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Sie sind wie wir, nur freier

Hier schwebe ich nun, in meinem Sichtfeld die Erde mit all ihrer Schönheit. Ich höre mein Herz klopfen, Angstschweiß läuft kalt mein Gesicht hinab und ich will sie genießen: Die letzten Augenblicke meines Lebens.

Mein ganzes Leben habe ich wie auf einem dünnen Seil getanzt, ich habe nicht nur überlebt, ich habe gelebt, mit der ständigen Angst zu fallen. Nun ist es passiert, ich war zu übermütig. Dieser Fehler hat mir alles geraubt.

Vor meinen jetzt geschlossenen Augen tauchen Bilder auf. Meine Mutter steht vor mir, ich spüre ihre zittrigen Hände auf meiner Schulter: „Das stimmt nicht! Das bist du nicht! Es ist alles gut mit dir!" Nach jedem Satz schüttelt sie mich einmal, nach jedem Wort fließen mehr Tränen aus meinen Augen.

„Alex, hör mir zu.", auf einmal wird sie ganz leise, ich blicke in ihre tiefblauen Augen, in denen ich nur die Liebe zu mir sehe. „Das bist nicht du, deine Psyche ist gesund, du hast keine Probleme. Solange sie denken, dass es so ist, ist es so." Ich nicke nur leicht, während ich mir nervös auf die Unterlippe beiße.

In der Schule haben sie uns gezeigt, welche Dinge zum vollständigen Ausschluss führen. Zu Hause bin ich sofort zu ihr gerannt, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Natürlich war mir schon immer klar, dass meine Emotionen anders sind, extremer, allerdings habe ich mir nie groß Gedanken darüber gemacht.

Dann haben sie meine Gefühle so genau beschrieben, wie ich es niemals hätte in Worte fassen können. Und dann haben sie gesagt, dass so eine Gedankenwelt zu gefährlich und unberechenbar ist, dass sie unweigerlich zum Ausschluss führt.

Der Ausschluss, die Aussortierung aus der Gesellschaft in eine nahezu wertlose Schicht, die nur leistet und nicht leitet, die weiß, aber nichts sagen darf. Das eine, vor dem so viele Angst haben. Das war nun bittere Realität, aber nur, wenn sie es wissen.

Seitdem habe ich nie mehr mit einem Menschen darüber geredet, es war viel zu gefährlich.

Die Gesellschaft hat sich wieder zurückentwickelt in die Zeit der Industrialisierung. Die Arbeiter, oder Proletarier, wie sie in der Revolutionsbewegung genannt werden, haben zwar menschlichere Arbeitsbedingungen, allerdings ist es für sie unmöglich aus dieser Schicht wieder zu entkommen. Und was bringt einem schon Demokratie, wenn Stimmen gekauft und Parteien bestochen werden? Was bringt sie, wenn jede Partei, die sich für die Arbeiter einsetzt, schon im Keim erstickt wird?

Selbst die kommunistische Revolutionsbewegung organisiert sich im Geheimen, da sonst jeder einzelne von ihnen durch die Leitenden eleminiert werden würde.

Ich habe den Kommunismus nie als eine vollkommen gute Idee angesehen. Wenn allerdings die Gesellschaft an diesem Punkt angelangt ist, gibt es keine andere Lösung für mich. Und das sage ich als Teil der Wissenden, als Tochter eines Leitenden und einer Wissenden. Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie das Leben als Proletarier und noch weniger wie es als Ausgeschlossener ist.

Jetzt sehe ich meinen Vater, ich höre seine Stimme als wäre es gestern gewesen. Diese eine Klangfarbe, an der man gemerkt hat, dass er sich wieder über die Sali aufregt. Er hat ihre Warnungen immer ignoriert, er hat es durch den Schleier der Gier nach Macht nicht gesehen, das Leid der eigenen Bevölkerung, die dazu verdammt ist, zu schweigen, oder in der ständigen Angst lebt, es irgendwann zu sein.

Die Sali sind doch nur wie eine Stimme tief in uns, die uns zeigt, bis wohin wir gehen dürfen. „Bis hier hin und nicht weiter!", sagten sie. Die Menschen gingen weiter.

Ich wusste, wer sie sind und wie sie lebten. Schon ganz früh wusste ich es. Die Sali wollten nicht immer mehr, sie haben immer nur das Beste aus ihren begrenzten Möglichkeiten gemacht. Trotz der Höhlen, in denen sie leben, haben sie sich mehr Freiheit geschaffen, als es die moderne Menschheit je vermag hat. Wie sie ihren Kontakt zum Internet herstellten, wusste ich. Ich habe die Abzweigung in einem der Tiefseekabel entdeckt und das gleiche bei ihnen angewendet.

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt