Verdammte Scheiße

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6:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Nicht die kleinste Bewegung unter der Bettdecke.
6:30 Uhr. Der Wecker wiederholt seine Bemühungen. Es tut sich langsam was unter der mobilen Baumwoll-Isolation, aber die erwartete Reaktion bleibt aus.
7:00 Uhr. Ein weiterer Versuch des Weckers sein Schicksal zu erfüllen. Der Körper unter der grau-weißen Decke erhebt sich halb und streckt seinen Arm zum mutigen Wecker. Kurz vor sanfter Berührung der beiden Parteien schnellt der sich zuvor langsam bewegende Arm nach oben und donnert mit brachialer Kraft auf den wehrlosen Apparat herab. Der kleine Wecker wollte es bisher nicht wahr haben, aber tief in seinem inneren wusste er, dass er auf diese Art und Weise sein Ende finden würde. Ermordet von seinem eigenen Meister, aufgrund des Auftrages den gerade dieser ihm gab. Dank hatte er nie erwartet für seine fleißig erledigte Arbeit, jedoch Respekt. Der Wecker Begriff in den letzten Momenten seines Lebens, dass genau dies von Anfang an sein Schicksal war und er war bereit seinem Schöpfer entgegen zu treten. Ein letzter Hauch von Stolz seiner steht's einwandsfreien Arbeit wegen, erfüllte die Maschine ein letztes Mal, als die offene Hand auf ihn nieder ging.
KRRAACH
Er hatte keinerlei Chance.
Der eben noch im Halbschlaf gefangene Archi Riss nun seine Augen weit auf und ließ einen schrei Bestien artigen außmaßen von sich. Ein kurzer Blick auf seine Hand bestätigte was das das tropfende Geräusch am Boden bereits befürchten ließ. Der Wecker ist nicht Kampflos ins Nirvana über gegangen und eines der kleinen Metallteile hat einen schönen Schnitt hinterlassen. Einmal quer die Handfläche entlang. Das Blut tropfte bereits fröhlich eine Lache formend auf den braunen Laminat neben Bett und Nachttisch.
"Verdammte Scheiße!"
Stieß das Exemplar der Spezies, welche an der Spitze der Evolution steht und gerade seinen 12€ Wecker, zwar nicht ohne selber Schaden zu nehmen, aber trotzdem mit höchster Präzision, aus dem Leben geprügelt hatte, von sich.
Archi blickte, nach dem er sich vollends aufgesetzt hatte verdutzt seine stark blutende Hand an. Er spürte das Pochen bis über den ganzen Unterarm. Der nächste Blick galt dem nun verschiedenen Wecker, mit dem Ziel ihm die Uhrzeit zu entlocken. Also der Stunden Zeiger zeigte auf dem leicht geknickten Ziffernblatt eindeutig auf die Vier, aber der stark abgeknickte Minutenzeiger zeigte, wenn man der Spitze des Zeigers glaube auf die 8. Wo der Sekunde Zeiger hin verschwunden war, wusste Archi nicht und das war, obwohl ihn der Gedanke kurz beschäftigte, gerade nicht von Relevanz. Nun richtete sich der Vollstrecker der terrorisierenden Maschine auf und ging mit der unverletzten Hand bestmöglich das Blut auffangend zum erste Hilfe Kasten in der Küche, um sich seinen Kriegsverletzungen anzunehmen. Der kurze Blick auf die Uhr in der Küche sagte Archi nicht nur, dass es tatsächlich 7:06 Uhr war, sondern auch das der Wecker auch noch im tot ein Lügner war. "Verdammt", dachte sich Archi, als er sich die Hand verbund,"ich komme viel zu spät zur Arbeit und jetzt noch die Scheiße". Tief Durchatmen und die Gedanken Ordnen. So hatte er sich schon lange angewöhnt in stressigen Situationen vorzugehen. Er würde sich nun anziehen, seine Kurzreise-Utensilien, alias Portmonee, Schlüssel, Handy und Armband Uhr packen und die Wohnung verlassen. Unterwegs würde er sich dann telefonisch bei seinem Chef melden und sich eine Ausrede ausdenken, warum er Mal wieder ne Stunde zu spät sein würde. Den Wecker würde er Abends Verpacken um ihn hoffentlich zum Umtausch beim Hersteller einschicken zu können. Zum Glück war Freitag und er müsse sich daher nicht heute noch einen Ersatz anschaffen um morgen früh aus den Federn zu kommen.
Wie er es sich vor seinem inneren Auge ausgemalt hatte, so ging er auch vor. Ein paar Dinge funktionierten beim fertig machen zwar nicht so reibungslos mit schmerzend pochender Hand und dickem Verband drum, aber er war wieder mal erfolgreich. Das waren nun zwei Erfolge an diesem jungen Tage, er hatte den Japanischen Wecker, der seinen Nachttisch besetzt hatte besiegt und sich mit verletzter Hand bekleidet und in Bad halbwegs frisch gemacht. Eine bessere Bilanz als an den meisten Tagen, dachte sich Archi zynisch, als er das Treppenhaus, welches sich hinter seiner Wohnungstür verborgen hatte, hinunter stolperte. Nur in einem Stockwerk unterließ er es zu hetzen, um bloß nicht zu viel Lärm vor der Tür von Mister und Misses Norres zu machen. Diese beiden wollte man nicht gegen sich aufbringen. Allein ihre Blicke stachen wie Messer und wie die Messersammlung, die von Schweizer Taschenmesser bis zu Busch-Messer reichte, welche in einer riesigen Vitrine im Flur der beiden stand stachen, wollte Niemand erfahren. Die beiden waren zwar schon Recht in die Jahre gekommen, aber das linderte ihre Bedrohlichkeit kein bisschen. Im Gegenteil, sie wirkten noch unangenehmer und noch unberechenbarer. Jeder nahm sich vor den beiden in Acht. Selbst die Babys im Haus hörten auf zu schreien, wenn sie an der Tür der beiden Vorbei kahmen. Wenn die beiden mit Treppendienst dran waren, hatte jeder bereits vor seiner eigenen und auch vor der Tür der beiden alles picobello sauber gemacht. Der 4 Stock war für viele Hausbewohner so unheimlich wie eine verlassene Burgruine, oder ein dichter Wald bei Nacht. Archi war da keine Ausnahme. Im dritten Stock angekommen ging das gerenne von Archi wieder los. Innerhalb weniger Momente brach er durch die schwere Haustür in die kalte Außenwelt. "Was war das nächste auf der Liste?", dachte er laut, während er zu Fuß in Richtung der nächsten Straßenbahn Haltestelle ging. Er hatte zwar ein Auto, aber sein uralter Polo sprang nicht mehr an. Es war wahrscheinlich die Zündung. Ahnung hatte Archi keine von Autos und er konnte es sich weder leisten in eine Werkstatt zu fahren, noch mit seinen unterirdischen Handwerkstalent selber Hand anzulegen. Die Bahn war also seit gut 4 Monaten die einzige Möglichkeit für ihn von A nach B zu kommen.
Es fiel ihm wieder ein. Der nächste Schritt war es, seinem Chef eine glaubhafte Story zu verkaufen, warum er zu spät komme. Es war ein scheiß Job, mit einem scheiß Chef. Wenn er könnte würde er einfach kündigen, aber es war der beste Job, den er bekommen konnte. Archis Blick war starr auf die Bahnhaltestelle gerichtet, die noch etwa 100 Meter entfernt war. Es wurde Zeit, langsam musste er endlich den Anruf tätigen. Mutig zog er sein Handy aus der Hosentasche, wie ein ängstlicher Ritter sein Schwert, wenn er einem Drachen gegenüber steht. Die Kontaktliste wurde durchforstet, der Anruf eingeleitet und das Gerät am Ohr justiert. Es wählte. Ein kurzes Klick Geräusch und eine unangenehme Stimme ertönte. Schlecht gelaunt, aggressiv, verraucht und angetrunken, so hörte sich Marzini, ein 50 jähriger Italiener, normalerweise an, doch heute aus irgend einem Grund nicht. Er klang sanft und freundlich. Da war eindeutig Böses im Busch, "Hey Micho, wo steckst du? Du solltest seit 15 Minuten arbeiten. Was ist los?". Der Moment der Wahrheit, hatte Archis Unterbewusstsein sich besser vorbereitet auf diese Frage, als sein Bewusstsein, oder würde er in wenigen Momenten nur sinnlose Worthülsen von sich geben? Archi war inzwischen an der Haltestelle angekommen und zwang sich zu einer Antwort. "Ich habe die Bahn verpasst und komme jetzt mit der nächsten, ich werde in circa einer halben Stunde da sein". Nun ja. Das war nur mittelgut, aber vielleicht reichte es ja. "Und warum hast du die Bahn verpasst? Hör auf dich raus zu reden! Du unzuverlässiger ...!". Die Nettigkeit war nun wieder verschwunden und die rauchige Stimme war nun für ein halb italienischem halb deutschem Gefluche zurückgekehrt. Das Gebrüll nahm kurzweilig eine derartige Lautstärke an, dass Archi das Handy weiter von seinem Ohr weg halten musste. Der junge Mann der als einziger noch an der Haltestelle ist und gemütlich auf der Bank sitzt, wirft Archi einen leicht erstaunten, aber auch ziemlich amüsierten Blick zu, während Archis Miene erst immer gleichgültiger wird und dann immer genervter. Wortfetzen durchstreifen die sonst ruhige Haltestelle, vom Handy ausgehend. "...dreckiger....Dormiglione....feuern....stronzo....!" Moment mal. Hat er gerade was von feuern gesagt? Plötzlich hatte sich Archis Gesichtsausdruck in eine eine erschrockene Fratze verwandelt. Er würde ihn doch nie so einfach rauswerfen ohne einen Ersa... Da begriff Archi, dass genau das der Fall war. Der alte Marzini hatte jemand neues da und wollte genau wie bei ihm, damals als er angefangen hat, den netten und guten Chef spielen, zumindest so lange wie möglich. Nach diesem Ausraster jedoch, ist die Maske wahrscheinlich gefallen. Archi war sich nun ziemlich sicher, dass er nun gefeuert ist und nicht mehr erscheinen bräuchte. Gerade als der Gedanke sich in Archis Gehirn brannte, wurde es von der rauchigen Stimme am Telefon bestätigt, "du brauchst nicht mehr kommen! Gar nicht mehr. Vaffanculo!". Aufgelegt. "Verdammte Scheiße" sagte Archi leise in sich selbst hinein. "Warum so betroffen? Wolltest du bei so einem Chef tatsächlich noch arbeiten?". Fragte eine vergnügte Stimme von der Bank aus. Archi guckte sich den Typen erst jetzt wirklich an. Er trug eine braune Lederjacke, ein simples schwarzes T-Shirt drunter und eine Blaue Jeans. Sein Kopf von einer Schwarzen Mütze bedeckte und um seinen Hals war ein roter Schal gewickelt. Ein dickes Grinsen zog sich durch sein Gesicht, doch etwas stimmte an dem Gesamtbild einfach nicht. Sein rechtes Auge war gerötet und Tränen zierten seine rechte Wange, welche er jedoch recht schnell weg wischte. Archi setzte sich nun neben den Typen und antwortete mit starren Blick nach vorne, "Wollen ist nicht die Frage, ich muss. Ich bin jetzt schon am Arsch, wie soll ich ohne Job auskommen?" "In der Theorie ganz einfach, mit einem besseren Job. In der Praxis ist das zwar schon was anderes, aber im Prinzip genau so simpel." Verwundert landete Archis Blick nun auf dem Gesicht des fremden, welcher ihn mit einem Lächeln direkt in die Augen guckte, sobald sich ihre Blicke trafen. Er guckte keine Sekunde wo anders hin, während Archi das Gesicht seines Sitznachbarn immer wieder nach einem anderen Blickpunkt ab suchte um dem Blickkontakt zu entkommen.
"Wer bist du eigentlich?" Fragte Archi in einem sehr perplexen Tonfall, welcher sein Gemüt perfekt wieder spiegelte. "Wer ich bin ist doch gerade scheiß egal. Du bist gerade interessant. Warum hast du ihm eigentlich nicht die Wahrheit oder ein Teil der Wahrheit erzählt?". Wer war dieser Kerl? Er antwortete ohne zu zögern mit einer selbstsicheren Ausstrahlung die Archi zuvor nicht kannte. "Was weißt du denn davon warum ich zu spät bin?" Archi war klar, dass der Kerl alles was er am Telefon sagte mitgehört hatte und auch alles was Marzini sagte ohne Probleme hören konnte und daher wusste, dass er spät dran war, doch was glaube der Typ denn zu wissen? Hilt er Archi für einen faulen Nichtsnutz, der einfach verpennt? Das ist zwar im Prinzip schon wahr, aber nur weil Marzini selber ihn zu Doppelschichten zwang und er deshalb kaum schlafen konnte.
"Erzähle ihm doch einfach, dass du dir deine Hand heute morgen geschnitten hast und du erst die Wunde versorgen musstest, weil sie blutet wie Sau."
"Woher willst du wissen, dass die Wunde nicht schon älter ist?"
Langsam nerve es Archi, dass der Typ so redete, vor allem weil seine Idee genial war. Er hätte eine Ausrede, mit Beweis und müsste eigentlich nichtmal wirklich lügen. Trotzdem wollte er den Fremden jetzt mit seiner Frage zum schweigen bringen. Dafür würde ihm nichts mehr einfallen.
"Weil der Verband inzwischen durch geblutet ist und es auf den Boden tropft." Das entsprach der Wahrheit. Die worte "Verdammte Scheiße" flogen wieder mal durch Archis Kopf, als der Blick auf seine pochende Hand, welche auf seinem Oberschenkel ruhte, bestätigte, was der Fremde gerade sagte.
Archi schloss die Augen und atmete einem Tief ein und aus. Die Frustration an diesem Morgen machte ihm langsam echt zu schaffen. Plötzlich spürte Archi, wie sich jemand an seiner verletzten Hand zu schaffen machte. Der Fremde hatte seinen Schal ausgezogen und ihn fest um den, um es nett auszudrücken, provisorisch aussehenden Verband gewickelt.
"Was machst du da?"
"Der Verband ist zu locker. Vielleicht stoppt das die Blutung"
"Warum nutzt du dafür deinen Schal? Was soll der scheiß?"
"Heute habe ich mir leider keine Verbände in den Arsch geschoben, die ich jetzt hervor zaubern kann. Bereue ich jetzt zwar, aber so ist das Leben"
Archi erstaunte es, wie dieser random Typ ihm, obwohl er gerade gefeuert wurde, ein Lächeln auf die Lippen bringen konnte. Außerdem wie selbstverständlich er ihm versuchte zu helfen, obwohl sich Archi bisher wie ein Arsch aufgeführt hatte.
"Jetzt ernsthaft. Wer bist du?"
"Nenn mich Pfeifer",antwortete er lächelnd und reichte Archi die Hand, "und wie heißt du?"
"Ich bin Archi"
"Archi? Wie waren deine Eltern den drauf? Wie ist die Langform?"
Archi entwich ein kurzes lachen, "Archimedes. Nach dem Mathematiker. Ich habe keine Ahnung was die beiden sich gedacht haben. Meine Schwester heißt Artemis, wie die Göttin". Beide lachten. Es trat kurz Schweigen zwischen den beiden ein, welche von Pfeifer durchbrochen wurde, mit einem fetten Grinsen sagte er, "Du Archi, wie fühlt es sich eigentlich an, so glücklich zu sein?". Archi begann wieder lachen. Als sich eine Bahn der Station nährte, erhob Pfeifer sich und packte einen Rucksack unter der Bank, den Archi bisher nicht gesehen hatte. "Vielleicht treffen wir uns irgendwann mal wieder." Sagte Archi erstaunlich vergnügt für seine aktuelle Situation. "Was redest du?", Pfeifer blickte Archi fragend an, "wo willst du hin? steig ein, wir suchen dir einen besseren Job. Ich dachte dass wäre jetzt der Plan". Auch wenn Archi sich jetzt eigentlich gedacht hatte, sich wieder hin zu legen, weil er jetzt ja nicht mehr zur Arbeit musste, machte der Plan seines neuen bekannten schon irgendwie Sinn, doch ein kleines Problem sah er mit dem Plan doch noch. "Soll ich einfach in einen Laden oder ein Café oder so rein marschieren und ohne Bewerbung, Zeugnis, oder ähnliches darum bitten mich einzustellen?"
"Nun ja, vorerst nicht", Auf dem Gesicht von Pfeifer bildete sich wieder ein großes Grinsen, "Ich glaube ich kenne einen Laden, der dich sofort nehmen wird." Die beiden stiegen in die Bahn und das eiserne Massengepferd jagte Richtung Innenstadt.

PfeiferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt