Amy
Seine Augen waren blau wie das Meer, gegen das ich mich entschieden hatte. Seine Lippen rot wie der Sonnenbrand, den ich nicht erhalten, und seine Hände weich wie der Sand, den ich nicht zwischen meinen Zehen spüren würde.
Der Stoff des Sofas hatte ein Muster in meine innere Handfläche gezeichnet, dessen Linien David sanft mit der Fingerkuppe nachfuhr. Regungslos saß ich da und betrachtete ihn dabei. Seine Augen lagen konzentriert auf meiner Handinnenseite, seine Miene aber war entspannt. Das dunkle, zerzauste Haar auf seinem Kopf gab ihm ein reifes, attraktives Aussehen. David war Zeichner. Deswegen fragte ich mich, was er dachte, während er die Linien auf meiner Hand verfolgte. Ich frage mich, ob er etwas in ihnen sah, das ich nicht erkennen konnte. Etwas, das ihn sichtbar nachdenklich machte. Wir beobachteten meine Hand dabei, wie sie wieder ebenmäßig wurde. Als die Abdrücke fort waren, schien es, als erwachte David aus einer Trance. Er verschränkte seine Finger mit den meinen und zog mich mit der freien Hand auf seinen Schoß.
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass du dich gegen Florida entschieden hast", murmelte er schließlich und sah mir dabei tief in die Augen. Ich seufzte mit einem leichten Lächeln.
„Hatten wir das nicht schon?", wollte ich wissen.
„Du bist so dumm, Amy", meinte David und küsste mich auf die Stirn, um den Worten ihre Schärfe zu nehmen. „Ich kenne dich doch. Du liebst Reisen. Nur meinetwegen bist du hier geblieben."
„David", sagte ich und sah ihn schwach an. „Sechs Wochen Florida ohne dich wären einfach zu viel gewesen", gab ich leise zu.
Ein kleines Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken. Er legte seine Stirn sachte gegen meine und fragte mich: „Du bereust es nicht, bei mir geblieben zu sein?"
„Ich bereue es nicht", versicherte ich ihm und erwiderte den federleichten Kuss, den er mir daraufhin schenkte.
Obwohl wir uns mittlerweile in der zweiten Ferienwoche befanden, sprach David immer wieder davon, dass ich das Angebot, mit meinen Eltern sechs Wochen in Florida zu verbringen, abgelehnt hatte, und sie alleine geflogen waren.
Es war schließlich nicht so gewesen, dass sie mich unbedingt dabeihaben wollten, auch wenn sie Dinge sagten, die wie abstrakte Argumente dafür klangen mitzukommen. Ich hätte schwören können, dass sie währenddessen die Finger hinter dem Rücken gekreuzt hatten. Und die besten Schauspieler waren sie ebenfalls nicht. Niemand lächelte seine Tochter an und sagte dabei mit vergeblich traurig klingender Stimme: „Tja, dann müssen wir wohl alleine fliegen."
Einerseits freute ich mich für meine Eltern, dasssie gemeinsam Zeit verbrachten, andererseits war die Freude darüber, dass ihrgroßes, helles Haus am Ende der Straße seit jeher auf Zeit mir gehörte und ich David so lange ich wollte, hierbehalten konnte, größer.
Auch David schien glücklich zu sein – er liebte mich, konnte seine Eltern hingegen nicht ausstehen. Es war ein Traum, mein zu Hause mit ihm teilen zu können. Hätte der Sommer besser laufen können?
Ich dachte, ich hatte alles. Das vier Meter lange Sofa, den überdurchschnittlich weiten Garten, die Küche, die Freiheit und David, den Sommer. Ich dachte, das würde mein Sommer werden.
Was David betraf: genau wie meine Elternverbrachten sie die meiste Zeit ihres Lebens in Anzug und Krawatte im Büro, mitdem Unterschied, dass sie keinen Urlaubplanten. Die Arbeit machte ihren Tag aus, trieb sie an und war das Einzige, dasihnen Freude zu bereiten schien. Daher war es ihnen relativ gleichgültig, obDavid in den Sommerferien bei mir wohnen durfte, oder nicht – sie würden ihn so oder so kaum zu Gesicht bekommen, und hatten ihn mit der Erlaubnis gleichzeitig unbeschreiblich glücklich gemacht.

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Sommerwolken
Teen FictionEs hätte ein Sommer werden können wie jeder andere, bis Amy, David und Sam erfahren, dass ihre beste Freundin Lil sich das Leben genommen hat. Lils Suizid trifft die Freunde wie ein Schlag. Wie haben sie übersehen können, dass Lil ihre Hilfe gebrauc...