"Liebe Mama!
Amo hat mir letztens erklärt, was Krieg ist. Ich kann immer noch nicht ganz verstehen, wie so ein Krieg funktioniert oder wie es zu ihm kommt, aber Amo meinte, dass wir einen Krieg haben.
Bitte komm' schnell nach Hause von wo auch immer du bist, ich habe Angst um dich!
In Liebe, dein Ido!""Ich muss den Brief einfach austragen, Mama hat schon so lange nichts von mir bekommen, auf den von Gestern habe ich total vergessen!"
"Du wirst da nicht hinausgehen, Punkt aus!"Ido war irritiert bis zum Gehtnichtmehr, Amo hatte den Nerv, ihm das Austragen der Briefe zu verbieten, obwohl er sowieso schon nicht mehr hinausgehen durfte.
"Kannst du sie nicht wenigstens austragen, wenn du schon so nett bist?"
"Draußen wütet es wie verrückt, soll ich mich etwa da draußen nur für deine Briefe aufopfern?! Wir können sie meinetwegen auch morgen oder übermorgen austragen, hauptsache nur nicht heute! Ich verstehe, dass dir das auf dein Gewissen drückt, aber deiner Mutter wird es gutgehen und ich möchte nicht, dass einer von uns beiden auch verschwindet."Diesmal hatte Ido keine prompte Antwort.
"Gehen wir stattdessen ins Bett."
"Aber ich bin doch gar nicht müde!"
"Was sollen wir denn sonst machen?"Als Amo sich von der Tür entfernte und Ido in das Schlafzimmer scheuchte, waren draußen Knalle und heftiges Schießen zu hören. Seufzend legte sich Ido auf das Gästebett, nur darauf wartend, dass Amo sich hinlegte.
Dann, bei der ersten Gelegenheit, riss der kleine Ido aus, seine zwei Briefe unter den Arm geklemmt.Wie er es schon erwähnte, war draußen das reinste Chaos. Hunderte von "Sternschnuppen", wie sie Ido naiv nannte, rasten über dem Himmel und lösten ein Feuerwerk aus Glutfunken aus. Die Brandflammen erstreckten sich nicht mehr nur über eine einzige Stadt in der Entfernung, sondern die ganze nähere Umgebung um das Häuschen brannte lichterloh. Diesmal wurde es wirklich ernst, die Leben der unschuldigen Zivilisten hingen am roten Faden.
Einen Brandfunken in seinen weißen Haaren mit der bloßen Hand erlischend, machte sich der Junge auf, seiner Mutter zumindest noch ein mal die Worte seines Sohnes lesen zu lassen, zum Briefkasten beim Postamt.
Jedoch war der Kasten nicht mehr intakt. Das Gebäude stand einem Zusammenfall nahe, der Briefkasten war von der Wand abgefallen. Kläglich scheiterte Ido bei dem Versuch, den Briefkasten zu öffnen und verbrannte sich seine Hand an dem aufgeheizten Eisen. Er konnte nicht anders: er musste es erneut versuchen. Also begab er sich in die Ringe der Innenstadt hinein, auf dass er im Inneren noch irgendwo ein Postamt findet.
Seine Beine wurden schon müde vom Rennen, als ein gewaltiger Knall den Boden unter ihm erschütterte. Er fiel auf seine Hände und wollte sich aufrappeln, als er neben ihm die Flammen knistern hörte und er weiterrennen musste.Tatsächlich, dort stand es: das wahrscheinlich letzte noch stehende Postamt in seiner eingeäscherten Umgebung.
Vorsichtig machte er sich hinein in das Gebäude, da er draußen keinen Postkasten sehen konnte. Direkt im Inneren standen zwei merkwürdig angezogene Männer, die sich über irgendetwas miteinander absprachen und einen Schwall Briefen in ihren Händen hielten. Ido war schockiert, als er darunter seine eigenen erkennen konnte und versteckte sich hinter einem Trümmerfelsen.
Über irgendetwas lachten sie, er wusste nicht was es war. Aber ein paar lose Gesprächsfetzen bekam er doch mit."Was machen wir mit dem ganzen Stapel?"
"Du kennst doch die Routine, wir verkohlen sie! Korrespondenz jeglicher Art lassen unseren Bossen die Haare im Nacken aufstehen, besonders wenn sie wie die hier aussieht."Der Junge wischte sich eine Träne aus dem Auge und zitterte, als einer der beiden seinen Brief hinauspickte und öffnete.
"Weder frankiert, noch adressiert. Und der Text erst!"
"Sieht mir so aus, als ob es von einem Kind käme. Diese Grammatik und die Schrift alleine sagt mir schon alles, was ich wissen will."
"An seine oder ihre Mutter adressiert, wie es mir scheint...?"
"Wenn das Kind nicht weiß, wo sie ist, haben wir uns höchstwahrscheinlich schon um sie gekümmert."All diese Information, die er zu hören bekam, wurde ihm eindeutig zu viel. Dass sie es wagten, den Brief zu öffnen, zu lesen und sich darüber offensichtlich lustig zu machen, war wie eine Schelle ins Gesicht. Und was bedeutet es, dass sie sich um die Mutter des Jungen "gekümmert" haben?
"Sie wird sicher fantastischen Lesestoff im Lager bekommen!" lachte einer der Männer boshaft, während er mit einem gezückten Feuerzeug den Brief langsam abfackelte. Leise weinend und in absoluter Panik schaute Ido dem Grauen zu.
Dann drehten sie sich um.

DU LIEST GERADE
In Liebe, dein Ido
Historia CortaSelbst wenn vor der Türe der Krieg wütet, kann nichts den Bund zwischen Mutter und Sohn trennen - die Geschichte eines jungen Briefeschreibers. - Inspiriert von einem Zitat von Richard Price.