Langsam drehte ich mich im Kreis, um mir einen Überblick zu verschaffen. Der Beat dröhnte in meinen Ohren, und ich wurde von zuckenden Lichtern geblendet, während mein Körper durch das Menschenmeer geschubst wurde.
Ich war jetzt frei. Unabhängig. Und das wollte ich feiern.
Ich konnte die Schweißtropfen der tanzenden Menge um mich sehen. Sie glitzerten im Scheinwerferlicht.
So gut es ging, drängte ich mich in Richtung Bar durch, um mir einen Drink zu gönnen. Aber nicht so einen Drink, wie ihr jetzt annehmt.
Mit 19 Jahren hatte ich noch keinen Tropfen Alkohol angerührt. Und auch keinen Jungen.
Es war armselig. Wahrscheinlich hatte auch die Einstellung meiner Eltern Einfluss darauf. Geistliche. Mein Dad war nicht mal mein leiblicher Dad. Er war irgendein dahergelaufener Typ, der meine Mutter immer weiter von mir entfernt hatte. Sie von den Praktiken der Kirche überzeugt hatte. Sie war nicht mehr meine Mutter. Diese Bezeichnung hatte sie nicht verdient.
Aber ich wollte heute nicht an sie denken. Ich war jetzt in London. Alleine. Unabhängig. Ich konnte machen was ich wollte.
Also könnte es in dem Versuch, meine Hangover Jungfräulichkeit zu verlieren, starten. Vielleicht überlegte ich mir das mit dem alkoholfreien Drink noch einmal. Vielleicht.
Aber zuerst brauchte ich Wasser, um das Brennen in meiner ausgetrockneten Kehle zu mindern.
Während ich darauf wartete, dass der Barkeeper fertig war, ließ ich meinen Blick wieder über das Menschenmeer schweifen. Junge Leute, im Alter zwischen siebzehn und dreiundzwanzig. Junge Leute, die sich eine Auszeit nehmen wollten.
Die ihr schreckliches Leben für einen Moment in Alkohol und bedingungslosem Sex ertränken wollten. Leute wie ich. Nur dass ich, im Gegensatz zum Rest der Menschheit, auf diesem Gebiet total unerfahren war.
Gierig griff ich nach dem Glas Wasser, und stürzte den Inhalt meine Kehle hinunter. Das Glas war in wenigen Sekunden gelehrt, und ich leckte mir über die Lippen, um einen verirrten Tropfen aufzufangen.
Ich wollte tanzen. Das war alles, was meine Gedanken einnahm, als ich mich über die Tanzfläche schob. Tanzen. Meinen Körper endlich zu dem Beat, der laut aus den Boxen über mir dröhnte, bewegen.
Erwartungsvoll begannen meine Muskeln zu zucken, und ich ließ meinen Körper einfach machen. Ich hatte noch nie getanzt.
Aber ich machte es, wie sonst alles in meinem Leben, nach Gefühl. Ich wusste, dass ich auf meine Sinne vertrauen konnte.
Ich riss meine Arme in die Höhe, ließ mein Becken kreisen. Mein ganzer Körper, jeder einzelne Muskel, jede Muskelfaser, war im Beat des Basses gefangen. Konnte sich nicht befreien.
Ich ertränkte meine Gedanken. Nicht in Alkohol. Nicht in Sex. Ich ertränkte sie in der Musik, die aus den Boxen wummerte.
Ich spürte, wie sich Körper an mir rieben. Spürte es, aber blendete es aus. Meine Gedanken waren in der Musik ertränkt.
Aber als sich zwei Arme, die nur zu einem Mann gehören konnten, um meine Hüfte schlangen, tauchte ich auf. Ich wollte dem Kerl sagen, er sollte verschwinden. Verschwinden und nie wieder kommen. Ich wollte meine Gedanken immerhin ertränken.
Bis mir einfiel, dass man sie auch anders ertränken konnte. Anders als mit Musik. Und zwar mit Alkohol und Sex. Und der Typ, der hinter mir stand, konnte mir diese Möglichkeit bieten.
Ich war frei, konnte machen was ich wollte. Ich wollte Regeln brechen. Eine der hunderten von Regeln, die mir meine Mutter auferlegt hatte, als der Idiot von Stiefvater ins Haus gekommen war. Sie tat es um seinetwillen. Was ich wollte, war ihr egal. Egal.
Ich drehte mich um, um eine der obersten Regeln zu brechen. Keine Jungs. Bei seinem Anblick stockte mir der Atem. Anders kann ich es nicht beschreiben.
Er war perfekt. Perfekt. Ich wollte etwas sagen. Aber ich erreichte meine Gedanken nicht. Sie waren hinter diesem dichten Nebel. Einem Nebel, den ich vorher noch nie wahrgenommen hatte. Ich konnte meine Gedanken nicht erreichen.
Er hatte sie in diesen Nebel gewickelt. Alles was ich wahrnehmen konnte war er. Dieser perfekte junge Mann, der seine Arme um mich geschlungen hatte.
Auch er sagte kein Wort. Er hielt mich einfach weiter gefangen. Meinen Körper in seinen Armen. Mein Gehirn im Nebel. Unsere Bewegungen verschmolzen zu einer, als wir uns im Takt der Musik bewegten. Wir waren eins.
Als sich sein Kopf meinem näherte, sich seine Lippen meinen näherten, drehte ich mich weg. Klar. Er wollte seine Gedanken ertränken. In Sex.
Ich wollte die Regel brechen. Unbedingt! Ich wollte ihn küssen. Ich wollte es so sehr, dass es wehtat. Aber ich konnte nicht. In mir legte sich ein Schalter um. Ich weiß nicht warum. Aber ich konnte ihn nicht küssen. Aber seine Lippen näherten sich nicht den meinen. Sie näherten sich meinem Ohr.
„Komm mit!“ Seine Stimme war perfekt! Seine perfekte Stimme versuchte über Lärm der Musik meine Gedanken zu erreichen. Meine Gedanken, die noch immer in Nebel gebettet waren.
Er nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Schläge durchzuckten mich. Stromschläge, die von seiner Hand ausging, die er gerade mit meiner verschränkte. Was wollte er mit mir? Er zog mich durch eine Tür. Hinaus ins Freie. Weg vom Lärm.
„Du bist so wunderschön.“ Jetzt flüsterte er. Wie in Trance hob ich meinen Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Sie waren blau. Blau wie der Ozean. Blau wie der Himmel, nachdem die Wolken vom Wind vertrieben worden waren. Blau.
Da erreichten seine Worte mein Gehirn. Ich sah an mir herab. Langsam. Er hatte mich wunderschön genannt. Das hatte noch niemand getan. Nicht mal meine Mutter. Die war eigentlich dazu verpflichtet. Aber sie hatte sich die Bezeichnung ‚Mutter‘ nicht verdient. Ich war nicht schön. Auf keinen Fall.
Meine dürren Beine Steckten in einer Jeans, die zu weit war. Etwas anderes hatten meine Eltern nicht erlaubt. Und in meinem Eifer Regeln zu brechen, hatte ich nicht daran gedacht, mir etwas anderes zum Anziehen zu kaufen.
Meine Stiefel waren abgetragen. Hässlich. Die Jacke sah aus, als gehörte sie meiner Oma. Ebenfalls hässlich. Mein Haar stand mir wirr vom Kopf ab. Ich war nicht schön. Und schon gar nicht wunderschön.
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The Lessons
RomanceWas heißt es nicht mit Menschen umgehen zu können? Nicht mit Männern umgehen zu können? Einfach, weil man es nicht gewohnt ist. Weil man nie viel mit irgendwelchen Leuten zu tun hatte. Weil man von seinen Eltern isoliert wurde. Man ist emotional ver...