Der goldene Prinz

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____ Legende:

**Seidr - asischer Begriff für Magier
**Einherjar - königliche Palastwache und Armee von Asgard

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Wieso war er gleich nochmal hier?
Ach ja, richtig. Er half bei den Zeremonien.

Loki versuchte nicht laut zu seufzen, während er sein Standbein wechselte und die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, wie all die anderen Seidr neben ihm. Heute war ausnahmslos viel los, Loki konnte sich nicht daran erinnern, jemals so viele Asen auf einem Fleck gesehen zu haben. Es wurde gedrängelt, geschrien, jeder trug seine beste Ausgehrobe und egal wie alt oder schwach die Leute waren, man hatte sich einen Standplatz ergattert, die Hälse erwartungsvoll zum Observatorium gereckt.

Loki erinnerte sich gut an den Tag, an dem er selbst auf der Regenbogenbrücke aufgeschlagen war. Hungrig und halbtot. Ohne richtige Erinnerungen, kein Ort, kein Zuhause, keine Eltern, nur Schwärze. Schwärze und zusammenhangslose Alpträume.

So waren die Straßen Asgards sein Zuhause geworden. Er hatte geklaut, in fremden Häusern gewohnt und eine Menge Unfug angestellt. Teilweise aus Überlebensinstinkt, teilweise aus Langeweile, doch schon bald hatte man ihn als Trickster verschrien und er war zu bekannt geworden, um sich zu verstecken. Und als er schließlich ein Pferd vom königlichen Hof gestohlen hatte, hatte man ihn an den Haaren vor den Allvater gezerrt, als öffentliches Problem.
Zu seinem Glück oder Pech hatte Odin sein Talent als Magier erkannt und ihn prompt in den Tempel gesteckt, um ihm eine sinnvolle Beschäftigung zu geben, damit er mehr Zeit habe "sich um seine Fähigkeiten zu kümmern, anstatt etwas anzustellen."
Loki musste zaghaft lächeln. Klar, als hätte das irgendwas an seiner chaotischen Natur geändert.

„Da kommt er!", hörte er einen der größeren Zuschauer sagen, der über die Köpfe der Masse hinweg spähte. „Da kommt Thor!"
Loki musste zugeben, dass er verdammt neugierig auf den Kronprinzen war. Er hatte ihn noch nie gesehen. Die Asen sprachen viel über ihn, er war außerordentlich beliebt, ehrbar und ein hervorragender Kämpfer wie es hieß, außerdem habe er seine dreijährige Mannesprüfung in den anderen Welten lebendig und mit Bravour bestanden.
Genau das Gegenteil von mir, dachte Loki schmunzelnd. Bis auf die Arroganz vielleicht. Die konnten sie gemeinsam haben. Aber was spielte das für eine Rolle? Er würde ohnehin nie ein Wort mit Thor wechseln können, sie waren in ihrem Stand so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Nur die sehr alten Seidr wurden hin und wieder an Odins Tisch zu Rate gezogen und Loki befand sich mitten in der Ausbildung. Klar, er war gut, hatte Talent, aber es würde unzählige Jahre dauern bis er Thor vielleicht auf Augenhöhe begegnen konnte.
Ist doch nur ein verdammter Prinz, wahrscheinlich genauso neunmalklug und steif wie sein Vater, beruhigte er sich innerlich. Doch dann tauchte Thor in seinem Sichtfeld auf.
Ein schneeweißer Hengst trug den blonden Donnergott auf seinem Rücken, in nervösem aber eleganten Schritt trabte das Tier voran durch die Massen, begleitet von Tyr dem Kriegsherrn und Heimdall, der den Bifröst wohl für die Feierlichkeiten verschlossen hatte.
Stell dir vor du wärst gerade dann in Asgard aufgetaucht, als sie die Brücke geschlossen hielten. Wahrscheinlich wärst du in tausend Moleküle zerfetzt.

Loki hörte seiner inneren Stimme nicht zu. Er starrte einfach auf den Prinzen, den Mund geöffnet, als wollte er etwas sagen, ohne zu wissen, was.
Thor war der perfekte Bilderbuchkrieger. Groß, muskulös und dabei trotzdem geschmeidig und beweglich. Er hob abwechselnd eine Hand, um der Menge zu winken, ein verwegenes Grinsen im Gesicht. Loki fragte sich einen langen Moment über, ob das hier real war. Ob der Donnergott real war. Ob dieser Moment tatsächlich passierte, oder ob es wieder einer seiner Träume war, in dem die schöne Szene gleich von irgendeinem Dämon infiltriert wurde.
„Senk den Blick", stubste Erik, sein Meister, ihn unsanft in die Seite und ganz automatisch sah Loki zu Boden. Doch er konnte nicht so bleiben. Unmöglich. Langsam hob er den Blick wieder. Und starrte direkt in unglaublich blaue Augen.
Sturmblau. Wild. Schön.
Scheiße. Sie sahen sich wirklich an. Getrennt durch höchstens drei Reihen privilegierter Asen. Doch Lokis anfängliche Angst auf eine Strafe oder auf geweckten Unmut verpuffte augenblicklich, als er Thors Blick einzuordnen begann. Es war keine Wut in seinen Augen, keine Missgunst nur ... Neugier. Loki hätte fast gelacht, ob der Situation, doch ein Pfeiler kam ihm dazwischen und Thor samt seiner Eskorte war aus seinem Blickfeld verschwunden.

„Konzentriere dich", ermahnte Erik ihn von der Seite und holte ihn augenblicklich zurück aus seiner Gedankenwelt. „Du hast heute eine größere Aufgabe und wenn du es verdirbst, wird das so schnell nicht mehr passieren."
„Ja, Meister", murmelte Loki leise, konnte es sich aber nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen. Als würde er je etwas vermasseln.
Bis auf den kleinen Unfall am See.

Herz über Kopf #1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt