Konfrontation

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Aaro wurde mit einem Kuss geweckt und streckte sofort sehnsüchtig im Halbschlaf die Arme nach seinem Schatz aus. Er zog Jin an sich und bedeckte sein Gesicht mit kleinen Küssen. Sein Omega war wohlauf, es ging ihm gut.

»Du hast gestern schon geschlafen, als ich heimkam. Hast du den ganzen Nachmittag verpennt?«, fragte Jin und streichelte über den Kopf seines Alphas.

»Anscheinend.«

Aaro blinzelte ein paar Mal und erhob sich schwerfällig, seine eingerosteten Muskeln schmerzten von der Überdosis Schlaf.

»Wir sind schon wieder spät dran.« Jin zog Aaro am Handgelenk in die Küche. »Und, wie war dein erster Tag an der Schule?«

»Ganz okay.« Aaro machte sich rasch sein Protein-Porridge und suchte nach Worten. »War ganz schön viel Info auf einmal, es ist so viel passiert und –«

»Oh ja, echt verrückt, oder? Bei mir auch. So ein vollgestopfter, verrückter Tag.« Jin erzählte begeistert von seinen neuen Freunden, vom Schulgebäude, von seinen Kursen. Als er vom Hauswirtschaftsunterricht erzählte, musste Aaro schmunzeln. Er dachte an Keigo. Dieser aufmüpfige Junge würde sicherlich Höllenqualen erleiden, wenn er sich mit freundlicher Gästebewirtung, der zärtlichen Versorgung seines künftigen Alphas und der Kindererziehung widmen musste, während diese Disziplinen für den liebevollen, süßen Jin das reinste Vergnügen waren und exakt seinen Talenten und Wünschen entsprachen.

»Was lächelst du so verschmitzt?«, fragte Jin und berührte zutraulich die Wange seines Liebsten.

»Ach, da ist nur dieser Junge in meiner Klasse und –«

»Oh Mist!« Jin blickte auf die Uhr in der Küche und sprang auf. »Wir müssen unseren Wecker demnächst echt früher stellen, die Zeit reicht morgens einfach nicht aus.«

Etwas überrumpelt erhob Aaro sich und musste schweren Herzens erkennen, dass wieder die Zeit gekommen war, sich von seinem Omega zu trennen und allein in die gefährliche Welt zu ziehen.





In der ersten, ätzenden Mathematik-Stunde spielte Aaro mit seinen Fingern herum und fühlte sich verdammt unwohl, als er die morgendliche Unterhaltung mit Jin Revue passieren ließ. Jin hatte ihm gar nicht richtig zugehört. Er hatte keine Gelegenheit gefunden, seine Sorgen und all die überfordernden Erlebnisse des ersten Schultags mit seinem Liebsten zu teilen. Aber auch Jin hatte viel erlebt und natürlich war er aufgedreht und fröhlich deshalb gewesen.

Aaro atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Er würde heute Abend ausführlich mit Jin sprechen und dann würden sie genug Zeit haben, um alles miteinander zu teilen und sich wieder näher zu kommen.

Viel mehr machte ihm allerdings die bevorstehende Konfrontation mit Keigo Sorgen. Er fixierte den Nacken des Jungen, der brav in der ersten Reihe saß. Keigo hatte kurze Haare, doch in seinem Nacken kringelten sich üppige Schmalzlöckchen. Sicher waren sie getränkt mit seinem intensiven, pheromonschwangeren Schweißgeruch. Dieser Nacken... Wie schamlos er ihn offen zeigte! Jeder Alpha hätte einfach so hineinbeißen können, um ihn zu seinem Eigentum zu machen.

Plötzlich zuckte Keigo zusammen und drehte den Kopf in Aaros Richtung, seine Augen blitzten heimtückisch über seiner schmalen, spitzen Schulter auf. Er spürte wohl, dass ihre Verabredung heute nach der Schule eingehalten werden würde, so intensiv wie der Alpha ihn musterte.

»Keigo, kannst du die Grundlagen der Integralrechnung nochmal wiederholen?«

»Was?« Erschrocken drehte Keigo sich zu Herr Kasmar um. »Äh, nun, das hat mit Sicherheit etwas mit Mathematik zu tun.«

»Wir sind hier in der Mathe-Stunde. Also korrekt, es hat etwas mit Mathematik zu tun. Könntest du das genauer ausführen?«

Keigo schwieg verbissen und Herr Kasmar schüttelte den Kopf.

»Keigo, hast du nicht gestern gesagt, du hältst die sozialen Fächer für irrelevant und möchtest lieber in »wichtigen« Fächern dein Können zeigen? Dann stelle dein Wissen hier in den Basisfächern unter Beweis, statt mit den Alphas zu flirten.«

»Ich habe nicht geflirtet! Ich werde diesem Alpha den Kopf abreißen«, zischte Keigo.

»Wie auch immer. Pass jetzt gefälligst auf.«

»Ja, Herr Kasmar«, flötete Keigo scheinheilig und tat für den Rest der Stunde so, als würde er sich für das Fach interessieren.

Als der Gong zur Pause schrillte, sprang der kleine Omega vergnügt auf, doch Herr Kasmar hielt ihn zurück.

Aaro und Marek wollten das Klassenzimmer verlassen, um sich etwas zu Essen zu kaufen, doch Aaro hielt inne, als er das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler mitbekam.

»Keigo, nimmst du deine Pillen nicht? Ich habe da einen gewissen Geruch an dir wahrgenommen. Dein Verhalten ist viel zu riskant. Du weißt, niemand kann dich dazu zwingen, die Medikamente zu nehmen, aber du solltest wirklich drauf achten. Deine Schulbildung ist wichtig, du willst doch jetzt nicht schwanger werden.«

»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen«, erwiderte Keigo trotzig. »Jeden Alpha, der mich anrührt, mache ich fertig!«

»Sei nicht albern. Du bist nur ein Omega, Keigo. Du kannst nicht –«

Ein lautes, klatschendes Geräusch erklang und Aaro drehte sich überrascht um. Keigo stand da, aufrecht, furchtlos, mit erhobener Hand und die Wange von Herr Kasmar glühte feuerrot. Er hatte einfach so den Klassenlehrer geschlagen.

»Das reicht, Keigo. Dafür schicke ich dich zum Rektor. Du kannst dir einen Verweis abholen«, grollte Kasmar. Trotz seiner offensichtlich brodelnden Wut beherrschte er sich und geleitete seinen unartigen Schüler diskret und leise aus dem Klassenraum.

»Unsere Verabredung ist nicht vom Tisch. Wir sehen uns nach der Schule«, wisperte Keigo, als er an Aaro vorbeispazierte, keineswegs beeindruckt von dem drohenden Verweis, den er in wenigen Minuten vom Rektor erhalten würde.

Aaro starrte dem Omega fragend hinterher. Ließ dieses fiese, kleine Biest sich denn von nichts und niemandem einschüchtern? Wenn er so weitermachte, würde er nicht viel Zeit auf dieser Schule verbringen.





Der Schultag endete gegen 15 Uhr, der lange Nachmittagsunterricht würde erst in den nächsten Wochen beginnen, wenn sich alle Schüler für ihre Wahlpflichtfächer eingetragen hatten und die Kurse eingeteilt wurden.

Aaro hatte Keigo nach der Mathestunde nicht mehr gesehen. Vermutlich war es vergeblich, aber trotzdem wartete er hinter der Turnhalle, am Ort der Revanche, den Keigo in seinem Briefchen festgelegt hatte.

Aaro starrte auf seine Armbanduhr. Wahrscheinlich war Keigo längst von seinen Eltern abgeholt worden und kassierte gerade eine Tracht Prügel für sein unmögliches Benehmen.

Gerade, als Aaro den Platz verlassen wollte, hörte er ein Rascheln und seine Nase zuckte. Keigo war hier. Es war sein geheimnisvoller Duft, ganz unverkennbar.

Er stand auf und sah Keigo, der sich näherte und im Gehen das Sakko seiner Schuluniform aufknöpfte.

»Du bist gekommen, wie schön«, schwärmte Keigo und warf die Jacke ab.

Aaro rümpfte die Nase. »Du machst also wirklich ernst? Du willst mit mir kämpfen?«

Keigo strich sich sein dunkelblondes Haar zurück, ein kleines Goldlöckchen war ihm in die Stirn gefallen. Er wirkte für einen Moment nachdenklich, suchte nach den richtigen Worten.

»Ich muss etwas wissen. Es hat mir keine Ruhe gelassen, wie du meinen Kontrollversuchen widerstehen konntest. Kein Alpha sollte sich mir widersetzen können, besonders in dieser speziellen Phase meines Zyklus.«

Aaro lächelte zurückhaltend. Also war auch Keigo darauf aus, seine Schwächen auszumerzen. Sie waren beide aus dem gleichen Grund hierhergekommen: Um stärker zu werden, um an der Herausforderung zu wachsen. Doch er begriff nicht, wie ein solches Bedürfnis im Herzen eines Omegas wachsen konnte. Omegas wollten keinen Streit, sie wollten doch nur Harmonie und Frieden. Und selbst wenn sie in eine Notlage gerieten, wehrten sie sich nie mit Fäusten, ihre auserwählten Alphas kämpften für sie.

»Es ist ein Trick, oder?«, hakte Aaro nach. »Du benutzt deinen Läufigkeitsgeruch, um Alphas bewegungsunfähig zu machen? Sag mir, wie es funktioniert.«

»Ein Trick?«, ätzte Keigo. »Nein, es ist mehr als nur eine kleine Spielerei. Ich habe Macht über die Alphas und ich habe Macht über meinen eigenen Körper. Ich bin keine Marionette meiner körperlichen Bedürfnisse, ich lasse mich von der Läufigkeit nicht so leicht unterkriegen wie die anderen jämmerlichen Omegas.«

»Macht, sagst du? Welche Art von Macht ist das?«

»Sexuelle Energie ist eine unerschöpfliche Quelle der Macht. Wer sich nicht von leiblichen Gelüsten zu unzüchtigen Taten verleiten lässt, kann auf eine ganz neue Stufe der Selbstbeherrschung und Kraft aufsteigen.«

»Keine unzüchtigen Taten, hm? Mit anderen Worten, du bist noch Jungfrau – und daher kommt deine Macht? Irgendwie süß«, gluckste Aaro belustigt. Keigo hatte wohl bisher jeden aufdringlichen Alpha niedergeschlagen und verscheucht, so wie den Kerl gestern auf dem Schulhof.

»Du Dummkopf!«, quiekte Keigo säuerlich. »Du solltest mich nicht verspotten, du solltest mich bewundern und respektieren.«

Aaro spürte eine gewisse Neugier in sich aufwallen. »Also, du recycelst deine sexuelle Energie und machst sie zu telekinetischer Kraft?«

»Nicht schlecht für einen grenzdebilen, schwanzgesteuerten Alphahund wie dich«, bemerkte Keigo. »Du hast recht, so könnte man meine Kraft umschreiben. Fragst du dich etwa, ob auch du auf diese göttliche Stufe der Selbstbeherrschung aufsteigen könntest, mein kämpferischer Freund? Vergiss es lieber gleich. Die sexuelle Energie der Alphas ist lächerlich im Vergleich zur sexuellen Energie eines Omegas. Die Läufigkeit, das schöpferische Verlangen des Körpers, der biologisch einprogrammierte Wunsch nach Kindern – wer diesen natürlichen Urmächten widersteht, beweist wahre Kraft. Alphas hingegen spüren nur den dumpfen Drang, ihren Schwanz in irgendeinem Loch zu vergraben, das ist minderwertige sexuelle Energie.«

»Aber wenn mentale Kraft auf brachiale Körperkraft trifft, obsiegt die pure Muskelstärke, das hast du doch bei unserem ersten Kampf am eigenen Leib erfahren.«

»Muskelstärke habe ich auch zu bieten. Nur konnte ich sie bisher noch nicht demonstrieren.«

»Du? Wo sind sie denn, deine Muskeln?« Aaro lachte und knetete seine Finger. »Ich bin gespannt, kleiner Mann.«

»Schön, dann beginnen wir. Genug geredet.« Keigo streckte sich und machte sich bereit. »Greif mich an, Aaro.«

»Im Leben nicht! Ich lass mir doch nicht nachsagen, einen Omega geschlagen zu haben. Du wirst den ersten Schritt machen. Zeig mal, was du draufhast«, spottete Aaro und ging in seine defensive Position, sprang dynamisch von einem Bein aufs andere und hielt die Fäuste schützend nach oben, nah an sein Gesicht.

»Wie du willst«, schnurrte Keigo und kam näher, auch er achtete auf korrekte Beinarbeit und Aaro zeigte sich überrascht. Kannte der Omega sich etwa ein bisschen mit Kampfsport aus?

Doch wie erwartet waren seine Faustschläge lächerlich, einer links, einer rechts, sie mit bloßen Händen schmerzlos und leicht zu blocken.

Aber statt sich nach dem erfolglosen Angriff panisch in die Defensive zurückzuziehen, vollführte Keigo plötzlich eine Oberkörperdrehung und mit Schwung kam sein Bein hinterher. Es traf Aaro so unvermittelt, dass er nicht im Ansatz blocken oder ausweichen konnte. Die Ferse rammte sich hart in seine Brust und ihm blieb die Spucke weg, Lichter tanzten vor seinen Augen.

»Ein Kampfsportler sollte sich mit dem Körper gut auskennen. Das war dein Sonnengeflecht, Aaro. Ein schöner Name, nicht wahr? Es liegt unter deinem Brustbein und ist sehr empfindsam. Ein harter Schlag in dieser Region kann zu Bewusstlosigkeit führen – manchmal sogar zum Tod. Aber das wollen wir ja nicht. Ich habe bereits einen Verweis, ich würde heute ungern einen Todesfall verursachen.«

Aaro stürzte auf die Knie und der Speichel lief ihm aus dem weit geöffneten Mund. Zum Glück sah niemand diesen Kampf mit an. Er wäre gestorben vor Scham. Noch nie hatte er solche Schmerzen verspürt und ausgerechnet ein verdammter Omega war dafür verantwortlich.

Verzweifelt blickte er auf, in Keigos sadistisch glühende Augen. Sein verzerrtes Lächeln war Stoff genug für tausend Albträume.

Aaro richtete sich auf, er spürte den unregelmäßigen Schlag seines Herzens, durch den heftigen Kick war seine Blutzufuhr beeinträchtigt. Er wischte sich über die feuchten Lippen und ballte wieder die Hände zu Fäusten. Er würde nicht aufgeben, er würde sich nicht von einem Omega schlagen lassen.

Unerwartet wich Keigo zurück, doch nicht aus Angst. Sein scheußliches Grinsen kräuselte sich verzückt zu einem etwas süßeren, harmloseren Lächeln und seine Augen wurden groß vor Begeisterung.

»Jetzt weiß ich, warum du mir bekannt vorkamst. Bist du etwa der Sohn von Orion, der Beta-Boxlegende?«

Aaro versteifte sich erschrocken in seiner Verteidigungshaltung. Er hatte gehofft, sich an seiner Schule nicht mit diesem Thema auseinandersetzen zu müssen.

»Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.« Keigo klatschte vergnügt in die Hände. »Nun, allerdings hast du natürlich die üblichen unansehnlich kantigen Alpha-Gesichtszüge.«

»Woher kennst du ihn?«, fragte Aaro kleinlaut. Die Omegas, die er kannte, hatten sich nie für Sport interessiert und wenn überhaupt, hatten sie nur bei hochklassigem Alpha-Sport mitgefiebert und für die stärksten, dominantesten Spieler geschwärmt.

»Ich bewundere deinen Vater sehr«, sagte Keigo und wirkte ungewohnt aufrichtig und freundlich bei diesen Worten. »Ich habe all seine großen Kämpfe im Fernsehen mitverfolgt, als ich klein war. Er hat mich inspiriert. Schade, dass er sich mittlerweile aus dem Sport zurückgezogen hat.«

»Mein Vater hat jemanden im Ring getötet«, murrte Aaro. »Deshalb hat er aufgehört.«

»Ich weiß«, rief Keigo mit funkelnden Augen. »Auch diesen Kampf habe ich gesehen. Ich war etwa 11 Jahre alt. Ah, es war so aufregend. Die geballte Kraft deines Vaters konnte man selbst durch den Bildschirm hindurch spüren, die Luft war elektrisiert. Ich fieberte mit ihm mit, vor dem Fernseher tänzelte ich seine Schrittfolgen nach. Und als sein Gegner stürzte und sich nicht mehr regte, klopfte mein Herz so wild. Ah, es war ein bewegender Moment!«

»Jemand hat sein Leben verloren! Findest du das etwa witzig?«

»In dieser Welt zählt nur Stärke«, grollte Keigo, seine Laune verschlechterte sich schlagartig. »Solltest du das als Alpha nicht am besten wissen? Dein Vater war ein Kämpfer, kein Mörder. Er hat nichts Falsches getan. Im Alpha-Sport sterben täglich Menschen. Man hat bei Orion nur überreagiert, weil er eben ein Beta war. Weil man Betas und Omegas nicht mit Stärke und Macht assoziieren darf. Du solltest stolz auf deinen Vater sein, Aaro. Er hat vielen Menschen Hoffnung gegeben.«

Aaro schnappte nach Luft und konnte seine Augen nicht mehr von Keigos ernsten, grauen Augen abwenden. Bisher hatte sich nahezu jeder Mensch von ihm abgewandt, wenn es um seinen Vater ging. Sogar Jin hatte Angst vor seinem künftigen Schwiegervater, obwohl er oft genug die sanfte Natur des Betas miterlebt hatte. Aaro hatte gespürt, dass die Menschen seinen Vater fürchteten und ihn für abnormal hielten. Und obwohl es ihm das Herz zerriss, hatte er angefangen, sich für seinen Vater zu schämen. Er erwähnte ihn Fremden gegenüber niemals und er hatte auf keinen Fall gewollt, dass die Leute an der neuen Schule und insbesondere die Vertrauten in seinem künftigen Rudel davon wussten. Aber Keigo sah die Dinge auf solch andere Weise. Ein faszinierender, einzigartiger Blickwinkel.

»Deshalb hast du meinen Kick nicht kommen sehen«, murmelte Keigo nachdenklich. »Du hast mit deinem Vater trainiert, nicht wahr? Du bist nur die Faustschläge des Boxsports gewohnt, du konntest so schnell nicht umdenken.«

»Na, jetzt wo ich weiß, dass du ein Kickboxer bist, können wir den Kampf fortsetzen«, zischte Aaro. So ein gravierender Fehler würde ihm nicht noch einmal unterlaufen. An dieser Schule erwarteten ihn keine sportlichen Wettkämpfe, das hier waren dreckige Straßenkämpfe und jedes Mittel war erlaubt.

»Ich bin weder ein Boxer noch ein Kickboxer. Ein paar Dinge habe ich mir von deinem Vater abgeschaut, aber ich habe meinen eigenen Stil.«

»Angeber«, brummte Aaro. »Na komm. Zeig mir mehr!«

Der Alpha spuckte große Töne, doch der erste, harte Tritt brannte noch immer in seinen Eingeweiden. Er versuchte sich in eine panzerharte Defensive zurückzuziehen, er würde den hyperaktiven Keigo auslaugen, würde ihn strampeln lassen, bis er keine Kraft mehr hatte und dann brauchte es nur einen einzigen beherzten Schlag, um den absurden Kampf mit dem Omega zu beenden.

Keigo kam wieder näher, Aaro versuchte seine Beinarbeit zu analysieren. Sie war einzigartig, keiner konkreten Sportart zuzuordnen, tänzelnd und federleicht. Es hagelte Schläge und Kicks, Aaro verließ sich auf sein Körpergewicht und seine Muskelbarriere, um Keigo zurückzudrängen, aber die miese kleine Ratte war zu schnell, er konnte nicht alle Angriffe blocken.

Keuchend startete er einen Gegenangriff, Keigo lehnte sich lässig zurück und duckte sich unter dem Schlag hinweg. Aaro schlug erneut zu, diesmal erwischte er Keigo und dieser sauste ungebremst zu Boden. Aaro wollte triumphieren, doch mit Schrecken musste er mitansehen, wie Keigo seinen Sturz mühelos mit einer Hand abfing und sein Bein nachzog. Ein heimtückischer Fußfeger von unten folgte.

Aaro wurde mit vollem Gewicht und in schmerzlicher Anspannung aus der Balance gerissen und landete mit einem frustrierten Aufschrei auf dem Boden.

Die Hose seiner Uniform war aufgeschrammt, seine Knie bluteten, seine Handflächen waren zerkratzt und seine Stirn blutete, als er sich mit seiner letzten verbliebenen Energie aufhievte.

Sein eingedroschener Solarplexus presste sich gegen seine Blutgefäße, fast wurde ihm schwarz vor Augen. Er würde nicht mehr lange stehen können. Wankend versuchte er sich aufrecht zu halten, was Keigo nur mit einem bösen Lächeln zur Kenntnis nahm.

»So jetzt werde ich dir und all den anderen arroganten Alphas zeigen, dass ich der Stärkere bin – selbst ohne meine mentalen Kräfte!«, schrie Keigo und stürzte sich auf Aaro. Aaro schloss die Augen. Es war eine Schande von einem Omega besiegt zu werden und doch fühlte er keine Scham mehr. Nach diesem Kampf musste er zugeben, dass Keigo tatsächlich der Stärkere von ihnen war, auf vielen Ebenen.

Doch der letzte, entscheidende Schlag streckte ihn nicht nieder. Er wartete, doch nichts geschah. Blinzelnd öffnete er die Augen wieder und sah Keigo, der keuchend auf die Knie sank.

Vorhin war er bei seiner raschen, brillanten Schlagabfolge nicht ins Schwitzen gekommen, doch nun lief ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Aaro schirmte seine Nase mit den Händen ab, als er Keigos Geruch wahrnahm. Sein unwiderstehlicher Duft war noch intensiver geworden. Was war geschehen? Hatte er sich etwa nicht mehr im Griff? Brach die Läufigkeit vollständig aus?

»Verschwinde!«, brüllte Aaro. »Geh in einen der Omega-Ruheräume bis es aufhört, schnell!«

»Nein, ich...« Keigo spannte seinen Körper an, richtete sich mühevoll und wackelig auf. Mit geballter Faust stolperte er in Aaros Richtung. »Ich werde dich vernichten!«

»Was redest du denn da?!«

Keigo schlug mit lascher Faust gegen Aaros Brust, dann rutschte er ab und hielt sich fest, hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Alpha.

»Aaro...« Seine sonst so unerträgliche, quälende Stimme war auf einmal honigweich, als er den Namen des Alphas aussprach. Seine Augen verschwammen, die harte Stahlfarbe wandelte sich zu daunenweichem Grau, seine Fäuste öffneten sich, er lehnte sich gegen Aaro und seine schmalen, zarten Finger glitten sehnsüchtig an die Wangen des Alphas.

Aaro konnte nicht anders, er saugte Keigos Duft ein. Der abstoßende, dominante Alpha-Geruch an ihm war völlig verschwunden und er roch angenehm, nicht so aufdringlich süß nach Vanille wie Jin, sondern sauber und rein, wie frischgewaschene Wäsche. Verträumt schloss Aaro die Augen und fühlte, wie seine Hände an Keigos schmale Taille glitten. Seine empfindsame Spürnase senkte sich auf Keigos weichen Nacken herab, der den himmlischen Duft verströmte. Vor seinem geistigen Auge sah er riesige, weite Wiesen, grün glühend im Sommersonnenlicht, halbtrockene, weiße Bettlaken auf langen Wäscheleinen, die sich im Wind aufblähten und tanzten. Heller, wohliger Baumwollduft, in dem noch ein winziger Hauch von salzigem Hautgeruch versteckt war, vergraben unter der Reinheit.

Er spürte, wie Keigo sich ebenfalls fallen ließ, der animalischen Anziehungskraft erlag und seine Arme in die Höhe streckte, um ihn umarmen zu können, um ihm ganz nah zu sein.

Instinktiv zog Aaro den kleinen, schützenswerten Körper an sich und spürte in der innigen Umarmung, dass sein Rivale sich anders anfühlte als andere Omegas. Sein Körper war zwar schlank, aber nicht zerbrechlich und fein, sondern von stählernen Sehnen durchzogen, fest und kompakt. Ein kleiner, verhärteter Muskelball, der sich nur für ihn erweichte.

Neugierig glitten Aaros Hände an Keigos Körper hinab. Dieses Geschöpf hatte noch nie einen Alpha an sich herangelassen? Er war noch ganz unberührt? Dieser kräftige, freche Körper flehte danach, gezähmt zu werden...

Doch ein starker Gedanke durchzuckte Aaro und zwang ihn wieder zur Vernunft: Jin.

Entsetzt schubste Aaro Keigo von sich und der Omega stürzte zu Boden. Wimmernd rieb er sich seine verletzten Handflächen und starrte wütend zu Aaro auf.

»Du blöder Arsch!«, jaulte Keigo und der plötzliche Schock schien auch ihn aus der triebgesteuerten Trance gerissen zu haben, seine Augen waren wieder klar, seine Stimme war wieder krächzig-boshaft.

»Verschwinde jetzt, los!«, brüllte Aaro, diesmal so laut und ungezügelt, dass seine Stimmbänder vibrierten. »Sonst –«

Er wagte es nicht, den Gedanken weiterzuführen. Verzweifelt presste er sich die Hände vors Gesicht, er konnte und durfte Keigo nicht ansehen, er durfte nicht einmal atmen in seiner Nähe.

Er hielt die Luft an, bis er endlich überhastete Schritte hörte und sich sicher sein konnte, dass Keigo fort war. Stöhnend ließ er sich fallen, landete auf dem Hosenboden und starrte in den Himmel.

Die weißen Wolken zogen vorbei. Wie aufgeblähte Laken sahen sie aus. Dieser Geruch, diese einprägsame, signifikante Duftnote... Noch nie hatte ein Geruch ihn so sehr betört und gelähmt.

LESEPROBE: KämpferseelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt