Kapitel 2 - Reisen ins Ungewisse

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Melina (POV)

Der Weg war steinig und schwer, der Wind pfiff uns um die Ohren, obwohl wir die Meter in unserer wohlbehüteten Kutsche hinter uns ließen.
Mein Bruder sah zum Fenster hinaus, die Arme wie immer verschränkt, und schwieg bereits die ganze Nacht.
"Sie soll edel sein und stolz, eine wahre Frau, eine Kämpfernatur.", schwärmte mein Vater, ein grau melierter, alter Mann, auf dessen Wangen kleine Zeichnungen eingraviert waren, welche seinen hohen Rang verrieten.
"Ich will so eine nicht", brummte Ian. "Ich will sie eigentlich gar nicht bemerken. Es geht mir nicht um sie. Sie soll mich einfach herrschen lassen. Ich gehöre auf den Thron. Seine Macht wird meine sein, er gehört zu mir wie Flossen unseren Ahnen. Er ist mir bestimmt wie eine Ehefrau. Ich bin ihm ebenbürtig. Nein. Er ist mir ein Untertan."
Ich verkniff mir mit Mühen den Kommentar, dass sie ebenfalls ihr gesamtes Leben auf diesen Thron vorbereitet worden und ihm bestimmt mindestens ebenso "ebenbürtig" war. Mein Bruder war nicht schon immer verrückt nach Macht, doch all die Jahre im Schloss, auf unserem Thron hatten ihn zu etwas verformt, das ich manchmal kaum wieder erkannte.
So war es mir beigebracht worden; ich dachte, sie sprachen.
"Du brauchst auch ihren Segen, also begegne ihr mit großem Respekt.", tadelte ihn mein Vater.
Ian nickte stumm. Seine Augen folgten einem kleinen, schillernden Wasserfall, der im Dunkeln verschwand. "Ich wünschte nur, es wäre nicht so weit weg von zuhause."
Seine Worte waren nicht lauter als ein kleiner Lufthauch, sodass nur ich sie vernahm.
Er wollte ebenso wenig von Mutter weg wie ich, wir liebten sie abgöttisch, denn sie behandelte uns mit dem gleichen, reinen Gefühl. Vater fand nur Tadel und, wenn große Worte, dann niemals über uns.
"Die Hauptsache ist, dass du regierst, mein Sohn."
"Natürlich, Vater!", rief er eifrig und ich schmolz in dem heißen Stoff vor Scham.
Es tat mir leid, dass er nicht einmal das bekommen konnte, doch ich musste es um jeden Preis verhindern.

Kaya

12 Uhr. Leise öffnete Rafael die Tür und ließ mich hinaus.
"Ich darf morgen in den großen Saal?", flüsterte ich ihm fragend zu.
Rafael unterbrach den Blickkontakt für ein paar Sekunden und sah mich dann fast schuldbewusst an. "Ich hab keine Ahnung, warum.", stieß er kleinlaut hervor. "Aber es hat wohl irgendetwas mit einem Besuch zu tun."
Komisch. Ich fragte mich, warum Vater ausgerechnet mich dem Besuch vorstellen musste, denn sonst tat er dies nicht. Ich blieb für gewöhnlich im Hintergrund, in meinem kleinen "Reich".
So selten war ich draußen und hatte Kontakt zu Fremden, dass ich nicht einmal wusste, wie man so jemanden begrüßte.
"Eher so ein 'Hallo' oder 'Willkommen'?"
Rafael zog eine Augenbraue hoch.
"Wie soll ich ihn begrüßen?" Nervös zupfte ich an meinem Kleid herum und verlagerte mein Gewicht auf mein linkes Bein.
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Lächeln. "Du bist echt eine Nummer für sich. Warte doch ab, was sie sagen, schließlich bist du die Prinzessin."
Recht unzufrieden schüttelte ich den Kopf, da ich vor Fremden schließlich nicht als verzogene Göre dastehen wollte, warf ihm jedoch dennoch einen dankbaren Blick zu und rannte, ohne eine Reaktion seinerseits abzuwarten, winkend davon. Schließlich blieb mir nicht ewig Zeit. Ich hatte mir einen dunklen Kapuzenmantel übergeworfen, sodass man mich nicht erkennen würde, wenn ich im Schloss umherstriff.
Mein Plan war es, wie sonst auch, meinem Bruder durch die Korridore zu folgen. Ich wollte nicht aufdringlich sein, doch ich hatte die Hoffnung, dass er mir helfen würde, falls irgendetwas passierte.
Was redete ich mir eigentlich ein? Natürlich war ich auch neugierig.
Sobald er aus seinem Schlafsaal eilte, zog er den schweren Mantel mit sich, dessen überdimensionaler Saum sich wohl nicht auf dem Weg verheddern sollte.
Er konnte manchmal echt ein Prolet sein. Ich verdrehte die Augen und versteckte mich in einer kleinen Nische, als ich sah, dass Damon einer komplett in rot gekleideten Gestalt über den Weg lief.
"Hast du es erledigt?", zischte diese ungeduldig und näherte sich Damon. Eine Armlänge war es auf keinen Fall mehr zwischen ihnen.
"Noch nicht.", er lehnte sich gewollt lässig an die Wand. "Ich brauche mehr Zeit und Informationen."
"Du hattest die Zeit, die ich dir gegeben habe, was bringt dich auf die hirnrissige Idee, mehr zu bekommen?"
Das Antlitz der Gestalt zeichnete sich nun im dunklen Kerzenschein leicht ab. Ich sah scharfe Wangenknochen und eine charakterstarke Nase, die aber ebenso schnell wieder verschwand, als Damon von der Wand abließ und sich vor ihr aufbaute. "Wofür mache ich das überhaupt?"
"Dich sollte nicht der Zweck, sondern allein dein Beweggrund interessieren. Und ich denke, wir wissen beide genau, was dich davon abhält, mein Angebot abzuschlagen."
Damon verschränkte seine breiten Arme und trat einen Schritt zurück. "Das Angebot ist aber ziemlich einseitig, findest du nicht auch?"
Unter dem Mantel der Person konnte ich ein leichtes Schulterzucken erkennen. "Du kannst jederzeit aussteigen, wenn du es willst. Du musst nur dann auch mit den Konsequenzen rechnen."
Bevor mein Bruder etwas erwidern konnte, verschwand die Person eiligen Schrittes um die nächste Ecke und ließ ihn stumm zurück.
Er lehnte sich gegen die Wand, sein Gesicht war zu einer Mischung aus Schmerz und Wut verzogen und vielleicht auch ein bisschen Scham?
Was hatte er bloß getan? Und womit wurde ihm so offensichtlich gedroht?
Ein beklemmender Schatten legte sich um mein Herz und ließ es immer schneller schlagen.
Ich hoffte inständig, dass man mich nicht entdeckt hatte.
Ein paar Minuten verharrten wir beide in unserer Position, außerstande, uns nur einen Hauch zu bewegen.
Schließlich stemmte sich Damon entschlossen von der Wand ab und lief graden Schrittes weiter. Ich musste fast rennen, um mit ihm mithalten zu können, nur leider wäre ich dann von ihm entdeckt worden.
Er machte vor einer heruntergekommenen Holztür halt und klopfte nach einiger Überlegung. Wie sollte ich ihm bitte dort hinein folgen?
Als die Tür geöffnet wurde, sog ich scharf die Luft ein.
In ihrem Rahmen wartete eine junge Dame mit einer zerzausten Frisur und einem Ausschnitt, der bis zu den Kniekehlen ging.
"Prinz Damon!", rief sie erschrocken aus.
"Pssst!" Damon legte seine Hand auf ihre mit rotem Lippenstift verschmierten Lippen und sah sich nervös zu allen Seiten um.
In letzter Sekunde drückte ich mich im Schatten so nah an die kalten, staubigen Steine dieses Korridors, dass ich beinahe mit ihnen verschmolz und er mich glücklicherweise nicht erblickte.
"Ich will zu Nature.", raunte er und betrat den Raum, der mit alten Teppichen und Bettlaken verziert war.
"Ja, hier bin ich.", erklang eine zwitschernde Stimme, die ich aufgrund meiner Lage keiner Person zuordnen konnte.
Die Tür fiel hinter ihm mit einem lauten Klirren zu.
Dunkelheit. Die kleinen Fackeln im Flur waren das einzige, das weit und breit spärlich Licht und Wärme spendete. Ein Schaudern breitete sich schleichend von meinen Zehen- bis in die Ohrenspitzen aus.
Es waren Orte wie diese, vor denen ich mich fürchtete. Nicht, weil das Ungewisse im Dunkeln lag. Nicht, weil ich allein war.
Ich hatte Angst vor dem Staub, vor der Enge. Ich war gefangen in der Zeit, die sich schon längst vergangen anfühlte.
Zaghaft tastete ich mich an der kühlen Wand entlang, bis ich auf einmal weder diese, noch Boden unter den Füßen mehr spüren konnte.
Es war eine Sache von einer halben Sekunde, bis ich der Nase lang wieder Halt unter mir fand, doch in dieser halben Sekunde war ich gefallen und der Schock war genauso stark wie die Freiheit gewesen. Es hatte sich angefühlt, als hätte ich mich selbst aufgefangen in einer sanften Woge aus Mut und Traum.
Ich ächzte laut, als mich schließlich ein kurzer Schmerz durchfuhr und ich auf der harten Realität des Lebens landete.
Mit Erstaunen stellte ich fest, dass ich mich nun in einem vollkommen ausgeleuchteten, riesigen Raum befand, gefüllt mit Büchern und undefinierbaren zusammengesteckten Holz- und Metallklumpen, die bei näherer Betrachtung Ähnlichkeiten mit einer Art Gerät aufwiesen.
In alle von ihnen waren kleine Zeichen eingeschnitzt, kleine Federn und Kronen, die von Wellen und Blumen durchbrochen waren.
Vor lauter Verwunderung hätte ich beinahe übersehen, dass ich aus dem ganzen Raum keinen Ausweg fand, keine Tür, keinen Gang, absolut nichts.
"Das kann nicht sein.", stellte ich mit schiefgelegtem Kopf fest und drehte mich in die Richtung, aus der ich vermutlich gekommen war. "Was zum...?"
Verwirrt entdeckte ich eine kleine Falltür an der Decke. Dort war ich durchgefallen?
Ich durchsuchte mich auf Verletzungen, wenigstens kleinen Kratzern, doch ich fand nichts außer zwei symmetrischen, scharfen Rissen im Rücken meines Kleides.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Da ich sonst eigentlich ziemlich schnell von Begriff war, verunsicherte mich die ganze Situation umso mehr.
"Scheiße, scheiße, scheiße!", seufzte ich verzweifelt und blickte mich im Raum um, in der blinden Hoffnung, etwas zu finden, auf das ich heraufsteigen oder klettern könnte. Stattdessen fiel mir etwas anderes ins Auge, das mich förmlich zu sich zog.
In der Mitte des Raumes stand ein riesiger, blauer Topas, umgeben von kleinen, zahlreichen Silberelementen, die eine Art Schutzwall um ihn bildeten.
Neugierig näherte ich mich ihm, sodass ich bald knapp davor war, sein Silber zu berühren.
Was war das, eine Art Schrein?
Auf alle Fälle sah es mehr als heilig aus, weshalb ich mich dazu entschloss, meine ausgestreckte Hand doch fallen zu lassen. Irgendetwas sagte mir, dass unerklärliche Dinge passieren würden, würde man ihn in seiner Ruhe stören.

Melina

Die letzten Schritte waren zu überwinden, bis ich sie sehen würde.
Ich wusste, zu was sie imstande war, vermutlich besser als sie, und diese Verantwortung machte mich verdammt nervös.
Verantwortung trug ich nie für etwas, weil niemand mir wichtiges zutraute. Ich war das schüchterne Mädchen, das sich anpasste. Ich brachte nicht einmal den Mut auf, für mich selbst einzustehen. Wie sollte ich mich um das Befinden anderer sorgen?
Am ganzen Körper zitternd blickte ich zu Ian, der gehobenen Hauptes mit den Wachen sprach, die uns zum Thronsaal führten. Worüber sie sprachen, war für mich allerdings nicht von Bedeutung, nicht in diesem Moment. Wie sollte ich es schaffen, sie zu überreden?
Als die riesige Tür endlich aufschwang, durchströmte mich ein Windstoß. der wie Freiheit und Selbstbestimmung klang. Sie war es wirklich.
Wie von einer übernatürlichen Kraft geleitet, scannte ich den Raum nach ihr ab.
Dort saß sie. Genau vor mir, doch so weit weg. Ihre grünen Augen waren vor Schrecken geweitet und ich wusste, dass sie etwas spürte, dass sie sich nicht erklären konnte. Ich würde es können und ich würde es tun.
Mit jedem Schritt, den wir uns ihr näherten, in ihrem grünen, leuchtenden, bauschigem Kleid, verstärkte sich meine Angst und das Gefühl, etwas falsches zu tun jedoch.
Ein Blick zu Ian verriet mir, dass er es für alles andere als falsch hielt.
Ich schluckte, als der Vater der Prinzessin, aka der König, zu sprechen begann. "Seid gegrüßt, Herrscher der Nixen und anderer See- und Küstengestalten. Wir, die Adligen des Elfen und Blumenreiches, Elya, heißen sie herzlich willkommen und bitten sie, sich wie zu Hause zu fühlen. Wir haben für sie Schlafsäle mit Wasserbecken eingerichtet, damit es ihnen an nichts fehlt und heute abend werden wir eine Feier anlässlich ihrer Ankunft veranstalten!"
Wir verbeugten uns tief woraufhin Ian ein paar Schritte auf die Prinzessin zu trat. "Einen schönen Morgen ihnen", er nickte dem König freudig zu und drehte sich anschließend mit verengten Augen zur Prinzessin "und ihrer Tochter, Kaya. Ein hübsches Mädchen, nicht zu verkennen, doch was ist das in ihrem Haar?"
"Entschuldigung?", erwiderte die Prinzessin und lehnte sich angespannt in ihrem Stuhl zurück.
"Man sagt bei uns, dass diese Farbe, dieses Rot, nicht elbengleich sei.", informierte sie Ian naserümpfend und spielte darauf an, dass Elben nur blondes bis schwarzes Haar besaßen, doch nie rotes. Bei uns Meerjungfrauen waren sie ebenfalls nicht vorhanden. Wir trugen silbernes oder goldenes Haar. Oder wie ich ein Stich von beidem.
"Meine Tochter ist nunmal etwas Besonderes.", schritt der König ein und stoppte diese so, welche aussah, als hätte sie zu einer Horde Schimpftiraden angesetzt.
Nun etwas ruhiger breitete sie ihre Arme aus. "Nun, willkommen... Wer... Wer seid ihr nochmal?"
"Das dort ist mein Vater, der Herrscher der Küste und das ist meine Schwester, Melina."
Neugierig musterte Kaya mich. Ein warmes Kribbeln ging durch mich hindurch, als versuche jemand, mich zu kitzeln. Kurz weiteten sich ihre weichen Augen bis sie den Blickkontakt abbrach.
"Und ich, Kaya, meine Prinzessin.", flüsterte er während er überschwänglich zu ihren Füßen in die Knie ging.
"Ich bin Ian, dein Verlobter."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 09, 2019 ⏰

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