Kapitel 1 - Notgedrungen

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Plötzlich knallte die Zimmertür unüberhörbar laut gegen die Wand. Eine große, zierliche Frau mit schulterlangen, schwarzen Haaren aus denen auch vereinzelte graue Haarsträhnen hervorragten, lief mit großen Schritten und ernstgezogener Mine auf mich zu. Es war meine Mum. Ruckartig riss sie mir die Kopfhörer runter und schmiss sie mit voller Wucht neben mir aufs Bett.

»Spinnst du?!« brüllte ich und starrte dabei wütend in ihre glasigen, kristallblauen Augen.

»ES reicht Tracee!« schrie sie erzürnt und ballte dabei ihre Hände zu Fäusten. »Du lässt mir keine andere Wahl!« Eine kurze Sprechpause füllte den Raum mit Stille. Dann hielt sie ihre Arme angewinkelt am Kopf fest und drehte sich einmal um die eigene Achse. Ihr verzweifelter Blick richtete sich dabei wieder auf mich und sie verschränkte die Arme.

Ich schaute sie erschrocken an. So wutentbrannt hatte ich sie schon lange nicht mehr erlebt. Mir war bewusst, dass ich schon viel Scheiße gebaut hatte und sie hatte auch allen Grund dazu, sauer auf mich zu sein. Doch dieses mal meinte sie es tot ernst. Nach dem sie mich vor zwei Wochen aus dem Knast geholt hatte, wechselten wir kaum noch ein Wort miteinander. Allgemein herrschte eine unangenehme Stimmung in der Luft. Eigentlich müsste man meinen, dass ich endlich etwas aus meinen Fehlern gelernt hatte. Doch dem war nicht so. Ich beschloss weiterhin mein Ding durchzuziehen, das heißt nächtelange Party's, alte Stadtmauern und Betonwände besprayen, mit Freunden kiffen und über alte Zeiten beschweren. Damals, vor der Verhaftung, wäre Mum nur enttäuscht gewesen, wenn ich diese Dinge tat. Doch dieses Mal schien ihr der Kragen entgültig zu platzen.

Unerwartet packte sie mich fest am Arm und zog mich aus dem Bett. Dabei fiel mir meine Bettdecke, auf den nicht besonderes sauberen Boden, auf dem noch vereinzelt alte Wäsche rum lag.

»Pack deine Sachen.«, ihr Tonfall klang bestimmend. Sie streckte ihren rechten Arm aus und zeigte mit dem Finger auf meinen breiten Kleiderschrank.

»Und was dann? Willst du mich rausschmeißen? Oder was?« spottete ich. Natürlich wollte ich nicht, dass meine Mutter mich rausschmiss. Schließlich hatte ich hier meinen Freundeskreis. Und wer weiß, an welchem Ort sie mich sonst bringen würde.

»Ich sag das nicht noch einmal, also pack jetzt endlich deine Sachen!« zischte sie mit strenger gewordener Stimme und fuchtelte mit den Händen wild durch die Luft.

Ich verdrehte genervt die Augen. Sie würde eh keine Ruhe geben, ehe ich nicht mein Zeug zusammen packte. Außerdem hatte ich heute kein Bock auf Stress.

»Na schön, wie du willst, Mutter«, dabei betonte ich scharf das Wort Mutter.

Ich stieß noch schnell ein leises »Ich hasse dich!« hinterher und begab mich zum Schrank.

Im Zimmer wurde es still. Ich spürte, dass ich einen Wunden Punkt getroffen hatte, denn meine Mum drehte sich nur wortlos um und lief zur Tür. Im Türrahmen blieb sie noch kurz stehen, ohne sich umzudrehen. »In 20 Minuten sehe ich dich unten.« Mit diesen letzten Worten verließ sie mein Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

Als ich alleine war, dachte ich über ihre Worte nach. Du lässt mir keine andere Wahl! Wovon sprach sie? Man hat immer eine Wahl. Wollte sie mich vielleicht in ein Internat schaffen? Oder gar zur Adoption freigeben? Ich beschloss meine Mum später zu fragen, darüber zu grübeln, brachte mich jetzt auch nicht weiter.

Ich stopfte ein paar Shirts, Jeanshosen und Pflegeartikel in meinen Trolley. In einer kleineren schwarzen Handtasche mit Steppoptik legte ich eine roségoldene Uhr rein, die ich von meinem Vater geschenkt bekommen hatte. Sie bedeutete mir sehr viel, denn sie war das Einzige, was mir von ihm geblieben ist. Eine Träne floss mir langsam die Wange runter. Lang unterdrückte Gefühle und Erinnerungen an meinen verstorbenen Vater kamen wieder hoch. Hastig wischte ich mir die Träne aus dem Gesicht. Ich hasste es zu weinen. Ich wollte keine Schwäche zeigen. Ein kurzer Blick in den Spiegel verriet mir, ob die Schminke verlaufen war. Alles gut. Ich musste selbstironisch lächeln.

Nach dem ich alles soweit fertig gepackt hatte, nahm ich den Bluetooth-Kopfhörer, der immernoch auf dem Bett lag, und setzte ihn auf den Hals. Ich öffnete die Zimmertür und schleppte die Sachen den Flur entlang. Vor der holzigen Treppe blieb ich stehen und runzelte die Stirn. Fuck! Ich biss die Zähne fest zusammen und tuckelte Stufe für Stufe vorsichtig runter. Mit einer Hand hielt ich mich am Geländer fest. Meine Mutter wartete bereits unten auf mich. Sie stemmte beide Hände an ihrer Hüfte ab.

Als ich unten angekommen war, pochte mein Herz wie wild und meine Adern pulsierten. Ich stellte den Rollkoffer auf den kalten Fliesboden ab und wischte die Schweißperlen, die mir über die Schläfe rannten, weg. Aus dem Küchenfenster sah ich, dass Mum bereits unseren roten Opel Corsa auf der Bordsteinkante des Gehwegs geparkt hatte.

»Ich habe dir ein paar Brote gemacht...« Mum streckte mir ihren alten Rucksack entgegen, in dem sich die Brote befanden. Für einen kurzen Moment zögerte ich, dann nahm ich ihn ihr zügig ab und gab ihr kein Zeichen der Dankbarkeit.

»Wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät.«, erklärte sie. Bevor ich fragen konnte, wohin wir fahren würden, war sie auch schon durch die Haustür verschwunden. Ich schnappte meine Sachen und lief ihr schleppend hinter her. Sie öffnete den Kofferraum und nahm mir mein Zeug ab, um es zu verstauen. Schließlich fuhren wir los.

Während der Fahrt lehnte ich mich mit meinem Ellbogen gegen die Fensterscheibe. Die Umgebung zog fließend schnell an mir vorbei. Immernoch drehten sich meine Gedanken um das wohin? Ich wollte es jetzt wissen.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich ernst und blickte dabei kurz zu ihr rüber.

»Wir fahren zum Flughafen.«

Ich musste schlucken.

»Du wirst nicht alleine sein. Es werden noch andere die so etwa in deinem Alter sind mitfliegen. Nur so war das Flugticket bezahlbar...«

»Wohin?«, fragte ich nun mit brüchiger Stimme.

»Das wirst du schon sehen.«

Die geheimnisvolle Art meiner Mum beunruhigte mich. Wenigstens wusste ich jetzt, dass sie mich nicht in ein Jugendheim abliefern würde. Und vielleicht hatte es ja doch etwas Gutes, von Zuhause fort zu sein.

Ich zog meine Kapuze über den Kopf und drehte mich zur Fensterseite. Meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich richtete die Rückenlehne weiter nach hinten und lehnte mich seitlich an die Kopfstütze. Schließlich schlief ich ein...

𝘛𝘩𝘦 𝘐𝘴𝘭𝘢𝘯𝘥 𝘞𝘪𝘵𝘩𝘰𝘶𝘵 𝘔𝘦𝘳𝘤𝘺 ||【open】Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt