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"Pass doch auf, verdammt! Mein Handy!", schrie der junge Mann, gegen den ich gerade gestossen war. Wut kam in mir hoch, doch ich schnappte mir einfach mein iPhone, dass bei unserem Zusammenprall auf den Boden gefallen war, zum Glück aber keinen Schaden erlitten zu haben schien. Auch der etwa 17-jährige Junge bückte sich, um sein iPhone aufzuheben und ich bemerke, dass es exakt das gleiche Modell wie meines war. Doch in dem Moment schnauzte er mich wieder an, ich hätte Glück gehabt, dass sein Handy noch ganz sei, sonst hätte ich den Schaden bezahlen müssen, bla bla bla. Und da ich im Moment nun wirklich keine Lust hatte, mich von so einem Volltrottel belehren zu lassen, drehte ich mich um und joggte einfach weiter, ohne auf den wütenden Ausruf hinter mir zu achten.
"Was für ein Idiot!", murmelte ich leise und verstaute mein Handy wieder in einer meiner Jackentaschen.

Zuhause angekommen, stellte ich mich erst einmal unter die Dusche und versuchte mich, wenn auch nur ein kleines bisschen, zu entspannen. Ich schloss die Augen während das angenehm kühle Wasser meinen Körper entlang rann und ging im Geiste meine Jeckliste durch. Hatte ich bei den Einkäufen auch nichts vergessen? Hatte ich im Haushalt soweit alles erledigt? War das Budget für diesen Monat schon gut eingeteilt worden? Hatte ich alle Termine von mir, Sora und meiner Mutter im Griff?
Ich atmete erleichtert aus. Jeck!
Ich öffnete meine Augen wieder. Sosehr ich diesen kurzen Moment meines Tages auch liebte, wo ich einfach nur unter dem rauschendem Wasser stehen und meinen Gedanken nachgehen konnte, so schnell war dieser Moment auch vorbei, ich hatte ja schliesslich noch jede Menge zu tun. Also trocknete ich mich ab, föhnte mir noch rasch meine Haare ein wenig und zog mich an, dann verliess ich das Bad.
Ich hatte meine Hand schon auf der Türklinke zum Zimmer meiner Mutter und atmete nochmals tief durch, dann betrat ich ihr Zimmer.
Es war dunkel, wie es in letzter Zeit oft vorkam, und die Fensterläden liessen nur einen dumpfen Lichtschein in das kleine Zimmer. Es war nicht grossartig eingerichtet, nur ein grosser, hölzerner Kleiderschrank, ein alter Stuhl, ein kleines Nachttischlein und das Bett waren hier, für viel mehr reichte der Platz gar nicht. Und mehr brauchte man auch nicht.
Zu meiner Überraschung sass meine Mutter aufrecht im Bett und sah mich mit ihren einst so intelligenten Augen an. "Hallo Mom. Wie geht es dir?", fragte ich sie leise. "Ganz okay. Wie war die Schule?" Ich lachte leise auf. "Ganz okay. Möchtest du etwas essen?" Doch sie schüttelte den Kopf und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Ich zögerte, doch dann kam ich ihrer Aufforderung trotzdem nach und liess mich neben ihr nieder.
Einige Sekunden lang sah mich meine Mutter einfach nur an, dann begann sie plötzlich zu schluchzen und Tränen rannen in kleinen Bächen über ihre Wangen. Ihre Hände streichelten zitternd über mein schulterlanges, rabenschwarzes Haar und ab und zu hörte ich sie wimmern: "Dein Haar! Dein wunderschönes, langes Haar! Was hast du nur getan?!"
Ich nahm ihre kalten Hände in meine und redete beruhigend auf sie ein, doch sie schüttelte nur ihren Kopf wild hin und her und wollte sich von mir losreissen. "Henry! Henry, wo bist du?!", rief sie, dann sank sie in sich zusammen und schluchzte und weinte nur noch. Wie es eine Mutter vermutlich bei einem heulenden Kind getan hätte, zog ich sie in meine Arme und wog sie sanft hin und her , während sie immer wieder schluchzte: Henry, wo bist du?! Wieso hast du mich verlassen?"
Ich hasste es, meine Mutter so zu sehen. So verletzlich und... schwach. Was war nur aus der schönen, starken Frau geworden, die sich von nichts und niemanden hatte unterkriegen lassen? Doch nun lag sie hier, in den Armen ihrer Tochter, mit einem halb zerfressenen Gehirn und der schmerzlichen Erinnerung an den Mann, den sie einst so sehr geliebt hatte. Doch er war nicht mehr da. Er hatte sie im Stich gelassen.

Nach einigen Minuten hatte sich meine Mutter wieder beruhigt und ich legte sie behutsam zurück ins Bett. Ich hasste es, ihr schönes, langes Haar so verknotet und verfilzt zu sehen, aber sie weigerte sich vehement dagegen, es abschneiden zu lassen. Nachdem ich sie zugedeckt und einen beschützenden Kuss auf die Stirn gegeben hatte, wandte ich mich dem gehen zu, doch meine Mutter packte mein Handgelenk und murmelte mit schwacher Stimme: "Verlass mich nicht, Asuka..."
Ich streichelte sanft ihre Hand.
"Niemals, Mom. Ich verlasse dich niemals. Ich werde bis zum Ende bei dir bleiben."

Vergiss mein nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt