LIEBE AUF DEN HUNDERTSTEN BLICK
Die Nässe auf der Scheibe wurde immer dicker, der Himmel immer dunkler. Sie war in einer ganz anderen Welt, fuhr sich verwirrt durch ihr braunes glänzendes Haar, bis sie auf einmal aus dieser Welt hinausgerissen wurde. Vor ihrem Gesicht, hinter der Scheibe, tauchte ein Junge auf. Sein Blick war ernst, seine Augen durchstocherten gefühlt ihren Körper. Aus seinem Mund stieß Luft heraus, sichtbar, Mary erinnernd an einen Horrorfilm, bei dem so die Seelen die toten Körper verließen. Wahrscheinlich hätte sie sich erschrocken, hätte sie diese Person nicht gekannt - doch sie kannte sie. Obwohl es ein Fremder war, hatte sie ihn schon bestimmt hundertmal gesehen, mal im Café, mal außerhalb des Cafés. Jedes mal musterte er sie von oben bis unten, wenn Blicke ausziehen könnten, hätten sie es getan, da war sie sich sicher. Wahrscheinlich einfach ein notgeiler Typ, jemand der hoffte, sie herumzubekommen. Oder jemand der auf Wolken mit ihr schweben möchte, "Oh man, oh man", dachte sie laut. Jedes Mal, wenn ihr Blick auch seinen traf, wandte sie sich ab und ignorierte ihn, aber heute gelang es ihr nicht. Sie konnte nicht wegschauen, vielleicht weil sie heute eine schon beunruhigende Nähe zwischen den beiden verspürte. Kein Wunder bei den nur paar Millimetern Glas, die die beiden trennten.
Mary's Gliedmaßen wurden von Sekunde zu Sekunde steifer, so steif wie die Position des Typens vor ihr. Er bewegte sich nicht, als wäre er nur körperlich aber nicht psychisch anwesend. Obwohl ihr die ganze Situation unheimlich vorkam, unheimlicher als sonst, passierte noch etwas anderes. Es wurde ihr warm ums Herz, als würde jemand mit einer gut durchbluteten Hand ihr Herz greifen und umarmen. Sie merkte, wie ihr ein Lächeln auf den Lippen entglitt und nun bewegte auch er sich. Er strich sich eine tropfende Haarsträhne von der Stirn und sah dabei schon attraktiv aus, so hatte Mary ihn nie wahrgenommen. Sie konnte gar nicht reagieren, bevor er schon einen Gang einsetzte und wegging. Während ihre Augen ihm folgten bemerkte sie, wie ein kleiner gelber, zerknüllter Zettel aus seiner Hosentasche auf den Gehweg fiel. Zuletzt war sie so schnell aufgesprungen, als sie die gute Note ihrer letzten Hausarbeit auf dem Tisch liegen sah und sich vor Freude nicht einkriegte.
Der strömende Regen traf sie wie ein Blitz während sie aus dem Café rannte, in der Angst jemand würde ihr den gelben Zettel wegnehmen. Sie schnappte und steckte ihn in ihre rechten Jackentasche, denn öffnen wollte sie ihn doch erst in Ruhe. Dennoch schwirrten ihr die ganze Zeit Gedanken durch den Kopf, ob dies ein Zeichen oder vielleicht sogar geplant sei.Universität, nach der Pause...
Nach dieser besonderen Begegnung führte ihr Weg wieder in die Uni. Sie saß in der letzten Reihe des Vorlesungsraum und obwohl sie die fleißigste Studentin des Jahrgangs war, war sie heute unaufmerksamer denn je. In ihrer Jackentasche spielten ihre Finger unkontrolliert mit dem nassen Zettel rum und dann lag er schon vor ihr, als würde er sie zwingen ihn zu öffnen. Sie konnte nicht anders und tat es:
Nächstes Mal können wir gerne auch miteinander reden, nicht uns nur anschauen.
Die Wörter stießen durch sie wie Kugeln einer Pistole. Wahrscheinlich weil sie einen Schauer verspürte, denn der Junge musste wissen, dass sie sich heute wieder sehen und hatte den Zettel vorbereitet. Andererseits empfand sie einen Reiz an der Sache, ein geheimnisvoller Typ fand sie scheinbar gut, den sie ebenfalls nicht abtörnend fand... STOPP. Sie ertappte sich selber beim schweben in Gedanken, war sie die nächste die auf Wolke 7 flog? Oh nein, sie schüttelte wild den Kopf, als würde sie ihre Gedanken so entfernen wollen.
Die restliche Zeit der Vorlesung wusste Mary selber nicht wohin mit sich und war unendlich froh, als der Professor das Ende des heutigen Tages verkündete.
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Wolke -7
Mystery / ThrillerMary's Freunde schwebten alle auf der sogenannten Wolke 7. Verliebt, glücklich, euphorisch. Doch für sie gab es diese Wolke nicht, sie fühlte sich wie auf Wolke -7. Ihr Freund, ein Psychopath, jung und verloren. Mary war mit in sein dunkles Loch ger...