Sam
Wir waren ins Haus zurückgegangen und hatten die Gartentür hinter uns verschlossen; die Erinnerung an das, was soeben passiert war, sollte vor der Tür bleiben wie ein reudiger Hund.
Amy hatte mir Heißgetränke in der Küche angeboten, doch ich lehnte ab.
„Ich muss weiter", entschuldigte ich mich. Mein Hals war furchtbar trocken. „Die...die Beerdigung ist am Freitag um zehn." Ich nahm meine Jacke vom Hacken und griff nach der Klinke der Haustür, zu der Amy mich begleitet hatte.
„Oh, und Amy", fiel es mir ein. „Was ich dich noch fragen wollte: hast du vor, deine Eltern anzurufen?", fragte ich vorsichtig.
Sie schaute mich an, als hätte sie den Gedanken noch gar nicht gehabt. Daran, dass sie nun an ihrer Unterlippe nagte, erkannte ich, dass sie die Idee abwägte. Doch schließlich schüttelte sie bloß kurz den Kopf.
„Nein", sagte sie. „Ich denke nicht. Wieso?"
Es herrschte Stille. Drei Sekunden lang war es völlig ruhig, während sich unsere Blicke durchbohrten.
„Hätte ich Eltern", sprach ich leise. Mein blutendes Herz pochte kränklich bei dem Gedanken an meine Eltern. „Dann würde ich es ihnen sagen."
Ich konnte das Mitgefühl in ihrem Gesicht aufsteigen sehen. „Sam", wisperte sie. Ihre Augen begannen, traurig zu funkeln, aber vielleicht hatten sie auch nie damit aufgehört. „Ich kann meinen Eltern den Urlaub nicht kaputt machen", erklärte Amy.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete das Muster der Fliesen im Eingangsbereich. „Ich denke nicht, dass es das ist, was dich zurückhält."
„Was denn dann?", fragte sie im Flüsterton zurück.
„Ich weiß es nicht. Nicht sicher. Aber ich glaube einfach nicht, dass du es auf die Reihe bekommen würdest, die Wahrheit auszusprechen."
„Welche Wahrheit?"
„Dass Lil tot ist."
„Dass -." Amy stockte und brach den Satz ab. Ich hob den Blick wieder und hielt dem ihren stand. Ich beobachtete das Gefühlsspiel in ihren Augen. Trauer. Verzweiflung. Schließlich brauste sich Wut auf.
Wut, weil das Schicksal so gemein war.
Wut, weil Amy wusste, dass ich Recht hatte.
„Du hast doch keine Ahnung", zischte sie mit Tränen in den Augen.
„Amy..."
„Nein, Sam. Du hast keine verdammte Ahnung." Sie schüttelte den Kopf und warf hilflos die Hände in die Luft. „Du weißt nicht, was das für ein Gefühl ist!"
„Sie war auch meine Freundin."
„Aber du hast nun einmal keine Eltern, denen du das hier erzählen musst!"
Als Amy verstand, was sie soeben von sich gegeben hatte, war es zu spät.
Ich sah sie unverwandt an. „Nein, habe ich nicht", stimmte ich ihr zu, drehte mich um und öffnete die Tür.
„Sam....Warte!"
„Wir sehen uns." Ich trat in die Wärme der Sonne und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, sprintete ich die paar Treppenstufen der Veranda hinunter zu den Parkplätzen vor dem Haus. Ich riss die Tür des Wagens auf, für den ich seit meiner Geburt gespart hatte, und warf mich auf den Fahrersitz. Ich schloss die Tür, führte den Autoschlüssel ein und machte die täglichen zwei Versuche, den Motor zu starten, als er endlich ansprang und ich Amys Einfahrt hinter mich bringen konnte.

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Sommerwolken
Novela JuvenilEs hätte ein Sommer werden können wie jeder andere, bis Amy, David und Sam erfahren, dass ihre beste Freundin Lil sich das Leben genommen hat. Lils Suizid trifft die Freunde wie ein Schlag. Wie haben sie übersehen können, dass Lil ihre Hilfe gebrauc...