diktatoren erweichen und zum Umdenken bewegen können musste!

Geschickt manövrierte meine Schwester mich durch die Türöffnung und schubste mich im Anschluss grob in ihr Zimmer, bevor sie sich zur Tür umdrehte und diese schloss. Bereit zum Protest hatte ich bereits meinen Mund geöffnet, als sich meine liebenswerte Schwester wieder meiner Wenigkeit zuwandte und sagte: „Hör auf, dich so kindisch zu benehmen! Elias hat uns seit fast eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen! Außerdem bleibt er gerade mal zwei Tage und danach geht er wieder ins Ca-", sie räusperte sich, „nach Hause."

„Aha. Und wo soll er schlafen? Das Gästezimmer ist ja wohl kaum begehbar, so viele Kisten wie da herumstehen...", murrte ich missmutig.

„Wir haben gedacht, dass er da schläft, wo er immer schläft, wenn er bei uns übernachtet", erwiderte Lissy, wohl verwundert über meine Frage.

Ich benötigte genau drei Sekunden. Eine Sekunde, bis diese Information mein Gehirn erreichte und von selbigem verarbeitet wurde. Die nächste Sekunde brauchte ich, um die logischen Konsequenzen, die aus dieser Information resultierten, zu ziehen und die dritte Sekunde wurde von meinem Hirn darauf verwendet, eine passende und wohlüberlegte Reaktion auszutüfteln. „Hä?" Ich trug einen wohl ziemlich seltsamen, um nicht zu sagen dämlichen, Gesichtsausdruck, da Lissy ihre Augen verdrehte. Das konnten wir beide äußerst gut und waren durchaus fähig, lediglich durch solche Signale zu kommunizieren.

Erst ein paar Augenblicke später vermochte ich eine Reaktion, die der einer humanitären Lebensform wenigstens annähernd würdig war, zu zeigen und verlieh meinem Gesicht sogar einen einigermaßen normalen Ausdruck. Innerlich klopfte ich mir für diese Leistung auf die Schulter.

Grey ClawWo Geschichten leben. Entdecke jetzt