Achte Klasse. Alles änderte sich. Meine Eltern stritten sich. Erst täglich. Daraus wurden stündlich. Irgendwann konnten sie nicht mehr normal miteinander reden. Es gab nur noch Streit. Egal worüber. Die banalsten Sachen waren Streitthemen. Ich saß meistens in meinem Zimmer und hörte das laute Geschrei. Ich hörte die Tür, die zugeschlagen wurde, wenn mein Vater wieder das Haus verließ.
Ich sehe es noch immer vor mir, wie ich nach langem Warten aus meinem Zimmer komme und meine Mutter mit roten Augen mir entgegen blickt. Ich sehe die Blutergüsse in ihrem Gesicht und an ihren Armen, auch wenn sie sie versteckt. Ich sehe ihre Schmerzen, wenn sie aufsteht und mich in den Arm nimmt. Ich höre noch immer ihre Worte: „Alles wird gut!" und ich wusste genau; nichts wurde mehr gut.
Ich wusste nicht, wie lange diese Zeit ging. Es fühlte sich an wie Ewigkeiten. Das Alles wurde Alltag. Wenn mein Vater wiederkam, war er betrunken und verschwand immer sofort in seinem Zimmer. Irgendwann bekam ich ihn gar nicht mehr zu Gesicht. Meine Mutter veränderte sich. Sie redete nicht mehr mit mir und auch sie sah ich immer weniger. Eines Nachts träumte ich von ihr. Sie nahm mich in den Arm und flüsterte mir ins Ohr, dass sie mich immer lieben würde. Dieser Traum fühlte sich so echt an. In diesem Moment war ich einfach nur glücklich.
Jetzt weiß ich, dass es kein Traum war. Ich sah meine Mutter nach dieser Nacht nie wieder. Keiner wusste, was mit ihr passiert war. Sie war einfach verschwunden. Mein Vater kümmerte sich nicht darum und auch die Polizei stellte die Suche schnell ein.
Ich wurde anders. Ich begann, mich selbst zu verletzten, um den Schmerz in meiner Brust zu vergessen. Die Einsamkeit und das Gefühl, verlassen worden zu sein. In der Schule wand ich mich von meinen Freunden ab. Jeden Versuch, mit mir zu reden wies ich ab. Niemand konnte mit mir reden. Ich wollte es nicht und die Anderen akzeptierten es irgendwann. Ich saß alleine. Jeder hatte verstanden, dass ich niemanden mehr wollte. Du versuchtest es am längsten. Doch irgendwann gabst auch du auf. Gebrochen und traurig. Niemand wusste, was bei mir los war und jeder wusste, dass es niemand erfahren würde.
Ich ging immer weniger zur Schule. Die Lehrer verlangten ein Elterngespräch nach dem anderen, doch mein Vater ging zu keinem einzigen. Ich begann daran zu glauben, dass er nicht einmal mehr wusste, dass es mich noch gab. Ich bekam nichts von ihm mit. Die Briefe von der Schule warf ich in den ersten Mülleimer, den ich finden konnte. Nichts interessierte mich mehr.
Irgendwann ging ich gar nicht mehr zur Schule. Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis das Jugendamt vor unserer Tür stehen würde. Es würde versuchen, unsere Probleme zu klären, was niemals gelingen würde. Meinem Vater war ich egal. Er wusste nicht mehr, dass ich da war und eine Mutter hatte ich nicht mehr. Selbst wenn sie noch lebte, sie wollte mich nicht. Sie hatte mich zurückgelassen. In einem Leben voller Trauer und Einsamkeit. In einem Leben voller Schmerz und Narben.
Meine Kindheitsträume waren alle geplatzt. Wie eine Seifenblase vor meinen Augen. Und nichts als Dunkelheit war zurückgeblieben. Eine dunkle Leere, die alles Farbige verschlang.
Mit sechzehn verschwand ich. Ich verließ das Haus, ohne ein Wort mit meinem Vater zu reden. Ich verließ die Stadt und alles was ich damit verband. Es gab kein Zuhause mehr für mich. Mein Zuhause war mit meiner Mutter verschwunden.
Ich sank ab. Ich wurde zum Junkie. Drogen und Alkohol wurden zum Alltag. Tagsüber pumpte ich mich mit Drogen voll und abends trank ich so viel, dass ich am nächsten Tag nichts mehr wusste. Die Menschen um mich herum hatten ihr Quellen, wo sie das Zeug her hatten. Ich hatte Spaß mit ihnen. Sie wurden zu meinen Freunden. Niemand fragte nach wer ich war, niemand wollte wissen, warum ich hier war. Sie alle hatten nur ein Ziel: Vergessen.
Vergessen. Das war auch mein Ziel geworden. Von einem Rausch in den nächsten. Von allen Gedanken befreit zu werden. An nichts mehr denken zu müssen, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Ich genoss es. Jeder ließ mich in Ruhe. Niemand kannte mich. Ich hatte einen Ausweg gefunden. Ich hatte ein Leben gefunden.
Doch auch dieser Weg wurde mir nicht gegönnt. Wir wurden entdeckt und bevor ich etwas tun konnte, wurde ich in eine Entzugsklinik gebracht. An diese Zeit kann ich mich nicht erinnern. Das Einzige was ich noch in Erinnerung habe, ist das Zittern. Das Verlangen nach den Drogen. Auf Entzug zu sein war die reinste Hölle. Eine Hölle, die mich festhielt und nicht gehen lassen wollte.
Ich begann, die alten Narben wieder aufzureißen. In meinen Räuschen hatte ich keine Gedanken daran gehabt. Diese Zeit war die erste Zeit seit langem gewesen, in der ich wieder glücklich war. Mein Kopf war frei gewesen. Niemand hatte mich an mein Leben erinnert.
Und hier? Hier wurde mir das alles genommen. Es interessiert niemanden, was sie mir antaten. Sie alle taten so, als wären die Drogen Schuld an meinem Zustand. Aber das waren sie nicht! Sie waren das einzige, was mir in meinem Zustand geholfen hatte.
Die Zeit in der Klinik lief wie ein Film im Hintergrund ab. Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Jegliches Zeitgefühl war mir verloren gegangen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich irgendwann entlassen wurde. Wann genau weiß ich nicht mehr. Ich kann dir auch nicht sagen, wie lange ich darin gewesen war.
Mein Leben danach war anders. Meine Freund waren noch nicht oder schon lange vor mir entlassen worden. Ich stand wieder alleine da, ohne jemanden. Es war, als wäre mein ganzes Leben ein stetiger Kreislauf.
Ich hatte nichts. Mein früher so durchgeplantes Leben war unnötig geworden. Ich wusste nichts damit anzufangen. Ich hatte keinen Abschluss, keine Freunde. Ich war einfach unnützlich. Ich war zu dem Menschen geworden, die ich früher nie verstanden hatte. Wie konnte man sich nur auf Drogen einlassen? Wie konnte man nur nicht wissen, was man mit seinem Leben anfangen wollte? Das Leben bat doch so viele Möglichkeiten!
Ja, das tat es. Doch nur für die Menschen, die sich dafür einsetzten. Für gebrochene Seelen gab es das nicht. Niemand würde mich nehmen. Nirgendwo könnte ich glücklich werden. Ich konnte mich doch nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal ohne Einfluss von Rauschmitteln gelacht hatte. Es gab nichts, was mich glücklich machen könnte.
Die Zeit in der Klinik hatte mir jedoch bei etwas geholfen. Sie hatte mir gezeigt, was ich wirklich war.
Ich war gebrochen. Eine leere Seele ohne Willen. Eine Seele, der niemand mehr helfen wollte. Der niemand mehr helfen konnte. Das Mädchen von damals, das offen und immer fröhlich war, das Mädchen, das jedem helfen wollte und immer versucht hat, das Gute in den Menschen zu sehen, war gestorben. Schon vor langer, langer Zeit.
Das alles begreife ich jetzt. Niemand kann daran mehr etwas ändern. Man kann es einfach nur hinnehmen und akzeptieren. Ich bin tot. Das was noch lebt, ist nur die Hülle dieses Menschen. Ein Mensch, dessen Stern bereits erloschen ist.
YOU ARE READING
Broken Souls
SpiritualDie Vögel drehen noch immer ihre Runden über meinem Kopf. Es kommt mir fast schon so vor, als würden es immer mehr werden. Sie gleiten lautlos dahin. Keiner von ihnen durchbricht die Stille, die auf diesem Ort liegt. Es scheint fast so, als würden s...