Ankunft in Zoomania

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Die Atmosphäre im Zugabteil für Größere Tiere hielt sich während der Fahrt die meiste Zeit über ruhig, nur ab und zu hörte man hier oder dort ein Niesen. Von Bahnhof zu Bahnhof rollte der moderne Schnellzug und hielt stets an, sobald ein Passagier entweder ein- oder ausstieg. Seit der Ticket-Kontrolle hatte Tindra mit niemanden mehr geredet, stattdessen hatte sie entschieden, ein wenig mit ihrer kleinen Schwester per SMS zu plaudern. Es war ein seltsames Gefühl, sich mit jemanden zu unterhalten, der sich mindestens ein paar Stundenkilometer entfernt befand, da die Schneeleopardin bisher nie weiter von Antarsika weggereist war als bis zur nächsten Stadt. Jedenfalls schoss sie haufenweise Fotos von den eisigen Tundra-Landschaften des hohen Nordens, nach der Tindra auch benannt wurde und die sie während ihrer langen Fahrt vom Fenster aus an sich vorbeiziehen sah. Nach etwa einer Stunde des ausgelassenen Chattens musste sich Stella kurz verabschieden, da sie Zuhause bei ihrer Mutter Nachhilfe-Unterricht in Mathe nahm und Svenja es garnicht mochte, wenn man in ihrer Gegenwart auf dem Handy herumtippte.
Besonders dann nicht, wenn sie versuchte, einem ihrer Schüler das kleine Ein-Mal-eins zu erklären.

Schneeflöckchen: Ich muss jetzt fürs Erste Schluss machen - Mummy zwingt mich wieder zum Üben 😞.

Mit einem Lächeln hatte Tindra auf diese Nachricht eine Antwort geschrieben.

Tindra: Sei nicht so demprimiert deswegen. Ich schreib' dir dann später wieder, wenn ich in der großen Stadt angekommen bin. 😉😘

Schneeflöckchen: Okay, dann viel Spaß beim Fahren! Ich sag Mummy und Daddy liebe Grüße von dir. Vergiss nicht die Elefanten-Bilder! 😁🐘

Wie könnte ich das vergessen?, dachte sich die Schneeleopardin voll Wehmut und strich sich über den Anhänger ihrer Mutter, welchen sie nun um ihrem Hals trug. Tindra fühlte sich so nicht nur Rebecca, sondern auch dem Rest ihrer Familie viel verbundener - selbst wenn Edwin, Svenja und Stella ab dem heutigen Tage in meilenweiter, örtlicher Distanz zu ihr lebten. Das Schmuckstück erleichterte ihr diesen Umstand ein wenig.
Trotzdem entfloh Tindra ein lang anhaltender Seufzer dank der Langeweile, die sie empfand, und trommelte gedankenlos mit den Krallenspitzen auf dem Fensterglas neben ihr herum, welches ihr gerade zeigte, dass der Zug den Breen-Fjord überquerte - ein Seegebiet aus geschmolzenem Schnee am Fuße eines Gletschers. Schon als junges Kätzchen hatte sie immer eine uneingeschränkte Energie in ihrem Körper gespürt. Ihre Eltern taten sich schwer darin, sie abends ins Bett zu bringen, erinnerte Tindra sich, weil sie einfach nie länger als zwei Minuten stillhalten konnte. Ständig wippte sie mit ihrem Schwanz auf und ab, summte ein Lied vor sich hin oder sprang munter im Hopserlauf durch die Gegend: Hauptsache, es kam viel Bewegung ins Spiel.
"Entschuldigung", meldete sich plötzlich eine männliche Stimme ein paar Reihen vor ihr ungerührt zu Wort, "Aber es gibt manche Tiere, die sich hier konzentrieren wollen."
Verwirrt hob Tindra den Kopf und erblickte das erdbraune Gesicht eines Rehbocks, welcher ein Buch in den Hufen hielt und seinen auffordernden Blick direkt auf die Schneeleopardin gerichtet hatte. Peinlich berührt bemerkte sie, dass das Geräusch ihrer Krallenspitzen auf dem Glas unbewusst etwas lauter geworden war. Schnell zog die angehende Polizistin ihre Pfote vom Fenster und miaute leise ein "Tut mir leid".
Der Rehbock betrachtete Tindra noch einen Moment lang durch zusammengekniffene Augen, dann zuckte sein linkes Ohr und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Lektüre zu.
Hm, manche Säuger kennen wohl kein Taktgefühl, schimpfte sie insgeheim und sank träge in ihren Sitz und beobachtete die Gletscherflüsse, welche kürzer und unbeeindruckender wurden, je mehr der Zug an Geschwindigkeit zulegte, Hoffentlich sind die Einwohner von Zoomania nicht genauso drauf. Es heißt ja, in der Großstadt soll es wilder zugehen als in einer dieser TV-Soaps, die sich Daddy um 20 Uhr reinzieht.
Es vergingen erneut einige Minuten ohne ein aufregendes Ereignis, bis das Scheppern von Rädern die Schneeleopardin aufhorchen ließ. Aufgeschreckt schaute Tindra über die leeren Sitze und entdeckte einen älteren, dürren Ziegenbock in einem verstaubten, eng zugeschnittenen Nadelstreifenanzug, der angestrengt versuchte, seinen schweren Rollkoffer die Stufen zum Zugabteil der Großen Tiere zu hieven. Jedoch rutschte ihm das robuste Gepäck ständig durch die zitternden Hufe, was zu einem kläglichen, hilflosen Schauspiel von Altersschwäche ausartete. Tindras Herz krampfte bei diesem Anblick voller Mitleid zusammen. Greise taten sich in der heutigen, modernen Welt noch immer schwer darin, mit manchen Umständen zurechtzukommen.
Instinktiv erhob sich die Polizistin von ihrem Platz und eilte zum Ziegenbock, um den Griff des Koffers mit den Pfoten noch rechtzeitig zu packen, bevor dieser die niedrigen Treppen hinabklapperte. "Warten Sie, ich helfe Ihnen dabei." Mit aller Kraft ihrer Pfoten hob Tindra das Gepäcksstück in ihr Zugabteil. Wow, der neue Passagier musste wirklich viel Ware mit sich schleppen!
"Oh, das ist aber sehr nett von Ihnen, junge Dame", meinte der Ziegenbock erleichtert und sah sie mit solcher Dankbarkeit an, dass die Schnurrhaare der Schneeleopardin verlegen zuckten, "Auf so freundliche Großkatzen wie Sie trifft ein altes Haus wie ich wahrhaft selten."
"Das war doch selbstverständlich, Sir", erwiderte die Polizistin bescheiden, welche es nicht gewohnt war, so höflich von jemanden gesiezt zu werden, "Hilfsbedürftigen zu Helfen gehört schließlich zu meinem Beruf. Naja, zumindest seit gestern."
Der Ziegenbock nahm den Koffer an sich und ließ seine vier Buchstaben schwerfällig auf den nächstbesten Sitzplatz nieder. Eine kleine, schwarze Melone zierte das ergraute Büschel Fell zwischen seinen Hörnern, und seine hellblauen Augen starrten Tindra neugierig durch zwei riesige Brillengläser an. "Wenn Sie sagen, es gehört zu Ihrem Beruf", begann der Ziegenbock mit wachsendem Interesse in seinem Gesichtsausdruck, "arbeiten Sie demzufolge als Ordnungskraft, wenn ich mich recht entsinne?"
"Ins Schwarze getroffen", lobte die Schneeleopardin ihn und holte eilig ihren eigenen Koffer zu ihr, um sich neben den Mann hinzusetzen, und streckte ihm anständig die Pfote aus, wie es sich gehörte, wenn man sich einem Fremden vorstellte, "Officer Tindra Flake, baldigst im Dienst des ZPD."
Dem amüsierten Ziegenbock entfloh ein kehliges, rüstiges Lachen, als er ihre Pfote mit seinem Huf schüttelte. "Brighton Goathland, seit einem Jahrzehnt Bürokaufmann im Ruhestand."
"Fahren Sie etwa auch nach Zoomania?", fragte Tindra wissbegierig und lehnte ihren pelzigen Rücken gegen den wärmenden Sitz, um es sich bequemer zu machen.
Brighton spielte mit seinem eingeringelten Ziegenbärtchen, während er sprach. "Ich steige in Animopolis aus, das liegt ungefähr fünfzig Kilometer hinter Zoomania", antwortete der ehemalige Bürokaufmann gewissenhaft, "Es wird also eine längere Fahrt für mich werden, denn ich besuche dort meinen Cousin, der dort eine erfolgreiche Firma leitet. Wir haben uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen!"
"Dann freuen Sie sich bestimmt schon darauf, ihn wiederzusehen", erriet Tindra lächelnd, und der erschreckende Gedanke, von ihrer eigenen Familie zwei Dekaden lang getrennt zu leben, verursachte ein unangenehmes Kitzeln in ihrer Nackengegend. Zu ihrem Glück war die Zugfahrt von Antarsika bis nach Zoomania vergleichsweise zum südlich liegenden Animopolis nur drei Stunden lang.
Zögernd wiegte Brighton mit dem Kopf. "Wir treffen uns eher aus geschäftlichen Gründen", erklärte er langsam, "Wissen Sie, Finanzen zu Verwalten ist kein Honiglecken, wenn man bereits über achtzig Jahre lebt."
"Das kann ich mir gut vorstellen", pflichtete die Schneeleopardin ihm bei, "Obwohl ich selbst noch am Anfang meiner beruflichen Laufbahn stehe... Vor einigen Tagen habe ich nämlich meine Ausbildung auf der Polizei-Akadamie in Antariska zum Cop abgeschlossen, und man hat mich dann ins Zoomania Police Department versetzt. Ich kann es kaum erwarten, schon übermorgen in der Früh anzufangen!"
Der Ziegenbock musterte sie ehrfürchtig. "Da haben Sie sich wohl mit allen vier Pfoten reingehengt, wenn Sie sich in Ihrem jungen Alter für so eine riskante Berufung qualifiziert haben. Darf ich fragen, worin Ihre Motivation liegt, Polizistin zu sein?"
"Sicher dürfen Sie", erlaubte Tindra leichthin, und beantwortete diese Frage aus voller Überzeugung: "Ich wollte schon seit meiner Kindheit anderen Mitbürgern helfen und für Gerechtigkeit sorgen, vor allem an jenen Orten, wo es keine gibt. Mein großes Idol Judy Hopps hat so viel Gutes bewirkt in Zoomania, und ich möchte in ihre Fußstapfen treten und es ihr gleichtun."
Anerkennend nickte Brighton, während sein weiser Blick über ihr gut gepflegtes, gemustertes Fell glitt. "Wohlgesprochen, junge Dame."
"Ein Meilenstein für eine Raubkatze."
Aprupt stutzte Tindra und drehte sich in jene Richtung, aus der die lasche, sarkastische Bemerkung entstammte: Und zu niemandes Überraschung hatte sich der Rehbock zwei Reihen hinter ihr wieder zu Wort gemeldet, ohne sich seiner Lektüre abzuwenden.
Die Schneeleopardin fühlte sich von seinem unerwarteten Kommentar irritiert, und zögerte nicht, ihn darauf anzusprechen. "Worauf wollen Sie hinaus?", fragte sie nun direkt an seine Wenigkeit und zog erwartungsvoll eine Braue hoch.
Langsam hob der Rehbock seinen schmal geformten Kopf und betrachtete sein Gegenüber abschätzig durch Augenschlitze. "Ich meine nur", erklärte er lose, als läge ihm dieses Thema nicht sonderlich nahe, "dass es seit zwei gefühlten Jahren ständig Säuger aller Art ins "glorreiche" Zoomania zieht, nur um einer Persönlichkeit nachzuahmen, die sich scheinbar für etwas Weltbewegendes hält. Ich wünschte, ich würde in meinen Kreisen endlich Wind von anderen Lebensentscheidungen bekommen, denn diese Leier ödet mich, offen gestanden, bereits an."
Nach diesem Vortrag blieb Tindra glatt das Maul offen stehen. Hatte dieser Wichtigtuer gerade ernsthaft behauptet, Judy Hopps hätte die Stabilität der Gesellschaft Zoomanias aus reinem Egoismus vor einer durch Rassismus verursachten Katastrophe bewahrt? Und noch dazu hatte er sich auch gleichzeitig über das Wunschdenken vieler Bewunderer der Häsin lustig gemacht, was einen Knoten der Wut im Magen der Polizistin heraufbeschwor.
Und es galt als Seltenheit, das eine Sache die sonst so gutmütige Schneeleopardin wahrhaftig zornig stimmte.
Brighton Goathland schien das angespannte Knistern im halbleeren Wagonabteil nicht zu überhören. "Ich, ähm... Muss mal für kleine Geißlein." Mit dieser Entschädigung raffte sich der Ziegenbock auf die wackeligen Beinchen und bewegte sich mit für sein Alter ungewöhnlicher Geschwindigkeitszunahme auf die Toilette für Männchen zu, um eiligst darin zu verschwinden.
"Verzeihung?", fuhr Tindra den Rehbock nun mit aller Höflichkeit an, die sie angesichts seiner unverschämten Rederei noch für ihn verspürte, "Ich tue das doch nicht, um jemanden nachzueifern! Ich wollte Polizistin werden, um problematische Regionen wie Großstädte vor Verbrechen und allgemeiner Rassen-Diskriminierung zu beschützen."
Beschwichtigend rollte der Rehbock mit seinen walnussbraunen Augen. "Hört, hört."
"Und außerdem denk Judy Hopps nicht, sie wäre etwas Besseres!", setzte Tindra unverwandt ihre Zurechtweisung fort und verschränkte standhaft die Arme vor der Brust, um ihr Argument zu bekräftigen, "Um Sie nochmal freundlich daran zu Erinnern: Sie entstammt einer Hasenfamilie, die ihre Träume von Leben als Cop für Flausen hielten und ihr diese ausreden wollten. Niemand hatte an sie geglaubt, einzig und allein ihre Willenskraft gab ihr den Mut, sich jeder Herausforderung zu stellen und so mit Klischees wie "Beutetiere könnten keine guten Polizisten abgeben" aufzuräumen!"
Von ihrer enthusiastischen Rede schien der Rehbock zu ihrer Enttäuschung jedoch leider nicht begeistert zu sein. Im Gegenteil, der unbeeindruckte Waldbewohner hatte sein Sichtfeld wieder auf den Inhalt seines Buches beschränkt und verfolgte nun mit den Augen die einzelnen Sätze darin. "Dann teilen wir beide wohl unterschiedliche Ansichten", tat er die Situation gelangweilt ab und wedelte belanglos mit einer seiner schwarzen Kufen durch die Luft, "Ich hege zwar keine Vorurteile gegenüber Staatsdienern, dennoch empfinde ich Judy Hopps und ihren Ruf als überbewertet. Jeder zufällig Dahergelaufene kann seither bei der Polizei eingestellt werden." Für den Bruchteil einer Sekunde schielte der Rehbock zu Tindra hinüber. "Wie man sieht."
"Ach ja?" Herausfordernd beugte Tindra sich so weit nach vorne, wie ihre gepolsterte Sitzlehne es erlaubte. "Wer bist du denn, dass du dich für so liberal und allwissend hälst?"
"Anders als du erzähle ich Fremden nicht gleich bei der ersten Begegnung meine halbe Lebensgeschichte", wies der besserwisserische Rehbock ihre Frage plump ab, "Gib dich mit dem zufrieden, was ich gestatte, über mich preiszugeben."
"Fährst du auch nach Zoomania?", hakte die Schneeleopardin unverfroren nach, die sich nicht so einfach abbringen ließ.
Jetzt blickte der Rehbock vollständig vom Buch auf und starrte sie ohne Verständnis an. "Du scheinst dein Gehör nicht richtig untersucht zu haben", stellte er lose fest, bevor er sich wieder seiner Lektüre widmete, "Wieso beschäftigst du dich nicht mit den redseligen Quasseltanten deiner eigenen Zunft und lässt mich in Ruhe meine Kreise ziehen?"
Deiner eigenen Zunft? Vor lauter Empörung krallten sich Tindras Pfoten fast in die orangefarbene Sitz-Polsterung. Solche frechen, ungehaltenen Anmerkungen musste sie sich nun überhaupt nicht gefallen lassen!
"Schön, das werde ich", meinte die junge Polizistin nun mit aller übrig gebliebenen Selbstbeherrschung und erhob sich schwungvoll von ihrem Platz, "Aber ganz bestimmt nicht, weil du mich darum gebeten hast! Ich werde mich mit Sicherheit nie mehr mit einem arroganten Sprücheklopfer unterhalten, der es für nötig hält, in jeder Konversation seinen Senf dazuzugeben, schönen Dank für diese Lektion!"
"Gern geschehen", murmelte der Rehbock tonlos und zog kaum merklich einen Mundwinkel hoch.
Schnaubend überprüfte Tindra, ob der Koffer vom bisher nicht aus der Toilette zurückgekehrten Brighton Goathland sich noch sicher am Platze befand, und zog sich dann mit ihrem eigenen Gepäck umschnallt beleidigt auf ihren ursprünglichen Sitz zurück.
Von dem lasse ich mir nicht die Vorfreude verderben, redete sie sich wiederholt ein, um ihr plötzlich entflammtes Temperament zu zügeln. So energisch und reizbar hatte sich die Schneeleopardin selbst selten erlebt...
Aus einem Hinterfach ihres Koffers holte sie ihren MPet3-Player samt Kopfhörer hervor, welche sie nun in ihre Ohren stöpselte und spontan neuesten Song von Gazelle, Broken Bridges, abspielte. Danach zog sie auch das Lunch-Paket von Svenja heraus und verschlang genüsslich ihre Spiegelei-Schinken-Quiche, während sie der mitreißenden Ballade ihrer Lieblingssängerin lauschte, den lesenden Rehbock keines weiteren Blickes würdigte und stattdessen das schillernde Meer beobachtete, in dem sich das Farbenspiel des späten Sonnenlichts spiegelte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 29, 2020 ⏰

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ZPD - Verhoppelt und ausgefuchst! 🐰👮🐱Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt