Ich starrte das Bild an. Sicher zehn Minuten lange. Aber ich verstand nicht.
„Die Antwort auf welche Frage?“ Seine Arme wiesen auf unsere Umgebung. Seine Wohnung. Ach ja, das Geld. Aber ich verstand immer noch nicht.
„Ich bin in einer Band.“ Die Antwort auf meinen fragenden Blick. Aber ich glaubte ihm nicht. Er wollte mich nur beruhigen. Dass ich nicht mehr damit rechnete umgebracht zu werden. Sagte mein Verstand.
Mein Gefühl vertraute ihm. Aber wie sollte er so Geld verdienen? Nur weil man ein Bisschen in einer Band spielte. Man verdiente doch nicht so viel.
„Mafia?“ Fragend sah ich ihn an. Ich konnte sehen, dass er lachen wollte. Mich auslachen. Aber mein Verstand meinte es bitter ernst.
„Komm.“ Seine Hand umfasste wieder die meine. Ich zuckte zurück. Riss meine Hand aus seiner. Ich wollte den Stromschlägen entgehen.
„Was?“ Sein Blick war undefinierbar.
„Ich...“ Ich wusste keine Antwort. Aber ich konnte das alles nicht. War es nicht gewohnt. Er führte mich ins Wohnzimmer.
Der Ausblick war atemberaubend. Schwindelerregend. So hoch! Er nahm seinen Laptop und kam zu mir ans Fenster. Fragend sah ich ihn an.
„Ich werde es dir von Anfang an erklären.“ Nickend ließ ich mich zu Boden gleiten. Lehnte meinen Rücken ans Fenster. Dann zog ich die Knie an.
Er setzte sich neben mich und tippte auf den Laptop ein. Dann hielt er ihn mir vor die Nase. YouTube war geöffnet und das geöffnete Video zeigte ihn. Auditions bei X-Factor. Oder so ähnlich. Ich hörte ihn singen. Seine Stimme klang nicht schlecht. Gar nicht schlecht.
Aber ich fand sie auch so wunderschön. Wenn er bloß redete. Er zeigte mir immer mehr Videos. Von Auftritten. Von Interviews. Von einem Film. Und es verging immer mehr Zeit. Mir wurde klar, dass er berühmt war. Ziemlich berühmt. Und ihre Songs? Die fand ich scheiße. Zu schnulzig. Damit konnte ich mich nicht identifizieren. Aber seine Stimme, die war einfach wunderschön.
„Sing etwas.“
„Okay. Was?“ Jeder andere hätte abgelehnt. Aber er war es gewohnt. Wahrscheinlich.
„Irgendwas. Aber keine Schnulze.“ Ich konnte sehen, dass er das nicht erwartet hatte. Gar nicht erwartet hatte. Er nahm seine Gitarre. Sie stand im Wohnzimmer an die Wand gelehnt. Sie war aus schönem Holz. Dunklem Holz. Aber sonst... Ich kannte mich mit Gitarren nicht aus. Generell. Mit keinem Instrument. Unmusikalisch pur.
Das Lied kannte ich nicht. Das Lied das er sang. Spielte. Aber es war wunderschön.
„Und jetzt, bist du an der Reihe.“
„Ich singe nicht!“ Unmusikalisch pur.
„Das meinte ich nicht. Du kennst meine gesamte Lebensgeschichte. Mehr oder weniger. Erzähl etwas über dich.“ Natürlich. Meine Lebensgeschichte war aber nicht interessant. Langweilig. Stink langweilig.
„Was willst du wissen?“ Aufschieben. Das mochte ich schon immer.
„Alles.“ Nicht sein Ernst.
„Wie heißt du?“ Da fiel es mir auf. Er hatte mich mit in seine Wohnung genommen. Und er wusste nicht wer ich war. Er hatte keinen blassen Schimmer. Nicht mal meinen Namen hatte ich verraten.
„Armina.“
„Ungewöhnlich. Aber schöner Name. Wie alt bist du?“
Ich hatte mich zuvor verschätzt. Er war nicht 22. Sondern erst 20. Aber egal.
„19.“ Ich hatte keine Lust meine Antworten länger zu gestalten. Ich weiß. Ich wollte ihn kennenlernen. Aber ich konnte nicht mit Männern umgehen. Gar nicht. Wusste nicht wie ich mich verhalten sollte. Aber er... Er war meine Chance das zu erlernen.
„Wo wohnst du?“
„London.“
„Dir ist schon klar, dass du meine Fragen etwas ausführlicher beantworten musst, wenn ich dich kennenlernen soll.“ Ich hatte es befürchtet. Oder er kann meine Gedanken lesen. Das wäre noch schlimmer.
„Ich kann nicht.“ Mein Standardsatz. Aber es stimmte.
Sein Blick bohrte sich in meine Augen. Ich musste ihn anschauen. Konnte nicht anders. „Warum?“
„Ich kann nicht.“
„Dieses Gespräch dreht sich im Kreis.“ Ich senkte den Blick. Konnte nicht anders. Seine blauen Iriden... Ich war zu überwältigt.
„Ich weiß. Aber es ist die Wahrheit.“ Ich traute mich nicht, ihn anzusehen. Meinen Augen wieder auf ihn zu richten.
„Hör mir mal zu, okay?“ Ich nickte. Die ganze Nacht hatte ich nichts Anderes gemacht. Nur ihm zugehört.
Da berührte etwas mein Kinn. Seine Hand.
„Sieh mich bitte an Armina.“ Ich mochte es. Es gefiel mir, wie er meinen Namen aussprach. So weich. Mein Blick suchte den seinen.
„Was auch immer mit dir passiert ist, dass du so abblockst. Ich werde dir helfen. Ich werde dir alles zeigen, was du gewillt bist zu lernen. Alles. Und ich werde nichts tun, womit du nicht einverstanden bist, okay? Unter einer Bedingung.“ Ich hatte es gewusst. Es war so klar. Sternchen machten nichts umsonst. Geld brauchten sie nicht. Davon hatten sie ja schon genug. Aber es gab nichts umsonst. Nichts.
„Was?“ Meine Stimme klang brüchig. Rau.
„Lass mich dir helfen. Lass mich in dein Innerstes schauen.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Gar nicht.
Meine Augen schlossen sich wie von selbst. Ich musste nachdenken. Mir sicher sein, ob ich wollte, dass er mich berührte. Meine Geheimnisse erfuhr. Erfuhr, dass ich die Regeln brechen wollte. Und er mein Werkzeug dazu war.
Und ich wollte die Regeln brechen. Unbedingt. Ich war jetzt frei. Unabhängig. Konnte machen was ich wollte. Dann traf ich meine Entscheidung.
„Meine Eltern sind geistliche.“ Ich schnaubte. Sie hatten die Bezeichnung nicht verdient.
„Mein Stiefvater hat meine Mutter immer weiter von mir entfernt. Sie haben bestimmte Regeln aufgesetzt.“ Ich sagte ihm nichts von dem Verbot Jungs zu treffen. Die Zeit war nicht reif.
„Ich konnte mich nicht gegen sie wehren. Konnte nicht weglaufen, sobald ich 18 war. Ich hatte zu wenig Geld. Seit zwei Tagen lebe ich in einer WG. Mit Mara. Meiner Mitbewohnerin. Aber ich kenne sie nicht. Und niemand kennt mich. Ich habe keine Freunde. Zur Schule bin ich seit ich vierzehn war nicht mehr gegangen. Mein Stiefvater hat mir Hausunterricht gegeben. Völlig abgeschottet vom Rest der Welt. Wenn ich die Regeln gebrochen habe, wurde ich bestraft. Mich geschlagen. Meine Mutter hat nichts dagegen gesagt. Geschwister habe ich nicht. Meine kleine Schwester starb als ich vier war.“
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The Lessons
RomanceWas heißt es nicht mit Menschen umgehen zu können? Nicht mit Männern umgehen zu können? Einfach, weil man es nicht gewohnt ist. Weil man nie viel mit irgendwelchen Leuten zu tun hatte. Weil man von seinen Eltern isoliert wurde. Man ist emotional ver...