"Da bist du ja endlich", bemerkte meine Mutter naserümpfend.
Eigentlich war das Naserümpfen die liebste Beschäftigung meiner Mutter. Dieser etwas hageren Frau schien alles zu missfallen. Einzig und allein mein Bruder hatte es hin und wieder geschafft ihr ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Louis war jetzt schon fast ein Jahr auf seiner Studienreise und langsam bekam ich das Gefühl, dass er auch nicht zurückkommen würde. So wie er damals abgereist war und mein Vater ihn behandelt hatte, war dies aber auch kein Wunder.
"Ich dachte schon du fängst gleich wieder eine Szene an", murmelte meine Mutter so lange wir noch auf die Ankunft des Gastes warteten.
Meine Mutter schien mich nie wirklich gemocht zu haben. Seit ich mich erinnern konnte, konnte ich mich nur an ihre endlosen Tadeleien erinnern. Oder ihr Naserümpfen. Ich wollte gerade eine Antwort geben, als es plötzlich an der Tür läutete. Unsere Haushälterin Lucille öffnete die Tür und ein braunhaariger junger Mann kam herein. Er war in einen dunkelblauen Wrack gekleidet und hielt in seiner linken Hand einen bunten Blumenstrauß.
"Bonjour Madame Lefèvre", er verbeugte sich leicht vor meiner Mutter und küsste ihren Handrücken.
"Bonjour Jaques, das hier ist meine liebreizende Tochter Madeleine", säuselte sie und schob mich mit ihrer Hand etwas nach vorne.
"Bonjour", gab ich etwas widerwillig von mir.
Jaques reichte mir den üppigen Blumenstrauß und lächelte mich an. Ich brachte mich nur schwerwillig dazu sein Lächeln zu erwidern.
Wieder ein Heiratskandidat? Konnte meine Mutter nicht endlich Ruhe geben?
"Würdet ihr es mir gestatten eure Tochter in den Park auszuführen?", fragte er charmant.
"Aber natürlich. Madeleine würde sich freuen, nicht wahr?"
Merkten sie denn beide nicht, dass ich anwesend war? Das man ganz normal mit mir reden konnte? Das ich auch ein Mensch war, wie die beiden auch?
Meine Mutter sah mich fragend an. Ich räusperte mich kurz und nickte dann.
Wenigstens würde ich im Park das herrliche Wetter genießen können.
Jaques streckte mir seinen Unterarm entgegen damit ich mich einhacken konnte. Zuvor hatte ich noch den Blumenstrauß meiner Mutter gegeben, aber ich wusste jetzt schon, dass sie ihn bestimmt in ihre Garderobe stellen würde.
"Was tut ihr in eurer Freizeit, Mademoiselle?"
Soll ich ihn anlügen oder lieber seine komplette Weltanschauung ins Wanken bringen?
"Ich lese gern", äußerte ich kühl.
"Und was, wenn ich fragen darf?"
Also doch die komplette Weltanschauung zerstören...
"Ich lese gerne literarische Werke über die Humanmedizin. Am liebsten von Freud oder Virchow"
Jaques brach in schallendes Gelächter aus. Er löste seinen Unterarm von mir um sich eine Träne aus den Augenwinkeln zu streichen.
"Freud?", kicherte er, "Sie verstehen, doch nicht einmal die Zusammenhänge in der Medizin"
Ich blickte ihn entgeistert an.
Ich? Die Zusammenhänge nicht verstehen? Für wen hielt sich dieser Mann denn?
"Wie meinen?", hakte ich fassungslos nach.
"Naja Frauen sollten doch nicht Freud lesen oder? Ich denke da gibt es wichtigere Werke für sie wie zum Beispiel...wie heißt es noch gleich...Stolz und Vorurteil? Frauenlektüre eben"
"Sie meinen ich könne Bücher wie Freud nicht lesen, weil ich eine Frau bin?" vergewisserte ich mich mit immer mehr Wut in meiner Stimme.
"Aber natürlich, das Gehirn von Frauen ist einfach nicht für so welche Dinge entwickelt. Deshalb gibt es auch nur männliche Ärzte und außerdem was hat schon eine Frau in der Medizin zu tun außer sie ist Krankenschwester?"
Völlig perplex starrte ich diesen jungen Mann an. Jegliche Sympathie, falls sie überhaupt da gewesen war, wich in diesem Augenblick.
Das konnte, doch wirklich nicht sein Ernst sein oder?
"Jaques, wenn ich eure Frau werden würde...wie würde dann mein Leben aussehen?", fragte ich provozierend.
"Also euch würde natürlich an nichts mangeln schließlich bin ich sehr wohlhabend. Während ich mich um die geschäftlichen Dinge kümmern würde, die natürlich auch nur mich den Herrn des Hauses etwas angehen, könntet ihr nach neuen Kleidern schauen oder Bälle organisieren. Oder ihr trefft euch mit anderen Damen unserer Gesellschaft und ihr könntet lesen. So viel ihr wollt natürlich keine männliche Lektüre, die ihr ja bisher gelesen habt, aber so lange ich es euch erlaube, hättet ihr keine Grenzen. Und natürlich wäre eure wichtigste Aufgabe sich um unsere Kinder zu kümmern"
Ich bin also nur gut genug für ihn um ihm Kinder zu gebären. Ich würde Leben wie ein Vogel in einem goldenen Käfig.
"Ich glaube ich muss gehen", log ich.
"Aber", fing Jaques an.
"Nein", rief ich, "Ich kann nicht eure Frau werden, sucht euch jemand anderen. Adieu"
Ich drehte mich um und rannte davon. Dabei ließ ich nicht schon zum ersten Mal einen völlig entsetzten jungen Mann stehen.
Wie kann man nur so eingebildet sein? Dachte er wirklich, dass ich nach so einem Gespräch wirklich die Hoffnung hegte ihn heiraten zu wollen? Dass ich ihm Hals über Kopf verfallen war?
Bei diesem Gedanken musste ich kichern.
Kein Mann würde mir je den Kopf verdrehen können so lange ich mir nicht sicher war, dass ich von ihm nicht eingeschränkt werden würde. Niemals.
Während ich so durch die großen Birkenalleen in Richtung unseres Anwesens lief, schweiften meine Gedanken wieder zu meinem Bruder.
Wie es Louis wohl so ging? Dort am anderen Ende der Welt? Wo wollte er eigentlich nochmal hin?
Langsam wechselte der schlammige Boden der Alleen zu den bekannten Straßen. Rechts und links erstreckten sich große Anwesen die durch hohe Zäune getrennt waren. Die Sonne, die während des kurzen Spazierganges noch schien hatte, tauschte jetzt ihren Platz mit dicken Wolken. Man hörte Kinder toben und rufen, die Bauern und Verkäufer verhandeln, es herrschte geschäftiges Treiben in den Straßen.
Vor unserem grauen Anwesen mit großen weißen Fenstern angekommen, bemerkte ich eine große Kutsche, die direkt vor dem Eingang stand.
Konnte das vielleicht Louis sein?
Ich schritt durch das eiserne Tor, welches mit grünem Efeu bewachsen war und hielt nach meinem großen blonden Bruder Ausschau. Stattdessen kam ein junger ebenfalls blonder Mann mit einem charmanten Lächeln auf mich zu.
"Wenn ich mich vorstellen darf", begann er ohne Umschweife, "Meine Name ist William Harrington"
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Madeleine (früher die Tochter des Chirurgen)
Historical FictionUnschlüssig was ich jetzt die nächsten Jahre meines Lebens noch tun solle, begab ich mich wieder in den Flur um mich heimlich in die Bibliothek meines Vaters zu schleichen als mir plötzlich William über den Weg lief. Ohne ihm jegliche Beachtung zu s...