B

224 13 1
                                    

Rin war noch nie so viel in ihrem ganzen Leben gelaufen, nicht so schnell und nicht in so kurzer Zeit. Sie hatte einfach nur weggewollt, weg von ihrem gewalttätigen Vater und weg von all ihren Problemen. Oh ja, sie wusste, dass weglaufen nicht half. Es würde auch nie helfen. Aber irgendwann blieb einem nichts anderes mehr übrig, als die Flucht zu ergreifen und zu hoffen, dass alles zu einem späteren Zeitpunkt besser war.
Erst als sie anhielt fiel ihr auf, wie wenig Luft zu während des Laufens bekommen hatte, denn ihre Lungen schmerzten, nein, sie brannten. Auch fiel ihr erst jetzt auf, wie blau angelaufen ihre Handgelenke waren, von den verzweifelten Versuchen ihres Vaters, sie festzuhalten. Nur hatte Rin sich heute nicht festhalten lassen. Sie wollte bei dem Anblick ihrer Hände gar nicht wissen, wie ihre Wangen, ihr ganzes Gesicht wohl aussehen würden.
Sie spürte eine heiße Träne ihre Wange runterlaufen. Und jetzt? Jetzt war sie weglaufen, und weiter? Was sollte sie machen, wo sollte sie hin? Rin kannte keinen Menschen, der ihr helfen würde, der sie festhalten würde und davor retten würde, endgültig zu ertrinken.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie in einem Park saß. Sie hatte sich mitten auf dem Weg hingesetzt, die Beine an sich gezogen und die Arme fest um sie geschlungen. Ihr Atem ging noch immer sehr hektisch und unregelmäßig. Niemanden kümmerte es, dass sie hier saß. So wie immer, dachte Rin, denn in ihrem gestern achtzehn Jahre alt gewordenen Leben hatte sich auch noch niemand um sie gekümmert. Warum also jetzt? Wieder einmal wünschte sie sich, den Mut zu haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen, aber sie hatte zu viel Angst davor. Rin hatte Angst vor allem.
„Was tun Sie denn noch hier?", ein Mann war vor der jungen Frau stehengeblieben und sah zu ihr runter, „Es ist schon spät, wir haben erst Februar und Sie haben auch fast nichts an! Sie werden noch krank werden.".
„Du klingst wie meine Oma.", fauchte Rin und stand leicht beleidigt auf. Was bildete er sich ein? Es war ihr Leben und wenn sie krank werden würde, war es ihr auch egal. Und dann Siezte er sie auch noch - etwas, dass Rin nun wirklich hasste.
Der Mann musste leicht lachen. „Mag sein. Aber du solltest wirklich irgendwo unterkommen.", er drehte seinen Kopf kurz weg, schien zu überlegen. Durch die Bewegung konnte die Laterne sein Gesicht erhellen und Rin erkannte ein nahezu perfekt geformtes Gesicht. Was machte denn so jemand um die Uhrzeit noch draussen? „Da es sich nicht gehört, dass ein fremder Mann eine so ungeschützte Frau zu sich nach Hause nimmt, werde ich dich in eine Schutzstelle bringen. Da wirst du sicher eine Nacht unterkommen können und morgen kannst du dich bestimmt auch für länger anmelden, falls du das brauchst.".
Oh ja, das brauchte sie. Wahrscheinlich für den Rest ihres erbärmlichen Lebens. Rin nickte nur leicht und folgte ihm dann durch die Dunkelheit. Sie hatte noch kein einziges Mal daran gedacht, dass dieser junge Mann ihr auch etwas Böses gewollt haben könnte, ihr wehtun hätte können oder sie vergewaltigten hätte können, wenn er gewollt hätte. Nein, daran hatte sie keine Sekunde gedacht.
Sie liefen etwa zwanzig Minuten, bis er vor einem Haus stehenblieb. Es sah sehr normal aus, wie ein Mehrfamilienhaus, wenn man das Schild an der Tür nicht las. Er klingelte für sie, die Tür wurde fast zeitgleich dazu aufgemacht und Rin folgte ihrem ‚Retter' in ein kleines Vorzimmer, in dem rechts an der Wand eine Glasscheibe mit einem eingelassenen Loch zum Reden war. Hinter dem Glas befand sich ein Büro. Eine Frau mittleren Alters saß auf dem Stuhl und blickte erst Rins Begleiter und dann sie skeptisch an.
„Die junge Frau in meiner Begleitung braucht einen Schlafplatz, erstmal nur für heute. Alles andere können Sie morgen mit ihr dann abklären.", Rins Begleiter lächelte.
Die Frau sah ihn grimmig an. „Von mir aus.", sie schob einen Schlüssel und ein Formular durch das Loch, „Das müsste bis morgen noch ausgefüllt werden. Und ich hoffe für die Madame, dass entweder ihre Eltern davon wissen oder sie schon volljährig ist.".
Damit war das Gespräch beendet und Rin sah ihren Begleiter unsicher an. Sie fühlte sich so alleine und wollte nicht, dass er ging.
„Pass' auf.", fing er an, „Du gehst jetzt schlafen und füllst das bis morgen aus. Ich bin morgen wieder da, ja?".
Rin nickte.
Dann wollte er gehen.
„Wie heißt du?", fragte sie hastig, ihr war bewusst, dass es erst das zweite Mal gewesen war, dass sie mit ihm heute redete.
Seine Augen glitzerten im fahlen Licht und seine Mundwinkel zuckten leicht. „Kim Hanbin. Du?".
„Song Rin.".

breath | kim hanbin ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt