Kapitel 4 - Letzter Atemzug

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»Papa!« lachte ein bildhübsches kleines Mädchen, das ihre schwarzen Haare zu einem Dutt zusammen trug. Weiße Rüschchen verzierten ihr marineblaues Kleid, auf denen verschiedene rosafarbenene Blumen abgebildet waren. Es schimmerte im Glanz des Sonnenlichts, als sie in die Arme ihres stolzen Vaters rannte. Er hob sie umarmend in die Luft und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse. »Meine kleine Prinzessin.«, rief er freudig und stellte sie wieder behutsam auf den Boden ab. Daraufhin kniete er sich vor ihr hin, um auf gleicher Augenhöhe zu sein. Sie verschränkte die Arme nach hinten und kicherte.
»Ich hab etwas für dich.« Er holte eine kleine Schachtel aus seinem hellgrauen Jackett. »Du kannst damit zwar jetzt noch nichts anfangen, denn sie ist noch zu groß für dich, aber später. Sie wird dein ständiger Begleiter sein. Damit du dich immer an mich erinnerst.« Er legte die Schachtel in ihre Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Neugierig öffnete sie die bunte Schachtel. Etwas glänzendes strahlte ihr ins Gesicht. Eine roségoldene Uhr auf dessen Rückseite ein winziger Spruch eingraviert war:

𝓕𝓻𝓪𝓰 𝓷𝓲𝓬𝓱𝓽 𝓷𝓪𝓬𝓱 𝓭𝓮𝓶 𝓢𝓲𝓷𝓷 𝓭𝓮𝓼 𝓛𝓮𝓫𝓮𝓷𝓼,
𝓰𝓲𝓫 𝓲𝓱𝓷 𝓮𝓲𝓷𝓮𝓷.

Er nahm ihre Hand und sie gingen Seite an Seite nach draußen auf die Terrasse. Gemeinsam setzten sie sich auf die Hängematte und betrachteten fasziniert die Sonne, die langsam hinter der Erde verschwand.

...

Lautes Rauschen schallte durch meinen Kopf. Ich blinzelte vorsichtig, dann öffnete ich meine Augen. Mir wurde schwindelig und alles um mich herum begann sich zu drehen. Meine Sicht war wie von einem hauchdünnen, weißen Schleier eingehüllt und ein starker Schmerz durchschoss meinen Körper. Aus einer Wunde am rechten Bein trat unaufhaltsam viel Blut aus, auch mein Knie war aufgeschlagen und brannte. Ich hatte noch nie so viel Blut gesehen. Ein miefender Geruch breitete sich in meiner Nase aus. Es war Rauch, der sich einen Weg nach draußen bahnte. Gleichzeitig nahm ich ein brausendes Geräusch wahr. Die stürmischen, wellenartigen Bewegungen brachten das Flugzeug zum Schaukeln, jedenfalls das, was von ihm noch übrig war. Der Boden war mit Wasser bedeckt und erst jetzt realisierte ich, dass wir langsam sanken.

Hektisch tastete ich nach dem Gurtschloss, um mich aus dem Riemen zu befreien, doch irgendetwas klemmte. Ich schaute zum schwarzhaarigen Junge rüber. Sein Kopf neigte zur Seite und Blut rannte ihm über die Stirn aus einer Schnittwunde am Kopf. Sein Rucksack trieb vor ihm offen am Boden. Ein Namensetikett, dass am Gepäck befestigt war, schwam an der Oberfläche. Liam Crola. Ich rüttelte vorsichtig an seiner Schulter. »Liam? Kannst du mich hören?«, schluchzte ich mit gebrechlicher Stimme. Keine Reaktion. Er saß regungslos auf seinem Platz.

Ich schaute verzweifelt aus dem Fenster raus und sah zu, wie die Boeing immer weiter sank. Ich hatte schon alle Hoffnungen aufgegeben, da hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme von hinten aufstöhnen. »Fuck...«, ächtzte sie. »Was zur Hölle ist passiert?«, lallte sie weiter. Ich wollte mich nach hinten umdrehen, doch der stechende Schmerz ließ es nicht zu. »Miri? Bist du es?«, fragte ich angespannt und hoffte innerlich, nicht zu halluzinieren. »Tracee?« Ich war mir nun ziemlich sicher, dass ich mit Miriam und niemanden anderen aus der Gruppe sprach. »Ich brauche deine Hilfe! Uns bleibt nicht mehr viel Zeit!«, warnte ich und konnte schon ihre Schritte hören.

Sie hielt sich geschockt die Hände vor den Mund, als sie um sich blickte. Das Flugzeug war in der Mitte entzwei gebrochen. »Beeil dich.«, zappelte ich auf dem Sitz. Schließlich stand sie vor uns.
»Ich bekomme den Gurt nicht auf.« Aufgeregt zupfte ich am Riemen herum. »Warte, ich hab ne' Idee.«
Prompt lief sie zu einem der Servierwagen. Sie nahm sich ein Glas heraus und warf es ein paar Meter weiter gegen die Wand. Dann stakste sie wieder zurück zu mir. Sie gab mir eine scharfkantige Glasscherbe. »Damit müsste es klappen.« Ich rieb die Scherbe so schnell wie möglich über das engmaschige Polyestergewebe auf und ab.

Es schnallte kurz, dann war ich befreit. »Wir müssen die Anderen hier raus schaffen.«, säulste ich, als ich aufstand. Das Wasser war mittlerweile auf Kniehöhe angestiegen. »Das schaffen wir niemals!«, schrie Miri panisch. »Wir müssen es versuchen.« Ich drehte mich zu Liam und schlug ihm leicht auf die Wange, um ihn wach zu machen. Währenddessen watete Miriam den Gang entlang und verließ die Öffnung. Das Letzte was sie mir zurief war ein »Tut mir Leid.«, dann verschwand sie. Verdammt, Miri! Fluchte ich innerlich, wendete mich aber dann wieder Liam zu.

Langsam kam er zu sich. Ich war erleichtert, dass er noch lebte und lächelte ihn in an. »Was ist-« Bevor er weiter sprechen konnte, unterbrach ich ihn. »Wir müssen sofort von hier weg. Das Flugzeug wird in wenigen Minuten komplett überlaufen sein.« Ich half ihm aufzustehen und stütze ihn an mir ab. »Es geht schon.«, murmelte er mit abgeschlagener Stimme. Wir wateten zur Öffnung Danach kehrte ich zum Rest zurück. Inzwischen kamen die Meisten wieder zu sich. Ich gab ihnen die Anweisung schnell das Flugzeug zu verlassen und an den Teilen, die noch an der Oberfläche des Meeres schwammen, rauf zu klettern.

Das Wasser stand nun Hüfthoch. Alle bis auf ein Mädchen mit braunen, glatten Haaren, die eine luftige beige Bluse mit Spitze trug, hing fest im Gurt rein. Ihr Kopf knickte nach vorne, sie war bewusstlos. Ohne groß zu zögern drückte ich mich durch die Wassermengen vorwärts zu ihr durch. Über ihrer linken Augenbraue trat Blut und eine honigfarbende Flüssigkeit aus. Bei ihr war der Gurt nicht geschlossen, sondern trieb offen auf der Wasseroberfläche zur Seite, was mich zweifeln ließ, ob dieses Flugzeug vorkehrende Sicherheitsmaßnahmen einhielt. Ich griff ihr unter die Arme und schwam mit aller Kraft zur Öffnung. »Helft ihr auf. Ich muss nochmal rein.«

Bevor ich losschwimmen konnte, packte Liam mich am Arm und drehte mich zu ihm. »Du kannst da nicht mehr rein!«, rief er entsetzt. »Ich hab etwas wichtiges verloren.«, gurgelte ich, entriss mich seiner Umklammerung und schwam starrköpfig erneut hinein, bis ich an dem Platz zurück kehrte, an dem ich gesessen hatte. Das Wasser stieg weiter auf Brusthöhe an. Panisch suchte ich nach meiner Tasche. Mein Herz pochte immer schneller. Sie muss hier irgendwo sein. Und tatsächlich, sie trieb umgedreht in der danebenliegenden Sitzreihe. Ich zog sie an mich heran und entnahm ihr ein metallisches Objekt, welches ich mir um den Arm legte.

Als ich zurück zur Öffnung kraulen wollte, neigte sich das Rumpfleitwerk leicht in die Senkrechte. Gewaltige Wassermassen dreschten gegen meine Brust und zogen mich vom Ausgang weg. Ich hielt die Luft an und versuchte gegen die Strömung anzukämpfen, doch die sog mich gnadenlos in die Tiefe. Als ich auf Drang nach Sauerstoff den Mund öffnete, füllte sich meine Lunge mit eiskaltem Wasser und mein Körper fing krampfartig an zu beben. Dunkelheit und unbeschreibbare Einsamkeit umgaben mich. Ich spürte einen unerträglichen Druck im Kopf, der sich so anfühlte, als würde er gleich explodieren. Vor meinen Augen spielten sich kurze Erinnerungsfetzen von meinem Vater ab. Die schönsten Momente, die wir miteinander hatten. Bald können wir uns wieder in die Arme schließen, Papa. Ich hörte auf dagegen anzukämpfen und ließ mich gehen...

𝘛𝘩𝘦 𝘐𝘴𝘭𝘢𝘯𝘥 𝘞𝘪𝘵𝘩𝘰𝘶𝘵 𝘔𝘦𝘳𝘤𝘺 ||【open】Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt