Ich wurde durch ein lautes, wütendes Schreien meiner Mutter geweckt. Ich konnte nicht hören was sie schrie, dafür war ich noch zu müde. Genervt drehte ich mich gähnend in Richtung meines Weckers. Er hatte noch nicht geklingelt. Kein Wunder, ich konnte noch fünf Minuten weiterschlafen, wenn ich wollte. Doch da ich wusste, dass das nichts bringen würde, klappte ich die Decke um und stand langsam auf. Schlurfend ging unseren knartschenden Flur entlang. Der Holzboden war eiskalt unter meinen nackten Füßen. Je näher ich der Küche kam, desto besser konnte ich meine Mutter verstehen. Diese schrie nämlich gerade meine Schwester an. Anscheinend war meine Mutter mit dem falschen Fuß aufgestanden und dass Luisa ihre heiße Schokolade auf dem Boden verstreut hatte, brachte nicht wirklich etwas Positives zur Hebung der Stimmung bei.
Luisa ist meine jüngere Schwester. Wir sind ungefähr acht Jahre auseinander. Neben ihr und meiner Mutter, habe ich keine weiteren Familienangehörigen. Die Eltern meiner Mutter sind schon lange verstorben, damals war ich noch ein Kleinkind und hab im Sandkasten gespielt. Tja, und mein Vater hat uns wenige Wochen nach der Geburt meiner Schwester verlassen. Schon ich war ein Unfall gewesen, doch er und meine Mutter hatten versucht das beste aus der Situation zu machen. Als dann Luisa kam, war die Geduld meines Vaters zu Ende und er ist ohne ein Wort gegangen und hat die weitere Erziehung von uns Kindern meiner Mutter überlassen. Da ich schon sechs war konnte ich ein paar Dinge meiner Mutter abnehmen, aber schließlich musste ich auch in die Schule gehen, was ich sehr gerne hätte sein lassen wollen, doch das wollte meine Mutter nicht. Also haben wir einige Jahre uns mit dem Geld vom Staat auf den Beinen gehalten. Denn meine Mutter bekam anfangs keinen Job. Mittlerweile hat sei einen. Sie ist zwar den ganzen Tag bis spät Abends nicht zu Hause, aber wir haben etwas mehr Geld, als wie noch vor ein paar Jahren.
Trotzdem ist sie natürlich oftmals gestresst und nicht gut drauf. Luisa ist zu jung um die Wutausbrüche meiner Mutter zu verstehen. Jetzt steht sie weinend in der Küche und drückt ihre Hände aufs Gesicht. Ich seufze. Vorsichtig gehe ich auf meine Mutter zu und berühre sie sanft am Arm. Meine Mutter dreht sich mit roten Kopf zu mir um, doch ich bleibe ruhig. Das ist das beste, was ich jetzt tun kann.
„Mama, geh ins Wohnzimmer und nimm deinen Kaffee mit“, sagte ich und lächle sie an. „Ich kümmere mich um Luisa.“
„Danke, Jonas“, antwortete meine Mutter erleichtert und tat was ich sagte.
Schließlich drehe ich mich zu Luisa um, die immer noch schluchzend in mitten der Pfütze aus Milch und Kakaopulver steht. Vorsichtig nahm ich sie hoch und lief mit ihr ins Bad. Da ihre Socken durchnässt sind musste ich neue holen. Anschließend gab ich ihr auf, in ihr Zimmer zu gehen und ihre Sachen zusammen zu packen, und ich rannte wieder in die Küche um die Pfütze aufzuwischen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch knapp eine viertel Stunde hatte, um mich umzuziehen, etwas zu frühstücken und meine Hefte einzupacken. Gerade wollte ich in mein Zimmer gehen, als meine Mutter aus dem Wohnzimmer kam. Sie schien sich ein wenig beruhigt zu haben.
„Wo ist deine Schwester? Ich muss sie langsam zur Schule bringen“, meinte sie und ich deutete noch schnell auf die weiße Zimmertür mit dem pinken Einhorn, ehe ich in mein eigenes Zimmer verschwand, um mich umzuziehen. Fünf Minuten später hörte ich wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Nun war ich alleine in der Wohnung im dritten Stock. Schnell lief ich in die Küche und schmierte ein Brot, welches ich aß während ich meine Tasche suchte und anschließend den Stapel aus Heften und Schulbüchern durchwühlte. Es dauerte zwanzig Minuten bis ich mit allem fertig war und mir die Jacke überstreifen konnte. Schließlich konnte ich die Tür abschließen und lief eilig die Treppe hinunter in den Keller, um mein Fahrrad heraus zu holen.
Als mir die von den Autoabgasen verpestete Luft von Hamburg einatmete war ich endlich richtig wach. Ich schwang mich auf mein Fahrrad. Es war halb acht. Ich musste mich also beeilen. Schien so, als müsste ich die Abkürzung durch die Gassen nehmen, wo die mit Drogen und Alkohol zugedröhnten Gestalten herum liefen. War zwar nicht die schönste, aber schnellste Strecke zur Schule. Eigentlich hatte es meine Mutter verboten dort längs zu fahren, aber das war ein Notfall.
Nach ein paar Minuten war ich in der ersten der besagten Gassen angelangt. Ruhig, aber schnell fuhr ich die Straße entlang. Rechts und Links von mir sahen mir wandelnde Leichen entgegen. Ich unterdrückte einen Brechreiz, als ich einen Mann sah, der den Kot eines Hundes untersuchte und sich damit schlussendlich das Gesicht vollschmierte. Der Typ war wohl high. Ich schüttelte den Kopf und bog in die nächste Gasse ein. Durch die hohen Häuser und Bäume war die Gasse dunkler als die davor. Dummerweise funktionierte mein Licht am Fahrrad nicht, ansonsten hätte ich die drei Idioten wohl gesehen, die sich ziemlich in der Mitte vor mein Rad schmissen. Zwei von ihnen hielten mein Lenkrad fest, sodass das Rad ruckartig stoppte und ich fast vornüber gefallen wäre. Gerade noch konnte ich mich halten.
„Verflucht! Was soll das?“, schrie ich die drei an. Sie schienen jünger, aber kräftiger zu sein als ich. „Lasst sofort mein Fahrrad los, ich habe es eilig!“
„Oh, das ist aber schade“, meinte der Typ direkt vor mir. Er hatte seine Hände lässig in seine Hosentaschen gesteckt und grinste mich an. „Tja, deinen Termin musst du wohl verschieben, wir müssen nämlich mit dir reden, Jonas.“
Da stutzte ich. Ich kannte die Typen nicht, woher war ihnen also mein Name bekannt?
„Woher wisst ihr, wer ich bin?“
„Dich kennt doch jeder, Jonas. Besonders nachdem sich herumgesprochen hat, dass du neuer Anführer bist.“
Darum ging es hier also. Eine andere Bande hatte von dem Austausch gehört. Ich hoffte, dass es nun keinen Ärger gab, obwohl es genau danach roch.
„Tja, dann kann ich ja jetzt gehen, oder nicht?“, sagte ich bestimmt und wollte losfahren. Doch da griff einer nach meinem Ärmel und zog mich vom Rad, während der andere das Rad festhielt. Unsanft wurde ich auf den dunklen Asphalt gestoßen und mein Fahrrad warfen sie mehrmals gegen ein Baum. Wahrscheinlich damit ich ihnen nicht mehr so leicht abhauen konnte. Knurrend setzte ich mich auf uns starrte die drei wütend an.
„Was soll das?“, fragte ich die drei. „Ich habe euch nichts getan, also lasst mich in Ruhe!“
„Warum sollten wir das tun“, entgegneten sie und ich seufzte. Das musste ich anders angehen.
„Also gut, dann nochmal von vorne“, meinte ich und stand auf. „Woher kommt ihr und was wollt ihr hier?“
„Aus Harburg, wenn du 's wissen willst und unser Anführer, Billy, würde gerne mal mit dir sprechen. Wir sind gekommen um die zu sagen, dass er auf am Donnerstagabend um sieben Uhr auf dich unten am Fischmarkt wartet“, antwortete der Typ rechts von mir.
„Was will er denn von mir?“
„Woher sollen wir das wissen? Am besten kommst du einfach zur vereinbarten Zeit“, meinte einer von ihnen.
„Die Zeit war überhaupt nicht vereinbart! Ihr habt die vorgeschrieben!“
Die Jungs lachten und drehten sich um. Ich sahen ihnen hinterher, als sie die Straße entlang liefen. Gerade wollte ich zu meinem Fahrrad gehen, als sich einer von ihnen nochmal umdrehte.
„Ach ja, du kannst ruhig welche von deinen Freunden mitnehmen, aber nicht mehr als drei! Billy wird auch nicht mehr mitnehmen!“
Danach verschwanden sie um die nächste Straßenecke und ich sah sie nicht mehr. Genervt trottete ich zu meinem Fahrrad. Ich stellte es auf, doch schon auf dem ersten Blick wusste ich, dass ich es nicht mehr fahren könnte. Der vordere Reifen war in sich vollkommen verdreht und das hintere hing nur noch durch einer kleinen Schraube am Rahmen. Der Rahmen war verbeult und ich bezweifelte, dass ich mit diesem Schrott noch bremsen konnte. Mir blieb keine Wahl. Ich musste zu Fuß weiter laufen. Schnell entdeckte ich neben einem Müllplatz einen hohen Busch. Dort drinnen versteckte ich das Fahrrad. Vielleicht ließ es sich reparieren, Geld für ein neuen hatten wir jedenfalls nicht. Ich schulterte meine Tasche und ging im Laufschritt zur Schule.
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Der Köhlbrandbrücken-Krieg
Historia CortaJonas und seine Freunde gehören einer Bande an, die schon lange in Hamburg existiert. Die letzten Anführer sind aus Hamburg gezogen und nun ist Jonas seit ein paar Wochen der, der die Fäden in der Hand hält. Doch sind sie nicht alleine. Es gibt noch...