Vergessen

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Er kam herein, früh am Morgen, packte etwas Obst aus der Schale in eine Tasche und weckte mich, doch ich war schon lange wach. Er setzte mich in den Rollstuhl und schob mich raus. Nein! Nein!! Ich wollte zur Polizei, wollte frei kommen, doch er machte wieder alles kaputt. Da kam eine Krankenschwester. "Melanie, er nimmt mich mit! Hilf mir!" wollte ich schreien, aber er hatte an alles gedacht. "Wir machen nur einen kleinen Spaziergang." sagte er freundlich und Melanie nickte. Er lud mich in sein Auto ein, startete den Motor und fuhr die Landstraße entlang.

"Saskia ist bestimmt tot, oder sie lebt irgendwo in der Wildniss. *lach* Wir müssen Ersatz für sie finden. Vielleicht sehen wir auf dem Weg ein neues Opfer, eine neue Auserwählte.." schmunzelte er. "Du bist krank, du bist so krank!" schrie ich ihn an, so laut ich konnte, doch es war nicht wirklich laut, denn ich hatte keine Kraft. Er sah mich nicht einmal an, grinste in sich hinein.

Nach ca einer halben Stunde Fahrt kamen wir in ein kleines Dorf, es war Morgen und viele Kinder gingen herum, mit Schultaschen und einem großen Lächeln im Gesicht. So war ich auch einmal gewesen, so naiv, dachte, die Welt wäre schön, ohne Gefahren. Denkste! Ich starrte gedankenverloren aus dem Fenster, beobachtete die Kinder, fremde Gesichter. Warte! Nicht alle waren fremd! Wir blieben an einer Ampel stehen. "Augstbach" stand auf einer Ortstafel. Ich atmete erschrocken ein, da vorne stand ein Mädchen, mit orangen Haaren, grünen Augen und einem roten Ranzen. Sie stand allein, abgeschieden, mit gesenktem Kopf am Straßenrand. "Antonia!!" flüsterte ich. "Was? Kennst du die da?" fragte er mich. "Meine Schwester...." antwortete ich, bereute es jedoch sofort wieder.

Der Wagen hielt, er stoppte knapp vor ihr, betrachtete sie durch die abgedunkelte Windschutzscheibe und dachte nach. "Später" meinte er, "später".

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"Zu Hause" brachte er mich in den Keller, ging sofort wieder und ließ mich allein. Das Wort Allein hatte so viele Bedeutungen für mich.

-Ich war immer allein

-Wenn er nicht da war, war ich allein allein

-Wenn ich an meine Familie dachte, war ich allein allein allein

-Und wenn ich über etwas nachdachte, war ich allein allein allein allein

Nein, ich bin nicht gestört, oder doch....

Warum hatte er meine Schwester so angestarrt? Was wollte er von ihr? Sie war nur ein Mädchen, wie ich, doch sie war frei. Doch trotzdem gefangen, in der Rolle des Mädchens mit der verschwundenen Schwester. Sie war zwei Jahre jünger als ich, konnte dementsprechend auch echt nerven, wenn sie jetzt genau in dem Moment etwas wollte, wenn ich etwas hatte, was sie wollte, wenn ich sie anscheinend schlecht behandelte, doch im Großen und Ganzen liebte ich sie.

*ein Jahr früher*

"Wo ist meine gelbe Bluse Toni?" rief ich durch das ganze Haus. "Keine Ahnung, lass mich doch in Ruhe!!" rief sie zurück. Ich stürmte in ihr Zimmer und knallte die Kastentüren auf. Hinten im Schrank hing meine gelbe Bluse, ich liebte dieses Teil! Es war eine relativ weite Bluse, mit halblangen Ärmeln und großen, goldenen Knöpfen. "Spinnst du?" schrie ich Antonia an, doch sie sah mich nur genervt an. "Könnt ihr nicht ein Mal normal mit einander reden?" fragte meine Mutter, als sie ins Zimmer getrabt kam. Sie gab immer mir die Schuld, wenn Toni etwas nahm, ohne mich zu fragen, hieß es, ich solle mich nicht so anstellen, teilen wäre ja nicht so schwer.

Aber es gab auch schöne Momente. Eines Tages kam meine große Schwester weinend nach Hause, sie war damals fünfzehn. Toni und ich gingen zu ihr, sie sagte, die Jungs in ihrer Klasse würden sie ärgern, weil sie aussah wie eine zwölfjährige. Sie sagten, Elisa, meine große Schwester, sei hässlich und dürr. Wir redeten mit ihr, Antonia zeigte total viel Verständnis. Wir hielten zusammen und Elisa ging am nächsten Tag mit einem Lächeln in die Schule.

*Jetzt*

Alles war vorbei, es würde nie wieder geschehen... Hoffnung? Ach ne, die gab es nicht mehr!! Außerdem war ich viel zu erschöpft, alles tat weh, ich hätte eigentlich noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben sollen. Um etwas acht Uhr legte ich mich schlafen, fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.

Let me goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt