5. Kapitel

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"Jeremy!", entfährt es mir entsetzt. Ich mache einen schnellen Schritt nach hinten und löse mich aus seinem Griff.
"Anna", sagt er genauso überrascht.
"Was machst du hier?", fauche ich ihn an.
"Wir hatten hier gerade eine Konferenz", sagt er mit ruhiger Stimme.
Er klingt erwachsener. Viel erwachsener. Seine Stimme ist rauer geworden, was mein Herz zum Rasen bringt, während mir der Schweiß ausbricht.
"Das meinte ich nicht. Sondern was machst du hier? In diesem Flur? Warum bist du nicht längst wieder weg?"
Meine Stimmlage schnellt hysterisch in die Höhe, worauf Super-Anni sich die Hände vors Gesicht schlägt.
Ich versuche mir mein schnell klopfendes Herz nicht anmerken zu lassen und meinen Puls unter Kontrolle zu bringen.
Zur Unterstreichung meiner Worte deute ich mit einer ausladenden Geste auf den Flur.
"Ich habe meinen USB-Stick im Konferenzraum vergessen", erwidert er gelassen und deutet wage in die Richtung aus der ich gekommen bin.
Seine Stirn legt sich minimal in Falten, als ob er überlegen würde, warum ich mich so merkwürdig verhalte. Aber sollte er das nicht eigentlich wissen? Er weiß doch am besten, was er mir angetan hat!
Durch die kleine Bewegung ziehen sich seine Augen leicht zusammen. Seine wunderschöne Augen!
"Deinen USB-Stick", stammle ich leicht aus dem Konzept gebracht.
"Ja, genau?" Seine Worte klingen am Ende, wie eine Frage. Vermutlich denkt er ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Ich hole tief Luft, um mich weiter zu beruhigen. "Dann hohl ihn und verschwinde", zische ich.
Er ignoriert meinen aggressiven Ton und fährt sich stattdessen durch die blonden Haare. "Können wir reden?", fragt er hoffnungsvoll.
"Reden?" Ich ringe um meine Fassung. "Ich wüsste nicht was ich mit dir zu bereden hätte!"
"Ich möchte mich entschuldigen."
"Dafür kommst du ein paar Jahre zu spät!", blocke ich ab, aber in meinem Herzen fühle ich eine Sehnsucht, die bei seinen Worten neue Hoffnung geschöpft hat und nun lichterloh in meinem Herzen brennt.
Jeder Versuch sie zu ersticken misslingt.
"Anni, bitte!"
Macht er das mit Absicht? Diesen flehenden Blick hat er echt perfekt drauf.
Ich schließe für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffne, sage ich: "Verschwinde! Ich will dich nie wieder sehen. Hast du das verstanden?"
"Ich...Anna, findest du nicht, dass wir das wie Erwachsene klären sollten?"
Das folgende, ungläubige Lachen meinerseits, kann ich mir nicht verkneifen.
"Das kommt ausgerechnet von dir!"
"Ich möchte wirklich nicht, das wir für immer im Streit mit dir Leben."
Über Jeremys Schulter entdecke ich meinen Bruder Noah. Er ist nur zwei Jahre älter, sieht aber mit seiner großen Brille und dem Anzug im Retrostil um einiges älter aus.
Als er mich mit Jeremy entdeckt, kommt er in unsere Richtung, den sonst mit Grübchen umgebenen Mund zu einer strengen Linie verzogen.
Jeremy hat noch nicht bemerkt, dass sich meine Rettung nähert.
"Du bist doch alleine Schuld daran", erwidere ich kühl.
"Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Aber das ist Jahre her. Jetzt lass es mich wieder gut machen!"
Ich kannte ihn mal zu gut, um nicht die Spur Ungeduld in seiner Stimme hören zu können.
Noah tritt von hinten an Jeremy heran und gibt ihm einen festen Klaps auf den Rücken unter dem Jeremy zusammen zuckt und herumwirbelt.
"Belästigst du schon wieder meine Schwester, West?", fragt Noah mit frostiger Stimme.
"Nein." Jeremy schüttelt den Kopf und wirft mir dann einen abschätzenden Blick zu, als befürchte er ich würde etwas anderes behaupten.
"Noah, würdest du so nett sein und Jeremy den Weg nach draußen zeigen. Er scheint alleine nicht in der Lage zu sein ihn zu finden."
Ich lächle so herablassend wie irgend möglich.
Jeremys Blick kühlt sich merklich ab und seine eisblauen Augen suchen meine.
Unser Blickkontakt bricht erst ab, als Noah Jeremy an der Schulter packt und ihn bestimmt in Richtung Fahrstuhl schiebt.
"Ich muss noch...", setzt Jeremy zum Protest an.
"Du musst gar nichts außer gehen!", unterbricht Noah ihn beherrscht.
Jeremy gibt sich geschlagen. Seine Schultern sacken nach unten und sein Blick senkt sich.
Bevor sie aus meinem Sichtfeld verschwinden, dreht Noah sich kurz zu mir um und sieht mich besorgt an.
Eigentlich ist er der ausgeglichenste meiner Brüder und es berührt mich, dass er für mich den Beschützer auspackt.

Ich warte bis sie außer Sicht sind, dann mache ich kehrt und laufe zum Konferenzraum. Hat Jeremy wirklich seinen USB-Stick vergessen?

AnnabelleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt