Zweites Kapitel

11 1 0
                                        

Amy

Später am Tag, als die erste Welle der Trauer mich überrollt hatte, bin ich aus Davids Armen gekrochen. Sam war schon gegangen. Ich hatte es nicht gemerkt. So wie ich nicht gemerkt hatte, als Lil gegangen war.

Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Generell nicht zu denken.

Aber wie sollte das gehen? Meine Gedanken kreisten alle um Lil. Ich hatte offene Fragen. Tausende. Gedanken und Gefühle, beides in einer Überdosis. Das Schlimmste allerdings war wohl, dass ich mir selbst nicht glauben konnte. Ein Teil von mir schien den Tod meiner Freundin annehmen zu wollen, der andere Part von mir wollte schreien, weinen, fallen, rennen. Alles loswerden, alle Gefühle und alle Gedanken.

Ich kam mir in meinem eigenen Körper gefangen vor. Seltsam war, dass ich keine Kraft hatte, um mich gegen die lähmende Müdigkeit zu wehren. Ich wollte nichts tun. Nicht aufstehen. Nicht gehen. Nicht essen. Nicht trinken. Selbst Atmen wirkte anstrengend.

Lil lebt, dachte ich immer wieder. Lil kann nicht tot sein.

Der Schwerpunkt meiner Welt hatte sich in mich hinein verzogen. Ich verbrachte den Abend damit, meinen Gedanken zu lauschen, und die Gefühle hinzunehmen, weil ich mir sicher war, dass sie bleiben würden. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich war taub.

„Hältst du?", fragte David sanft und ließ zögernd die heiße Tasse Kakao los, die er mir gemacht und ins Wohnzimmer gebracht hatte.

Ich nickte. „Ja", wollte ich sagen, aber meine trockenen Lippen bewegten sich ohne Ton.

Während ich an der Tasse nippte und das Getränk in mich hineinkippte, ohne zu merken, dass ich Zunge und Hals verbrannte, ließ mich David nicht aus den Augen. Er hatte den Fernseher angeschaltet, schaute aber gar nicht hin. Ich wusste nicht, wieso er das Gerät laufen ließ, und ertrug die Stimmen der Menschen hinter der Glasscheibe, die nicht wussten, dass Lil tot war, ihm zuliebe.

Nachdem ich die Tasse leer getrunken hatte, fiel ich in etwas, das wohl eher Mit-geschlossenen-Augen-liegen als tatsächlicher Schlaf war. Ich war in einer Welt zwischen den Welten, halb wach, halb weggetreten.

Lil lebt, dachte ich. Lil schläft. So wie ich. Lil lebt. Lil kommt wieder.

Einerseits merkte ich, wie David den Fernseher ausschaltete. Ich wollte etwas sagen, murmelte aber nur wirre Wortfetzen. Worauf auch immer erwiderte David dann: „Es ist okay."

Und ich wusste nicht, was er meinte, weil nichts okay war. Lil war tot. Meine beste Freundin. Sie war weg, sie würde niemals wiederkommen. Weg. Für immer.

Als nächstes trug David mich die Treppe hinauf. Es war dunkel. Ich war mir nicht sicher, ob meine Augen offen waren oder geschlossen. Ich sah Lil vor mir. Auf der Schaukel im Wald, in der Hand hielt sie ihr Handy, aus dem Musik dröhnte wie ihr persönlicher Vogelgesang.

Ich sah sie am See, wie sie Enten fütterte und dabei beinahe ins Wasser fiel.

Vor meiner Haustür.

Auf dem Rücksitz in Sams Wagen.

Lachend.

Sie war die Beste von allen.

Ich hörte meine Zimmertür ins Schloss gleiten, langsam und leise, weil David denken musste, dass ich schlief. Er war so stark. Ich wollte es ihm sagen, aber mein Gesicht rührte sich nicht, mein Kiefer, mein Mund, alles war regungsunfähig.

Er legte mich in meinem Bett hin und zog mir meine Jeans aus, während ich mir Lil ansah. Lil auf ihrem Sofa. Lil in ihrem Zimmer. Lil mit ihrem Bruder Jan. Sie war in meinem Kopf.

SommerwolkenWhere stories live. Discover now