Kapitel 1

12 2 0
                                    

Das Klingeln der Schulglocke erlöste uns alle von diesem anstrengenden Dienstag. Endlich hatten wir frei. Gelassen liefen Paul, Fabio und ich auf die große Eiche auf der Wiese zu. Sie stand laut unserem Biologielehrer schon viele Jahre auf dem Schulgelände. Auf uns warteten bereits Michelle, Saskia und Wibke. Sie alle starrten gerade auf Michelles Handy als wir unter die Äste traten.

„Hi!“, begrüßte Fabio die Mädchen und guckte über Wibkes Schulter. „Was ist denn so interessant?“

„Michelle chattet gerade mit Clément!“, meinte Saskia und ich hätte mir am liebsten die Ohren zu gehalten, so hoch war ihre Stimme.

„Wer ist den Clément?“, fragte ich.

„Mein Austauschschüler aus Frankreich!“, antwortete Michelle genervt, anscheinend hätte ich dies wissen müssen. „Du weißt doch, dass die Austauschschüler in einer Woche aus Marseille kommen. Das hab ich die schon vor langer Zeit gesagt und du hast versprochen, dass er in dieser Zeit überall mit hin kommen darf, wo wir auch hingehen und das er uns auch helfen kann wenn er will.“

Verdutzt schaute ich sie an und versuchte mich daran zu erinnern. Doch vergebend, mir fiel dieser Moment nicht mehr ein. Saskia seufzte und legte mir die Hand auf die Schulter.

„Du hast es vergessen, was?“, fragte sie und ich nickte beschämt.

„Aber wenn ich das gesagt habe, dann halte ich mich auch daran. Aber dennoch bist du dann für ihn verantwortlich, wenn etwas schief geht“, meinte ich schließlich.

„Wie lange bleibt der Typ den hier?“, fragte Paul.

„Vier Monate. Also haben wir genügend Zeit ihm ganz Hamburg zu zeigen!“, grinste Saskia vergnügt und ich wusste sie hatte einen Hintergedanken dabei.

Schließlich setzten wir uns langsam in Bewegung. Wir gingen zur Bushaltestelle und fuhren die gewohnten 13 Stationen zu dem alten verlassenen Grundstück, welches wir zu unserem Eigentum gemacht hatten. Das Gelände war wie gesagt verlassen. Hier stand lediglich die alte Kapelle und der darunter liegende Bunker. Der Bunker war aus dem zweiten Weltkrieg, soweit wir wussten, und die Kapelle war erst danach gebaut worden. Bevor unsere Bande das letzte Versteck verlassen mussten, da das Gebäude gesprengt werden sollte, hatten in dieser Kapelle Obdachlose Schutz vor Wetter und Nacht gefunden. Davor sollte diese Kapelle sogar mal wirklich im Betrieb gewesen sein. Ein alter Priester hatte sie errichten lassen, um für die Menschen nach dem Krieg einen Zufluchtsort zu hinterlassen. Doch da niemand irgendetwas in die Kirchenkasse gezahlt hatte war sie wohl ziemlich schnell aufgegeben worden. Schließlich haben wir sie vor drei Jahren entdeckt. Die Obdachlosen haben wir vertrieben und nun war es zu unserem Versteck geworden. Zwischendurch hielten sich auch ein paar Asylsuchende oder Flüchtlinge in dem oberen Teil, der Kapelle, auf, doch zu uns nach unten in den Bunker durfte niemand Fremder.

Zielstrebig gingen wir zu dem Loch in dem alten Zaun. Dieses Loch bestand aus einem verdrehbaren Holzbrett, mit denen der Zaun, der uns eigentlich von dem Betreten abhalten sollte, errichtet worden war. Wir klappten also das Brett beiseite und huschten unbemerkt einer nach dem anderen auf die andere Seite. Früher war der Garten vor und hinter der Kapelle bestimmt mal gepflegt gewesen, doch jetzt wucherten die wildesten Blumen und Unkräuter zwischen dem knöchelhohen Gras. Durch den kleinen Seiteneingang gelangten wir in die Kapelle. Als wir sie damals entdeckt hatten, hatten wir beschlossen, den vorderen Haupteingang nicht auf zu brechen. Den dieser war mit einer Eisenkette und einem dicken Schloss versehen und ab und zu kamen hier auch Polizisten auf Streife entlang. Und als man die Kapelle für immer geschlossen hatte, musste mal wohl die beiden Seiteneingänge vergessen haben, den diese hatten nur, wie jede andere, normale Tür, ein einfaches Türschloss, welches sich leicht von uns knacken ließ.

Von innen sah die Kapelle nicht viel besser aus als von außen. Staubige, alte Holzbänke füllten den kleinen Raum. Am Kopf war eine Tribüne, auf dem wahrscheinlich der Pastor früher gestanden hatte, und im Hinteren Teil auf einer Empore hing die rostige Orgel. Wie der man die mit so wenig Geld herbeigeschafft hatte, war mir schleierhaft, aber es war sowieso egal, denn das Instrument funktionierte nicht mehr. Wir hatten es ausprobiert. Hinter der Tribüne, mit dem Tisch auf dem das übliche Kreuz mit Jesus stand, war eine Tür. Dort hinter befanden sich die Treppen in den Turm und nach unten in den Bunker. Wir liefen die Treppen hinunter und wurden sogleich in ein warmes Licht gehüllt. Außerdem roch es nach Pizza und Fritten. Frank hatte mit den anderen wohl mal wieder etwas Verpflegung geholt.

Und so war es auch, als wir in dem Hauptraum des Bunkers, den größten Raum hier unten, saßen dort schon Frank und Heike mit den anderen des Versorgungsteams und vergnügten sich gemeinsam mit ein paar aus der anderen Teams. Ja, unsere Bande war in Teams eingeteilt. Natürlich halfen wir uns unabhängig davon auch so bei allen möglichen Dingen. Doch die Einteilung der Teams war schon immer so gewesen, seit der erste Anführer diese Gruppe für uns Gleichgesinnten gebildet hatte. Seitdem war viel passiert, dieses System hatte sich bewehrt und ich sah keinen Sinn darin es jetzt zu ändern. Als die Anwesenden uns sechs bemerkten hörten sie auf zu Essen und begrüßten uns.

„Hey, Jonas!“, rief Constantin. „Wir dachten schon, heute kommt keiner mehr.“

„Das du das dachtest, liegt wahrscheinlich daran, dass wir heute 'ne Stunde früher Schluss hatten“, meinte Melvin und klopfte Constantin auf die Schulter.

„Ich weiß ja, dass mein Zeitgefühl echt mies ist. Danke, das brauchtest du mir jetzt nicht verklickern“, entgegnete Constantin.

„Hey, hey, es ist gut ihr beiden“, fuhr Lotte dazwischen, die gerade aufgestanden war, um ihre Freundin Wibke zu umarmen. Die beiden kannten sich schon sehr lange. „Und gibt 's was neues bei euch?“

„Ja, Michelle hat endlich wieder Kontakt mit Clément gehabt“, sagte Saskia und daraufhin zogen sich die Mädchen in den benachbarten, kleineren Raum zurück. Nun blieben nur noch wir acht Jungs übrig; Paul, Fabio, Constantin, Melvin, Malte, Sven, Tim und ich. Ich kündigte ihnen schon mal an, dass ich etwas mit allen zu besprechen hätte. Denn das was mir auf dem Schulweg heute morgen passiert war, ging allen in dieser Gruppe etwas an. Natürlich konnte es nichts bedeuten, doch wenn dem Nicht so wäre, konnte dies auch starke Konsequenzen mit sich bringen. Daher warteten wir bis nach und nach auch der Rest eingetrudelt kam und sich ein Kissen schnappte oder es sich auf den alten, von Motten zerfressenden, Sofas gemütlich machte. Wir holten die Mädchen aus dem Nebenraum und alle sahen mich erwartungsvoll an.

Der Köhlbrandbrücken-KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt