Offiziell Officer

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"Sooo, was fehlt denn jetzt noch? Zwei Pullover, zwei Skijacken, meine Fellbürste, mein Rentier-Plüschi Mr Jingles, meine Uniform, eine Tüte Marshmallows für unterwegs..." Grübelnd legte Tindra eine Pfote an ihr Kinn, während sie ihr Gepäck überprüfte.
"Wie wäre es mit Hosen?", kicherte ihre kleine Schwester Stella, die auf dem Bett neben ihrem geöffneten Koffer saß, "Das Wichtigste vergisst du immer."
"Stimmt doch garnicht!", verteidigte Tindra sich eingeschnappt und stämmte schmunzelnd die Hände in die Hüften, "Du kennst ja das Sprichwort: Schneeleoparden vergessen nie etwas."
"Das geht ganz anders!", gluckste Stella amüsiert und warf sich aufs Bett zurück, "Elefanten vergessen nie etwas!" Dann setzte sie sich ruckartig wieder auf. "Wenn du in Zoomania bist, kannst du dann ein Foto von einem echten Elefanten machen und es mir schicken?"
"Natürlich", versprach Tindra ihrer Schwester lächelnd und öffnete eine ihrer Kommoden, um daraus ein paar Hosen ihrem Reisegepäck hinzuzufügen, "Am Sahara Square soll es viele Elefanten geben, stand in der Broschüre. Dort werde ich von jeder Sehenswürdigkeit und jeder exotischen Gattung so viele Fotos schießen, bis sie dein Handy überfüllen. Wer weiß, vielleicht freunde ich mich ja mit einigen von ihnen sogar an?"
Stella sprang mit allen Vieren auf die Matratze und fuhr spielerisch die Krallen aus. "Oder du tretest ihnen in den Hintern, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen!", meinte sie fauchend und fuhr einmal mit der Pfote durch die Luft, imitierte dabei den Angriff auf einen Kriminellen, "Ich kann immer noch nicht glauben, dass du seit gestern eine waschechte Polizistin bist!"
Glücklich faltete Tindra die Hosen so, dass sie in den Koffer passten, und verschloss ihn danach mit einem kribbelnden Gefühl der wohligen Aufregung. Polizistin! Die Schneeleopardin erinnerte sich noch an jedes einzelne Detail des gestrigen Tages, als sie nach einem anstrengenden Jahr der kräftezehrenden Parcoursübungen und nervenraubenden Examen endlich ihr Diplom an der Polizei-Akademie in Antarsika erhalten hatte. Am gesamten Körper gezittert hatte sie von den Schnurhaaren bis zur Schwanzspitze, und als der Bürgermeister ihrer Heimatstadt Tindra feierlich die Marke an die Uniform gesteckt hatte, hätte sie vor Freude und Stolz in Freudentränen ausbrechen können - aber sie nahm all ihre Kühnheit zusammen und hatte eine professionelle, straffe Haltung eingenommen. Jedoch hielt sich ihr Vater im Publikum während der Zeremonie kaum zurück und heulte, was das Zeug hielt. Die Schneeleopardin hätte schwören können, dass er so viel geweint hatte, dass ihm die Tatzen auf dem Boden festgefroren waren (in Antarsika gab es im Spätsommer Durchschnittstemperaturen von bis zu -40 Grad Celsius).
"Das ist meine Tochter!", verkündete Tindras Vater lautstark, gerührt von ihren errungenen Leistungen, "Meine Tochter ist eine waschechte Polizistin!" Danach hatte er kräftig in sein Taschentuch geschnäuzt, das seine Frau ihm mit einer peinlich berührten Geste überreicht hatte.
Daddy war immer schon ein Sensibelchen gewesen, dachte sich die frisch ernannte Ordnungshüterin verschmitzt und setzte sich auf ihren voll gepackten Koffer. Ihr entfloh ein wehmütiger Seufzer, als sie sich eingehend in ihrem Kinderzimmer umsah: Hier hatte sie unvergessliche Zeiten verbracht, während sie von einem hilflos maunzendem Säuglingskätzchen zu der selbstständigen, jungen Frau herangewachsen war, die sie heute im Spiegel sah. Der hing nämlich zwischen ihrem Birkenholz-Kleiderschrank im fliederfarbenem Wildrosenmuster und ihrem vollgeräumten Bücherregal, sodass Tindra vom Bett aus ihre Reflektion betrachten konnte: Ihre schlanke, durchtrainierte Gestalt prägte die typischen Charaktereigenschaften, welche die Rasse der Schneeleoparden kennzeichnete: Ausdauer, Kraft, Anmut (obwohl sie sich selbst eher als ein wenig tapsig bezeichnen würde). Ihren weißgrauen, weichen Pelz mit den üppigen, schwarzen Musterung pflegte sie stets gründlich, da er schnell verfilzte, wenn sie zum Beispiel auf nackter Erde herumtollte. Tindras Bauchfell hingegen war weiß wie der Schnee, von dem man in Antarsika Unmengen fand. Die samtigen Schnurrhaare und die rosa Nase waren bei ihrer Gattung keine Seltenheit, genausowenig ihre kristallklaren, eisblauen Augen, die häufig bei Schneeleoparden vorkamen.
Ihre hatte sie allerdings von ihrer Mutter geerbt.
Ein schnmerzhafter Stich traf unerwartet auf Tindras Herz, der ihre Vorfreude auf ihre Reise nach Zoomania trübte. Auf der stimmungsvollen Abschiedsfeier, die ihr zu Ehren am vergangenen Abend stattgefunden hatte, war ihr überhaupt nicht der Gedanke gekommen, dass ein ihr besonders bedeutungsvolles Familienmitglied ihre Ernennung zur vollwertigen Polizistin nicht mitansehen konnte. Als die Schneeleopardin erst elf Jahre alt war, hatte ihre Mutter Rebecca einen Autounfall an einer Seitenstraße, welcher sie dem Leben entriss. Damals hatte Tindra gedacht, sie und ihr Vater würden nie wieder aus vollem Herzen lachen können. Doch zusammen überwandten sie ihre Pein über den plötzlichen Verlust Rebeccas, ihr Vater fand eine neue Liebe und die Schneeleopardin ihre Leidenschaft, für Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen - und so hatte sie sich für den Weg als Polizistin entschieden.
Wie gerne hätte Tindra ihre Mutter bei sich gehabt, gestern auf dem Podium, als das Publikum bei der Ernennungszeremonie in Jubel ausbrach und wie verrückt applaudierte. Wie gerne hätte sie am folgenden Abend mit ihr gefeiert, dass sie die schweren Stunden an der Akademie endlich hinter sich lassen konnte und ihren Traum leben durfte.
Aber manche Dinge ließen sich nicht einfach so verändern. Und Tindra hatte gelernt, diesen Umstand zu akzeptieren und nach vorne zu schauen.
Deshalb werde ich keine Tränen vergießen, die nicht vergossen werden müssen, beschloss die Schneeleopardin steif und fest, Ich werde die Welt zu einem besseren Ort machen - nicht nur für meine Familie, sondern auch für mich selbst.
Eine Pfote stupste sachte in ihre Schulter. "Musst du schon los?", fragte Stella und musterte ihre große Schwester neugierig, "Wann kommt eigentlich der Zug?"
Tindra warf einen flotten Blick auf ihre Armbanduhr. "Keine Angst, Süße, wir müssen erst los in..." Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie die Position der Zeiger studierte. "...vor fünf Minuten!!! Aaaah!"
Ratzfatz hüpften die Schwestern vom Bett. Eilig packte die Polizistin den Griff ihres Koffer und polterte über die Türschwelle, mit Stella dicht an den Fersen. Ihr Vater und Svenja warteten sicher bereits in der Kälte am Bahnsteig und ärgerten sich darüber, dass sie sich wieder einmal verspätete. Eine ihrer schlechteren Angewohnheiten, wohlgemerkt. Schon in ihrer Schulzeit musste die Schneeleopardin immer wie eine Wahnsinnige dem Bus hinterherhechten.
Bevor Tindra allerdings die Tür hinter sich verschloss, warf sie noch einen letzten Blick auf ihr geliebtes Kinderzimmer: Die pastellblaue Tapete im Schneeflockenmuster, den flauschigen Teppich aus Kunstfell, den bronzefarbenen Lüster mit den energiesparenden Glühbirnen... Jede Kleinigkeit weckte unzählige Kindheitserinnerung in ihr. Hier hatte sie gelacht, geweint, gespielt, sich an den Seidenvorhängen festgekrallt. In der frühen Nacht hatte ihre Mutter sie mit einem sanften Wiegenlied in den Schlaf gesungen, und am helllichten Tag jagte sie spielerisch nach ihren Maus-Kuscheltieren.
Obwohl Tindra wusste, dass sie jederzeit nach Hause zurückkehren durfte, hatte sie das unvermeidbare Gefühl, einen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen, eine Tür zu verschließen, um die Nächste zu öffnen. Plötzlich kam es ihr so vor, als wäre sie viel zu schnell erwachsen geworden, und dass zweiundzwanzig Jahre in einem Wimpernschlag vergangen waren.
Dann dachte die Schneeleopardin an all die Möglichkeiten, die sich vor ihr auftaten, all die Türen, die sie nun zu Öffnen vermochte. Das verdrängte ihre nostalgische Stimmung, und stattdessen freute sie sich auf ihre rosige Zukunft.
"Los geht's", flüsterte Tindra lächelnd, legte die Pfote auf den goldenen Knauf und zog die Tür in ihr Schloss.

ZPD - Verhoppelt und ausgefuchst! 🐰👮🐱Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt