9. Kapitel

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Bei der Arbeit bin ich unkonzentriert und komme nur langsam voran. Das senkt meine Laune auf ihren Tiefpunkt und ich jage jeden zum Teufel, der es auch nur wagt sich meinem Büro zu nähern.

„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gekrochen?"
Noah hat es tatsächlich gewagt meinen Raum zu betreten.
„Was willst du?", knurre ich ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen und hämmere mit den Fingern auf die Tasten.
„Hast du Lust mit mir Mittagessen zu gehen?"
„Ich habe gerade keinen Hunger", behaupte ich.
„Eine Pause würde dir aber sicher gut tun. Ich halte auch die Klappe, wenn es dir hilft. Dann kannst du so tun als wäre ich nicht da und weiter schlecht drauf sein", sagt er mit einem amüsiertem Unterton in der Stimme.
Ich halte in meiner Schreibwut inne und hebe den Blick um ihn anzusehen.
„Als könntest du ein ganzes Essen lang den Mund halten", sage ich.
„Ich kann schweigen wie ein Grab", behaupt er.
Gegen meinen Willen muss ich ein wenig schmunzeln. „Du hälst es keine zehn Minuten aus", halte ich dagegen.
„Wetten?" Noah hebt herausfordernd das Kinn.
„Ok. Die Zeit läuft ab jetzt."
Noah macht noch den Mund auf um etwas zu sagen, dann schließt  er ihn wieder und ich nicke zufrieden. Da soll mal einer wagen zu sagen ich hätte meine Geschwister nicht im Griff.
Ich speichere mit zwei Klicks meinen jetzigen Entwurf und schließe dann das Programm. Ich löse mein Handy vom Aufladekabel und lasse es zusammen mit meinem Portmonai in meine Handtasche gleiten. Dann schnappe ich mir noch meine Jacke.
Noah wartet geduldig an der Tür und gemeinsam laufen wir zum Aufzug. Ich drücke den Rufknopf.
„Okay, dass ist blöd. Ich gebe auf", sagt Noah.
Ich lache und betrachte ihn kurz nachdenklich. Er sieht auch nicht glücklich aus, wird mir in diesem Moment bewusst und zu meinem eigenen Missfallen muss ich feststellen, dass ich ihn schon lange nicht mehr gefragt habe, wie es ihm geht. Seit dem Drama mit Jeremy und dem Tod unserer Eltern drehen sich meine Gedanken steht's um mein eigenes kleines Universum.
„Wie geht es dir?", frage ich ihn, als die Aufzugtüren aufgleiten.
Noah zuckt mit den Schultern, aber sein Blick weicht meinem aus.
„Komm schon", ich st0ße ihm meinen Ellbogen leicht in die Seite, „was ist los?"
Ein schmales Lächeln huscht über sein Gesicht, aber seine Augen bleiben hinter den Brillengläsern ernst. „Ach, das übliche halt. Viel Arbeit, kein Privatleben."
Er lässt es so klingen als sei nichts dabei, aber ich weiß genau was er meint. In einem Familienunternehmen zu arbeiten heißt mit Leib und Seele dabei zusein oder es zu lassen. Es gibt kaum einen Ort bei dem wir nicht über die Arbeit sprechen und jeder von uns, mein Zwilling Jace vielleicht ausgenommen, macht Überstunden.
„Vielleicht sollest du dir mal wieder Urlaub nehmen", schlage ich halbherzig vor. Seine Antwort darauf kenne ich und sie fällt wie erwartete aus: „Und dann? Ich bin in keiner Beziehung, meine Freunde arbeiten alle hier und meine Familie ebenfalls. Selbst Jace ist gerade voll eingebunden. Glaub mir, ich arbeite lieber, als das ich Tagelang Zuhause auf meiner Couch vor dem Fernseher hänge und Suits schaue."
Ich lache. „Ok, blöder Vorschlag. Ich weiß genau was du meinst!"
Während der Aufzug weiter nach unten gleitet, kommt mir eine Idee. „Ich weiß, was wir jetzt machen!"

Zwanzig Minuten und eine Nudelbox vom Asiaten später, sitzen wir im Central Park im Kinderkarussell. „Ist das nicht genial?", rufe ich über die Glöckchen und Kirmesmusik hinweg.
Noah, wie er da mit Anzug und Krawatte in einem Kinderfeuerwehrauto sitzt, sieht so komisch und fehl am Platz aus, dass ich aus dem Lachen gar nicht mehr herauskomme.
Er selber scheint sich nicht wirklich zu amüsieren. „Ich kann nicht glauben, dass ich mich wirklich von dir dazu nötigen lasse!"
Ich lache, ziehe mein Handy aus der Tasche und mache ein Foto von ihm und anschließend ein Selfie von uns beiden.
„Das hebe ich für deine Hochzeit auf", necke ich ihn.
Das Karussell wird langsamer und Noah flüchtet aus dem Fahrzeug. Ich folge ihm langsamer.

Als ich kurze Zeit später wieder an meinem Schreibtisch sitze, geht es mir so gut wie seit Tagen nicht mehr. Doch meine innere Zufriedenheit zerplatzt als das Display auf meinem Handy aufleuchtet und ich die eingehende Nachricht von Jeremy lese: Zieh dir etwas hübsches an!
Ich zögere kurz ob ich ihm antworten soll, dann schreibe ich: Fick dich, West!
Kurz passiert nichts, dann wieder eine Nachricht: Ich kenne dich Anna, du würdest es bereuen irgendwo underdressed aufzutauchen.
Damit hat er leider recht. Verdammt! Trotzdem schreibe ich: Du denkst nur du würdest mich kennen, West! Würdest du mich kennen, dann wüsstest du, dass ich Abende ohne elegante Kleidung bevorzuge!

Jeremy: Falsch, Ich kenne dich sogar so gut, dass ich genau weiß, dass du Abende ganz ohne Kleidung am meistens bevorzugst.

Annabelle: Tut mir nicht leid, deine Fantasien zu zerstören, aber gerade erscheint mir nichts widerlicher als in deiner Gegenwart nackt zu sein.

Jeremy: Das sah gestern Abend aber noch ganz anders aus.

Verflucht seist du Jeremy West. Damit hatte er schon wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Ja, ich finde Jeremy West körperlich anziehend. Nein, ich finde ihn sogar attraktiv, sexy, unbeschreiblich,...
Aber das ändert nichts daran, dass ich seinen Charakter verabscheue. Die Zeiten in denen ich Männern das Recht gegeben habe über mein Leben zu verfügen, auf mich herabzusehen und mich auszunutzen, sind vorbei!

Der Abend kommt viel zu schnell. Ich entscheide mich für ein dunkelblaues einfaches, aber elegantes Kleid und hohe Schuhe. Mein Make Up ist zurückhaltend und meine Haare lasse ich offen. Nachdenklich betrachte ich mich im Spiegel. Es ist okay. Nicht zu aufgetakelt aber auch nicht zu schlicht, also hoffentlich für alle Anlässe geeignet.
Es klingelt an der Haustür und ich eile nach unten um Pippa nicht die Gelegenheit zu geben vor mir an der Tür zu sein. Obwohl er es verdient hätte, will ich den Abend nicht mit einem Mord beginnen. Und das würde unweigerlich passieren, wenn ich Pippa auf Jeremy loslasse. Das könnte selbst Super-Anni nichts mehr ausrichten.

Jeremy hat seine Haare gestylte und trägt ein perfekt sitzendes weißes Hemd. Keine Krawatte. Das ist ein gutes Zeichen.
„Hi", sage ich. Super-Anni schlägt sich die Hand vor die Stirn. Keine besonders geistreiche Begrüßung,
„Hi." Er räuspert sich, während sein Blick über mich gleitet. Dann sieht er mir wieder in die Augen und er lächelt. „Du siehst sehr hübsch aus!"
Ich versuche nicht zu erfreut auszusehen, dabei habe ich bei seinem Kompliment Schmetterlinge im Bauch. Stattdessen ziehe ich eine Grimasse. „Wenigsten einer von uns beiden", sage ich.
Entrüstet verzieht er das Gesicht. „Hallo? Ich sehe immer gut aus!"
Ich schnaube und kämpfe gegen das verräterische Grinsen. „Dein Ego ist auch ohne Streicheleinheiten groß genug", erwidere ich toternst.
Jetzt grinst er und seine Augen funkeln verschmitzt. „Ich stehe total auf Streicheleinheiten."
Ich stöhne entsetzt auf und schiebe mich an ihm vorbei nach draußen.
„Himmel, Jeremy! Jetzt hast du es versaut! Bleib besser bei den Komplimenten."
Ich höre ihn hinter mir Lachen und dann schließt er zu mir auf, nur um mir kurz darauf die Tür zu seinem Wagen aufzuhalten. Er gibt sich Mühe. Immerhin etwas.

„Also?", frage ich, sobald wir beide im Auto sitzen, „was hast du vor?"
„Zunächst gibt es etwas zu essen. Mehr verrate ich noch nicht."
„Warum? Hast du vor mich zu entführen?"
Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor er wieder auf den Verkehr achtet. Ich sehe sein Schmunzeln.
„Um mich dann den Rest meines Lebens mit dir rumschlagen zu müssen, bis du oder einer deiner Brüder mich erdolcht? Tut mir leid, Anna, aber ich hänge an meinem Leben."
„Tatsächlich? Dann sollest du vielleicht aufhören mit anzügliche Nachrichten zu schicken. Wenn irgendwer das mitbekommt, werden dich meine Geschwister vernichten. Du hast Noah doch gesehen. Er ist schon ausgeflippt nur weil du neben mir standest. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie Jace reagieren würde..."
Ich beobachte ihn von der Seite, während ich spreche und bei meinen letzten Worten versteift er sich.
„Und warum bist du dann hier in meinem Auto?", fragt er nach einem Moment der Stille. „Du hast aus deiner Familie die größten und besten Gründe mich zu hassen, abgesehen von Jace vielleicht, aber trotzdem bist du die einzige, die sich auch nur ein Wort von dem was ich sage anhört."
Es fällt mir schwer darauf eine Antwort zu finden, schließlich nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und versuche meine Gedanken in Worte zu fassen: „Ich hasse was du mir angetan hast und ich hasse es wie du mich behandelt hast. Ich werde das nie wieder dulden. Aber ich habe auch bis heute nicht verstanden, warum du dich nicht einfach von mir getrennt hast, als du das Interesse an mir verloren hast. Damit wäre ich irgendwie klargekommen. Stattdessen hast du mich vorgeführt. Ich glaube ich möchte es einfach nur verstehen und das alles dann endlich hinter mir lassen."
Darauf herrscht lange Schweigen. Jeremy umklammert das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten. „Ich will es dir erklären, aber ich weiß nicht wie", presst er schließlich hervor.
Ich schlucke meine Enttäuschung herunter. Vielleicht war es naiv auf eine einfache Antwort zu hoffen. Ich richte den Blick auf die Straße
„Du hast drei Wochen Zeit", erwidere ich leise.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 24, 2021 ⏰

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