Eins

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Auf der Fahrt zum Krankenhaus erschien mir alles fad und grau. Der Weg wirkte mindestens doppelt so lang wie sonst, und die Bäume am Straßenrand ragten karg und blätterlos aus dem Boden. Es war März und noch lange nichts vom Frühling zu bemerken. Vor mir saßen meine Eltern. Mein Vater hielt das Steuer mit verkrampften Fingern und starrte mit angestrengtem Blick auf die Straße, während meine Mutter schluchzend auf dem Beifahrersitz saß. Vor ein paar Minuten hatte uns das Krankenhaus angerufen, um uns mitzuteilen, dass meine Urgroßmutter im Sterben lag. Ich selbst hatte nie wirklich eine Bindung zu ihr gehabt, doch meine Mutter war praktisch bei ihr aufgewachsen. Vor ein paar Jahren wurde meine Urgroßmutter zum Pflegefall und es hatte meiner Mutter das Herz gebrochen. Doch bereits davor hatte ich sie nur als mürrische alte Frau gekannt, weswegen es mich vermutlich nicht so mitnahm wie meine Mutter.

Als wir endlich den Parkplatz des Krankenhauses erreichten, fühlte es sich an als wären wir seit Stunden unterwegs gewesen. Die Sonne schien kurz durch die Wolkendecke hindurch und tauchte die graue Landschaft in ein zartes Gelb. Die Luft war jedoch kalt und der Wind ließ einen frösteln. Als wir das Krankenhaus betraten, jagte ein Schauer über meinen Rücken. Ich hatte Krankenhäuser schon immer gehasst. Die kalten, weißen Wände und das sterile Licht waren nicht gerade Dinge, die ich um mich haben wollte.

Meine Eltern fragten die grimmig aussehende Sekretärin nach der Zimmernummer, da meine Urgroßmutter in eine andere Station des Krankenhauses verlegt wurde. Zügig tippte sie etwas in den Computer und brachte meinen Eltern ein mürrisches „Zimmer 324" entgegen.

Sofort machten wir uns auf dem Weg, angeführt von meiner Mutter.

Mein Vater klopfte dreimal an die Tür, doch meine Mutter wartete das „Herein!" gar nicht mehr ab und riss die Tür auf.

Der Raum wirkte freundlicher als der Flur des Krankenhauses. Die Wände waren in einem warmen gelb gestrichen und an den Fenstern waren weiße Vorhänge angebracht. In der Mitte des Raumes stand ein Bett, worin eine Person lag. Meine Urgroßmutter. Ihre Haut war so unglaublich blass, dass sie bläulich erschien und ihr Körper wirkte mager und abgekämpft. Vorsichtig gingen wir alle an die Seite ihres Betts.

Meine Mutter kämpfte mit den Tränen.

„Ach Nana.", flüsterte sie leise und griff nach der Hand ihrer Großmutter. Bei der Berührung flatterten die Augenlider meiner Urgroßmutter und sie erwiderte den Händedruck meiner Mutter.

„Kate, wie schön, dass du hier bist.", sagte sie mit zerbrechlicher Stimme und streichelte den Handrücken meiner Mutter. Nana's Blick richtete sich auf mich. Ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln. „Und auch meine kleine Scarlet besucht mich.".

Ich lächelte sie an, obwohl ich den Klang meines Namens hasste.

Normalerweise wurde ich nie bei meinem vollen Namen, sondern bei dem Spitznamen „Callie" genannt, was mir um einiges lieber war, da Scarlet übersetzt „die Rothaarige" bedeutete. Das wäre normalerweise kein Problem, doch hatte man so scharlachrotes Haar wie ich, wirkte dieser Name wie ein Fluch.

Meine Mutter hatte mir früher immer erzählt, dass meine roten Haare bedeuten würden, dass ich von magischen Hexen und Zauberern abstammen würde. Ich hatte das als naives kleines Kind natürlich geglaubt. Spätestens in der Schule wurde mir dann aber von den anderen Kindern nur allzu deutlich klar gemacht, wie sehr mich diese Haarfarbe, mitsamt meiner Lockenmähne, zum Freak machten. Seit vielen Jahren glättete ich meine Haare jeden Tag und tönte sie ab und zu etwas dunkler, damit das stechende Rot ein wenig abgeschwächt wurde. Ich hasste es aufzufallen und seit ich nicht mehr wie ein lebendiger Flammenwerfer aussah, wurde ich von den Menschen mehr respektiert als vorher.

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