Kapitel 2

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Ich wusste, dass ich meinen Sinnen vertrauen konnte. Aber das war unertastetes Terrain. Ich war ahnungslos. Mein Gefühl sagte mir, dass der Typ in Ordnung war. Aber mein Verstand. Mein Verstand befahl mir mich aus seinem Griff zu lösen. Abstand zu ihm zu nehmen. Er wollte mich bloß dazu bringen, mit ihm zu schlafen. Damit er seine Gedanken in bedingungslosem Sex ertränken konnte. Ich wollte Regeln brechen. Ich sollte ihm zustimmen. Aber ich konnte nicht. Mein eigenes Gehirn machte mir einen Strich durch die Rechnung.

Sein Griff um meine Hüfte verstärkte sich. Ich sah zu, wie sein Gesicht sich meinem wieder näherte. Wie erstarrt sah ich zu. Er wollte mich küssen. Ganz bestimmt. Hier war es so leise, dass er keinen Grund hatte direkt in mein Ohr zu sprechen. Ich wollte es. Und doch konnte ich nicht. Seine Lippen waren den meinen schon so nah. So nah. Ich war frei. Konnte machen was ich wollte. Und doch konnte ich nicht. Ich musste entscheiden. Jetzt.

Im letzten Moment drehte ich meinen Kopf zur Seite. Seine Lippen streiften meine Wange. Sie waren so weich. „Ich kann nicht.“ Meine Stimme knackste. „Warum?“ „Ich kann einfach nicht.“ „Hast du einen Freund?“ „Nein.“ „Warum kannst du dann nicht?“ „Ich kann einfach nicht.“ Der Griff um meine Hüfte, er lockerte sich. Aber ich nahm keinen Abstand. Ich wollte keinen Abstand. Wollte ihm nahe sein. Ihn spüren.

„Ich kann das nicht“, flüsterte ich noch einmal heiser und sah ihn entschuldigend an. „Ich kann es dir zeigen.“ Seine leise Stimme klang rau. Meine Augen wurden groß, während ich ihn ungläubig musterte. „Was willst du dafür?“ „Du gibst mir dein Vertrauen. Das ist genug.“ Gab ich ihm das? Mein Vertrauen? Meine Sinne sagten, dass ich das tun konnte. Mein Gefühl täuschte sich nicht. Normalerweise nicht. Aber dieses Mal? Würde es die richtige Entscheidung sein? Ihm mein Vertrauen zu schenken? Langsam ließ ich meinen Blick über ihn gleiten. Er sah gut aus. Richtig gut. Was wollte er mit jemandem wie mir? Ich war hässlich. Hässlich und gefühlsverkrüppelt. Meine Eltern hatten meine Gefühle unterdrückt. Wenn sie doch bloß meine Eltern wären.

Seine Augen. Die Tore zu seiner Seele. Sie sahen freundlich aus. Nicht hinterlistig. Ehrlich. Konnte ich ihm vertrauen?

„Ich kenne nicht mal deinen Namen.“ Das war ein gutes Argument. Um Zeit zu gewinnen. Einen Eindruck von ihm zu bekommen. „Niall. Ich heiße Niall.“ Ungewöhnlich. Das klang nicht britisch. Genauso wenig wie sein Akzent. „Komm mit in meine Wohnung. Dort können wir uns besser kennen lernen.“ „Woher weiß ich, dass du mich dort nicht umbringst?“ Er lachte. Er lachte mich tatsächlich aus. „Meine Wohnung steht unter Beobachtung.“ Scheiße. „Wurdest du vorbestraft?“ Er nahm mich nicht ernst. Aber so meinte ich es. Bitterernst. Immerhin würde ich in die Wohnung eines Fremden gehen. Eines komplett Fremden. Es war für mich von Anfang an klar, dass ich mit ihm gehen würde. Er war so anziehend. Ich wollte mehr über ihn wissen. Aber ich hatte auch Angst. „Damit meinte ich, dass man merken würde, wenn ein Mädchen meine Wohnung betritt und sie nicht mehr verlässt.“ „Wenn du mich drei Sekunden nachdem ich durch die Tür getreten bin, erschießt, wird mich das auch nicht mehr retten.“ „Wo du Recht hast.“ Seine Augen waren immer noch ehrlich. Sie waren es die ganze Zeit über gewesen. „Komm mit in meine Wohnung. Ich werde dir alles erklären.“ Da ließ ich ihn sehen, dass ich das vorhatte. Dass ich mit ihm kommen wollte.

„Siehst du? Du lebst noch.“ Ich nickte einfach. Ich wollte auf diese Aussage nicht antworten. Wirklich nicht. Ich ließ meine Augen schweifen. Musterte die Wohnung. Vielleicht gab sie mir irgendeinen Hinweis auf den jungen Mann. „Mafia?“ Er lachte schon wieder. Aber die Frage war berechtigt. Sehr berechtigt. Die Einrichtung war eindeutig teuer. Er war maximal 22. Er konnte nicht so viel verdienen. Nicht ohne Lügen. Oder... „Reiche Eltern?“ Er schüttelte den Kopf. Also doch Mafia. Ich bereute meine Entscheidung mitzukommen. Was wenn er mich umbrachte? Oder vergewaltigen würde? Niemand würde mich suchen. Niemand. Schließlich war ich frei. Unabhängig von meinen Eltern. Ich war abgehauen. Vor zwei Tagen. Sobald ich genug Geld hatte. Lebte jetzt in einer WG. Aber meine Mitbewohnerin würde mich nicht vermissen. Immerhin wollte ich feiern. Und Typen kennenlernen. Meine Gedanken ertränken. Und meine Eltern? Die wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass es mich gab. Oder doch. Es würde auffallen, wenn sie niemanden mehr hatten. Niemanden mehr, den sie bestrafen konnten. Weil ich wieder eine der Regeln gebrochen hatte. Eine davon brach ich gerade. Keine Jungs. Ich war in seiner Wohnung. Nialls Wohnung. Der Wohnung eines jungen Mannes. Der eindeutig mehr Geld zur Verfügung hatte, als mir lieb war.

„Wie dann?“ Ich kam auf meine vorige Frage zurück. „Ich...“ Ach, er wusste nicht, was er sagen sollte. Ich schnaubte. „Ja?“ Er antwortete mir nicht. Er drehte mir den Rücken zu, und stapfte aus dem Zimmer. Jetzt würde gleich der Auftragskiller kommen. Ich wusste es. So leise ich konnte, stand ich auf. Ich sollte verschwinden. Sofort. „Wo willst du hin?“ Verdammt, ich war zu langsam. „Weg.“ „Warum?“ Ich konnte nicht antworten. Es war zu peinlich. Deshalb drehte ich mich wieder um. Dann folgte ich ihm. „Hier.“ „Was ist das?“ Er hatte mir ein Bild gegeben. Ein Bild von fünf Jungs. Einer davon war er. „Die Antwort auf deine Frage.“ Jetzt war ich verwirrt. Vollends verwirrt. Er murmelte etwas vor sich hin. Aber ich verstand es nicht. Noch ein Bild. Er hielt es mir direkt vor die Nase. Wieder die gleichen Fünf Jungs. Diesmal mit Mikros in der Hand. Und der Blonde, der vor mir stand. Er hielt eine Gitarre in der Hand.

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