3| Vorgeschriebene Wege und ferne Erinnerungen

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Chaya spürte es. Es war wie ein Ziehen in ihrer Brust, das ihr den Weg wies. Als würde sie wie ein Kind bei der Hand genommen und geführt werden. Es fühlte sich nicht bösartig an, deshalb wehrte sie sich nicht.

Sie folgte diesem Drängen, tat es einfach und wollte nicht weiter darüber nachdenken ob es richtig oder falsch war. Ein Funke Schuld trug wohl auch ihre Neugier. Sie wollte es wagen, denn diese Art Mensch war sie. Während sie das, was ihr Körper tat, weitgehend nicht beachtete, kreisten in ihrem Kopf tausend Fragen.

Eine wichtige, um sie zu stellen, war: Hatte sie den Herd zu Hause angelassen? Nein, wirklich: War der Frischkäse auf ihrer Tiefkühllasagne wirklich Frischkäse gewesen? Nein, im Ernst: WARUM ZUM TEUFEL BIN ICH UNSICHTBAR?

Finster starrte das Mädchen den jungen Mann vor ihr in der Fußgängerzone an. Er trug einen Stapel Flyer auf dem Arm, das Stehschild neben ihm auf dem Boden warb für irgendeine Veranstaltung. Der eifrige Kerl verteilte aufdringlich die Flyer an alle Personen, die unbeabsichtigt den Radius von 5 Metern zu ihm überschritten.

Das Mädchen stand genau vor diesem Kerl, der wie besessen seine Arbeit erledigte und seine Aufmerksamkeit jedem der bemitleidenswerten Fußgänger zukommen ließ.

Jedem, bis auf Chaya.

Ihr innerer Leitfaden wollte sie weiter ziehen, doch in Chaya machte sich ein unbestimmtes Gefühl breit. Etwas zwischen Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Wut. Während sie die Bewegungen des Mannes mit verschränkten Armen verfolgte, wurde ihr Gesicht durch diese Gefühle deutlich warm. Bis sie die Arme auseinander riss und mit schnellen Schritten auf den Kerl zu stapfte, sodass sie Auge in Auge da standen. Na gut, sie musste den Kopf in den Nacken legen, aber das tat nichts zur Sache. Nun konnte sie sein Gesicht noch besser erkennen, den grimmigen Zug um den Mund, obwohl er lächelte, die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn.

Nur Zentimeter trennte sie von ihm und trotzdem schien er rein gar nichts zu merken. Chayas Kiefer spannte sich in ihrer Verbitterung an, ihre Gedanken rasten und ... „Kleine, steh mir nicht im Weg rum, ich muss arbeiten", raunte der Mann während sich seine Lippen kaum bewegten. Chayas Körper erstarrte. Er ... er konnte sie sehen?

Aufregung und gleichzeitig Scham machten sich in ihr breit und sie sprang zurück. Sie beobachtete wie er geschäftig weiter seine Arbeit erledigte, eher als Pflicht, als es wirklich zu wollen, schien es. Aber eines musste man ihm lassen: er war hartnäckig in dem, was er tat.

„Sie können mich sehen?", murmelte sie und wohl kaum hatte er sie gehört. Sie drehte sich um zu einer Fußgängerin. Hatte sie es sich nur eingebildet?

Das Mädchen stellte sich einer Frau mittleren Alters in den Weg und brutal rammte diese ihre Schulter, was die arme Versuchsperson zum straucheln brachte und Chaya auf den Boden beförderte. Trocken sah sie der Frau nach, die einfach peinlich berührt weiter ging. Gut, vielleicht war sie einfach nur ein sehr unhöflicher Mitmensch, dachte sich Chaya und startete einen neuen Versuch.

Sie sprach das ältere Pärchen an, das Hand in Hand an den Schaufenstern entlang spazierte, doch diese ignorierten sie vollkommen. Nun doch von quälender Unsicherheit gepackt, rannte sie ihnen nach und griff nach dem Arm der Frau, die daraufhin aufschrie, sich an den Blumentöpfen am Weg entlang umsah, als hätte sie ein ekelerregendes Insekt gestreift. Der Mann führte sie besorgt in einen Seitenweg hinein.

Also doch keine Einbildung? Sie war unsichtbar? Aber wie ... ? Das Mädchen drehte sich um und erschrak als sie funkensprühende, grünblaue Augen anstierten. Automatisch machte sie einen Satz zurück.

„Kleine", sprach er zwischen zusammen gepressten Zähnen, „kannst du mir einen Gefallen tun und mir nicht meine ganze Kundschaft verscheuchen?" Dabei sah er quer durch die Luft und für einen Moment war sie unsicher ob er mit ihr sprach.

„Ich?", fragte sie daher. Ein Knurren kam zur Antwort: „Wer denn sonst?" Lächelnd und nickend reichte der unfreundliche Mann einen Flyer an eine junge Frau. Chaya stellte sich neben ihn, bereit, eine spitze Bemerkung fallen zu lassen.

Ein blonder Haarschopf blitzte in der vorüberziehenden Menge auf und einen Moment davon abgelenkt, achtete das Mädchen gar nicht auf den Mann neben ihr. Irgendetwas kam ihr verdächtig bekannt vor, wie die gehauchte Erinnerung aus einem längst vergessenen Traum. Jedoch konnte sie den Gedanken nicht weiter verfolgen, denn ein Schnippen neben ihrem Ohr brachte sie zurück ins Hier und Jetzt.

Unberührt reichte der unfreundliche Mann weiter seine dämlichen Flyer herum, doch Chaya hatte genug. Mit einem im Affekt verursachten und ziemlich heftigen Tritt auf dessen Fuß, jaulte der Mann kurz auf, bevor er sich den jämmerlichen Laut verkniff und Chaya ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. Sein verurteilender Blick schien sich in ihre Seele zu bohren, doch nun war sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher.

Plötzlich näherte er sich, sein Mund  an ihrem Ohr, und er flüsterte: „Komm mit."

Die VergessenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt