II - Alwin

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Es war ein herrlicher Nachmittag im Sommer. Die Luft war angenehm warm und voller Blumenduft, die Vögel sangen vom blauen, klaren Himmel. Leise rauschte der Wind durch die Bäume, die vereinzelt zwischen den kleinen Häusern rund um den Dorfplatz standen.
Hier, neben dem Pranger und dem Stroh, das vom Wind in alle Richtungen verteilt lag, spielte eine Gruppe kleiner Mädchen und Buben fangen. Sie lachten, wenn sie gerade so dem Fänger entkamen, kugelten sich am Boden und blieben liegen, lachten weiter.
Auch die älteren Kinder durften bald ihre Arbeit am elterlichen Acker niederlegen, und trafen sich zu einem Gang durch den Wald, um sich die Geschichten vom Barden Louis weiterzuerzählen, der erst kürzlich im "Ipftaler Hof" zu Gast war.
Das Wetter machte die gute Laune.
Als Alwin jedoch bei Morgengrauen über den Marktplatz ging, wandten sich die meisten Kinder ab. Mütter legten eine Hand über die Augen ihrer Jüngsten, tuschelten ihnen etwas zu und Väter warfen ihm böse Blicke zu.
Käme ein Reisender durch das Dorf, würde er bei Alwin auf den ersten Blick keinen Unterschied zu den anderen Knaben bemerken.
Wie viele der Kinder aus dem Dorf hatte er braunes, zerzausten Haar, bernsteinfarbene Augen und eine sehnige Statur von der harten Arbeit.
Einem aufmerksamerem Recken fiele nach näherer Betrachtung vielleicht die vermehrte Anzahl an kleinen Narben an seinen Armen auf, sowie seine noch schäbigere Kleidung, die um den Bauch auch weiter war als bei den anderen 15-Jährigen.
Doch was Alwin eigentlich unterschied, war seine Herkunft.

Als Alwin auf die Welt kam, war sein Vater schon längst über alle Berge. Man sagte sich, er sei einer von zwei Bauern-Brüdern gewesen, die als Letztgeborene zur Armut verdammt waren, und daher eines Nachts mit zwei Kumpanen gen Norden zogen.
Manche meinten, sie wollten sich den Freien Menschen Des Waldes anschließen, einer Bande an Wilderern und Räubern.
Andere wiederum behaupteten, sie hatten vor, sich in einer nahen Stadt als Beutelschneider durchzuschlagen.
Alwins Mutter Maria, lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Stadel am Waldrand. Geld hatten sie nie im Überfluss, doch stets hatte es zwei Mahlzeiten am Tag gegeben.
Nach seiner Geburt und dem verschwinden ihres Mannes, musste sie die Familie alleine ernähren.
Sie pflückte Kräuter im Wald und trocknete diese am Dachboden. Normalerweise mieden die Dorfbewohner Maria, doch wenn immer jemand unter Schmerzen litt, eiternde Wunden hatte, oder nicht schlafen konnte, kam er zu ihr und sie verkaufte ihm einen Trank. Manchmal besuchten sie auch verzweifelte Mütter, deren Kinder nicht zu Schreien aufhören wollten, und einmal kam eine Frau zu ihr, die ihren Ehemann vergiften wollte, da er seine eigenen Töchter vergewaltigte.
Als jedoch eine Seuche das Dorf heimsuchte, und viele Menschen starben, machte das Dorf Maria dafür verantwortlich. Obwohl viele der Verstorbenen sie in diesen Tagen um Hilfe aufgesucht hatten, konnte keiner ihrer Tränke sie retten. Die Hinterbliebenen waren verzweifelt, und wütend. Und da die Krankheit Maria selbst nichts anhaben konnte, trotz der vielen Kranken die zu ihr kamen, schoben sie die Schuld auf sie. Eine Woche später wurde Maria wegen Häresie und Hexerei angeklagt, und der Dorfrat verurteilte sie zum Tode durch die reinigende Flamme. Schon am nächsten Tag wurde sie am Scheiterhaufen verbrannt.
Es waren nur wenige Tage nach Alwins neuntem Namenstag, als er zum Waisenkind wurde. An die Tage vor und nach der Hinrichtung erinnerte er sich nicht mehr besonders gut, nur noch so viel wusste er: nachdem er begriffen hatte, dass seine Mutter sterben würde, hatte er sich an sie geklammert und lange hatten sie gemeinsam geweint. Kurz vor der Hinrichtung, hatte ihm Maria noch etwas gesagt, das er niemals vergessen dürfe. "Vieles wird sich ändern, wenn ich tot bin. Die Seuche wird vorübergehen, und die Menschen sicherer darin, dass ich eine böse Hexe war. Sie werden dich meiden, manche sogar hassen, da ihre Liebsten an meiner Krankheit verstorben sind - das zumindest reden sie sich ein. Du musst stark sein. Verlasse das Dorf nicht, denn es ist dein größter Schutz, besonders in diesen schweren Zeiten, in denen ein jedes Dorf eigentlich eine Hexe gebraucht hätte. Doch wenn die Zeit gekommen ist, und seltsame Dinge geschehen, und du Fragen hast, die dir niemand beantworten kann. Dann suche nach einem alten Mann, ganz in der Nähe des Dorfes. Er trägt ein Amulett mit einem blauen Stein um den Hals. Mehr weiß ich nicht von ihm, aber er wird dir helfen. Sei stark! Ich liebe dich!"

Die Chroniken von CarmeloreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt