III - Alwin

35 4 4
                                    

Langsam ging er wieder die Dorfstraße hinab. Wie in Trance setzte er einen Fuß vor den anderen, der Kies unter dem dünnen Leder seiner Schuhe fühlte sich weniger spitz an als sonst, und er fragte sich wieso er sich daran eigentlich hatte verletzen können. Überhaupt erinnerte er sich nicht mehr wirklich daran wie er gestolpert war.
Seine Augen schweiften über das Laubwerk der Bäume, in denen irgendwo ein einzelner Vogel zwitscherte, und schließlich blickte er zum Himmel auf, der grau und düster war.
Eigentlich war weit und breit niemand zu sehen, und doch beschlich Alwin eine böse Vorahnung.
Er drehte sich um, und sah direkt in die Augen von Knut. Dieser lächelte ihn an, und sagte: "Du hast versagt, Hexenbengel. Lauf, Lauf so schnell du kannst", während er sein Messer zückte.
Schnell lief Alwin rückwärts, stolperte über jeden Stein, während Knut immer kleiner und kleiner wurde. Doch anstatt ihn zu verfolgen, lachte er laut auf und machte einen Schritt zur Seite. Hinter ihm stand Alwins Mutter, und sie war gefangen in den Händen von Knuts Kumpanen.

Kalter Angstschweiß rann Alwin ins Gesicht, und er wollte schreien und zu ihr rennen, doch vergeblich. Seine Stimme versagte, und seine Beine knickten unter ihm ein.
Knut stach mit dem Messer in Marias Bauch, und Blut strömte hervor. Er stach ein weiteres Mal zu, und noch ein mal.
"Mach doch was, du bist eine Hexe! Wehre dich!", wollte Alwin schreien, doch plötzlich bekam er keine Luft mehr, und die Welt verschwamm vor seinen Augen.
Und kurz bevor er erstickte, wachte er auf.

Sonnenlicht schien ihm durch die geöffnete Türe entgegen, und draußen hatten sich mittlerweile weitere Vögel zu dem Ersten gesellt - zumindest sein Gezwitscher war kein Traum gewesen.
Es war nicht das erste Mal das Alwin vom Tot seiner Mutter träumte.
Wie jedes Mal hatte Knut mit seinem geliebten Messer mit der bronzenen Umrandung auf sie eingestochen, und wie jedes Mal wollte Alwin seiner Mutter vergeblich raten, ihre Magie zu nutzen.
Schon oft hatte sich Alwin gefragt, ob sie vielleicht wirklich eine Hexe war, doch stets verwarf er den Gedanken bei der Frage, wieso sie sich dann nicht gerettet hat.
Kopfschüttelnd setzte sich Alwin auf, gähnte und erhob sich aus dem verschwitzten Stroh.
Da seine Großmutter vor einem Jahr an der Vogelgrippe verstorben war, war er alleine in der Hütte. Er stieg die steile, ächzende Treppe vom Dachboden hinab, und holte die letzte Scheibe hartes Brot und das letzte Stück Käse aus dem Vorratsschrank.
Alwin konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit so verschwenderisch mit dem Essen umgegangen zu sein. Kopfschüttelnd nahm Alwin seine Münzen aus dem Versteck in der Wand, denn er wollte noch vor der Arbeit bei der Bäckerin vorbeischauen.

Als Alwin die Türe öffnete und sich unter dem Türstock durch bückte, war die Sonne bereits aufgegangen und tauchte den Himmel in ein blasses Orange.
Seine Hütte lag abseits vom Dorf, zur Bäckerin würde er etwa eine viertel Meile gehen.
Ein kalter Luftzug wehte vom Wald in seinem Rücken her, und er vernahm das Heulen eines Wolfes.
Früher, als sich Alwin noch oft im Wald herumgetrieben hatte, sah er einmal einen Wolf aus nächster Nähe. Starr vor Angst hätte er sich fast in die Hose gemacht, doch der Wolf schien kein Interesse an ihm zu haben und drehte ab.
Das war tief im Wald drinnen gewesen, und seit dem hatte sich Alwin nicht mehr so weit vorgetraut. Denn vom Dorf hielten sie sich fern.
Alwin war wieder auf dem gelblich-grauen Kiesweg angelangt, der durch das Dorf führte, und die Steine waren spitz wie eh und jäh. Er passierte die ersten beiden Häuser, und wandte sich einer Seitenstraße zu. Sicher war er sich nicht ob diese zur Bäckerin führte, aber wenn nicht konnte er ja umdrehen und eine andere nehmen, denn der Schmied brauchte ihn erst wieder in ein bis zwei Stunden.

Die Gasse war eng, und nur wenig Sonnenlicht fiel hinein. Die Häuser waren hier in schlechtem Zustand, denn das Holz war dunkel und am vermodern, und das Schilf von den Dächern lag am Boden verstreut.
Plötzlich knackte auf der rechten Seite ein Ast. Als Alwin jedoch seinen Kopf dorthin wandte, sah er nur eine weitere Häuserwand. Oder doch nicht? Hatte sich da nicht gerade etwas Bewegt, in der Nische zwischen den zwei Häusern?
Langsam ging Alwin darauf zu. Er spähte um die Ecke und ... jemand sprang vor und drückte ihn zu Boden.
Er wollte schreien, doch eine Hand legte sich über Alwins Mund. Bevor er auf die Idee kam, zuzubeißen, hatten sich weitere Gestalten aus den Schatten der Häuser gelöst, und Alwin bekam einen Knebel verpasst.

Viele Arme drehten ihn zur Seite, und seine Hände wurden ihm an den Bauch gefesselt, seine Füße aneinander.
Jemand befahl, ihn aufzustellen, und beim Klang dieser Stimme drehte es Alwin fast den Magen um.
"Ich sagte gestern doch das würde ein Nachspiel haben", meinte Knut grinsend. "Du fragst dich sicher woher ich wusste dass du hier aufkreuzen würdest? Nun, mein Plan war perfekt. Als du geschlafen hast, ist Uwe ... oder war es der kleine Knut? Egal, jedenfalls einer der beiden, die Wand deiner schäbigen Hütte hinaufgeklettert und durch das offene Fenster hineingestiegen. Die Vorratskammer war nicht schwer zu finden, war doch sonst nicht viel hier, stimmt's Uwe?" Knut lachte laut über seinen eigenen Witz auf.
"Nun, auf jeden Fall war mir klar dass du zum Bäcker gehen würdest, nachdem ich fast alle Vorräte ... hier habe!", verkündete er und warf einen halben Laib Brot in den Dreck. "Hol's dir doch!", sagte Knut, während er schon auf Alwin zuging.

Mit der ersten Ohrfeige hatte Alwin gerechnet, also duckte er sich unter dem Schlag weg. Fasst wäre er dabei gestürzt, doch er fing sich wieder. Das nächste Mal sollte das nicht passieren, schreib er sich hinter die Ohren.
"Komm doch Hexenbengel, und hol dir deine tägliche Ration Bauchschmerzen!"
Alwin wartete den Tritt gar nicht mehr ab, sondern sprang sofort nach hinten.
Knut rutschte aus und viel mit dem Gesäß voran auf den Boden.
Wütend schrie er auf und spuckte nach Alwin. Doch als er wieder aufstand, machte sich in seinem Gesicht ein hinterlistiges Grinsen breit.
Langsam kam er näher und noch näher.
"Er will meine kleine Reichweite ausnutzen", erkannte Alwin. Als er schon sehr nahe war und zum Schlag ausholte, beugte Alwin seinen Oberkörper vor, und schlug seinen Kopf gegen Knuts Schädeldecke.
Unglaubliche Schmerzen widerfuhren Alwin, und gemeinsam mit Knut ging er zu Boden.
Alles verschwamm vor seinen Augen, nur nicht das vor Wut und Pein verzerrte Gesicht von Knut. Dieser schrie: "Haltet ihn. Sofort. Mein Messer!"
Langsam richtete er sich wieder auf. Der kleine Knut kam herbeigeeilt, und reichte ihm sein Messer, doch er wirkte ängstlich dabei.

Alwin wurde wieder gepackt und er richtete seinen dröhnenden Kopf seinem Erzfeind zu.
Dieser wechselte das Messer zwischen seinen klumpigen Händen, und legt es dann an Alwins Hals. Er drückte zu, bis ein Bluttropfen daraus hervorquoll.
"Ich kenne nicht viele Menschen die Bastard einer Hexe, Weise und Eunuch zugleich sind. Eigentlich gar keinen. Aber ich denke es ist an der Zeit, das zu ändern!"
Knut ließ das Messer fallen, und fing es über Alwins Schritt wieder auf.
Panik kam in Alwin auf. Knut war doch völlig krank, denn nach Spaß sah das nicht aus.
"Hast du gewusst, dass deine Mutter das Bett für meinen Vater wärmte? Ich meine, wie soll man ihr's verdenken. Die Hure war strunz dumm, und das Geld war knapp", erzählte er.
Brennende Wut, ein stärkeres Gefühl als er je zuvor gespürt hatte, machte sich in Alwin breit. Ihn zu beleidigen war eine Sache, doch seine tote Mutter eine Hure zu schimpfen etwas anderes.
Alwin fühlte sich heiß, als wäre die ganze Wut, Verzweiflung und Trauer der Vergangenheit grade auf einmal ausgebrochen.
"Weißt du, vielleicht kannst du deinen Schwanz an eine Hexe verkaufen und dir darum ein Stück Käse kaufen. So gesehen mache ich dir einen gefallen, und deine Mutter hat doch noch etwas mit Wert erzeugt. Die Hure ... "
Alwin hörte ihm gar nicht mehr zu, er war plötzlich sehr konzentriert. Er wollte Knut nur im Dreck liegen sehen, ihm Scham und Angst spüren lassen.
Wieder überkam ihn dieses heiße Gefühl, es fühlte sich an als würde sein ganzer Körper brodeln. Ja, Alwin spürte es jetzt intensiver. Ein Kribbeln auf den Fingerspitzen, und diese innere Hitze, die sich langsam dorthin ausbreitete. Ein ganz neues Gefühl voller Energie bebte durch seinen Körper. Plötzlich begannen seine Hände zu leuchten, und rasch wurde es intensiver.
Auf einmal löste sich eine Druckwelle, die Alwins Fesseln sprengte und seine Peiniger nach hinten schleuderte. Das meiste bekam Knut ab, denn er flog mehrere Meter über den Boden, und landete im Misthaufen an einer Hauswand.

Wie vom Donner gerührt starrten sich Alwin und seine Feinde an. Niemand bewegte sich, nur langsam realisierten sie was gerade geschehen war. Auch Alwin konnte es noch nicht wirklich fassen. Erleichterung machte sich in ihm breit, doch auch Furcht, denn er wusste was das bedeutete. Er, Alwin, war ein Hexer.

Die Chroniken von CarmeloreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt