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Ich blieb bei meiner Mutter und hielt ihre Hand bis sie eingeschlafen war. Dann verliess ich leise ihr Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Obwohl ich noch eine Menge zu erledigen hatte, lehnte ich mich gegen die Wand und betrachtete eine Strähne meines Haares, die ich zwischen meinen Fingern hin und her drehte. Es war jetzt schon drei Monate her seit ich sie abgeschnitten hatte, doch jedes mal, wenn mich meine Mutter sah, fing sie an, deswegen zu weinen. Sie hatte mein Haar nun mal geliebt. Und auch ich habe es gemocht, besonders, weil ich meiner Mutter immer sehr ähnlich gesehen hatte, wenn ich es offen getragen hatte. Doch genau das war schliesslich der Grund gewesen, warum ich mir mein Haar auf Schulterlänge geschnitten hatte. Weil ich nicht so wie meine Mutter aussehen möchte.

Mit einem Blick auf meine alte Armbanduhr ging ich in mein Zimmer und machte den täglichen Eintrag über die Verfassung meiner Mutter, danach begab ich mich in die Küche, um mir und meinem Bruder Sora etwas warmes zu kochen.
Sora war in der Schule wegen seinem Namen oft gehänselt worden. Das war auch der Grund, weshalb er ihn Anfangs gehasst hatte, doch nachdem ich ihm mal die Bedeutung seines japanischen Namens erklärt hatte, war er stolz auf ihn.
Sora bedeutete für mich die Welt, weshalb ich ihn vor allem Möglichen beschützen wollte. Doch je mehr ich versuchte, meinen kleinen Bruder so gut wie nur irgendmöglich, aus den Problemen unserer erbarmungslosen Welt herauszuhalten, desto mehr spürte ich, wie mir dieses Ziel entglitt. Denn natürlich bekam er auch mit, was mit Mom geschah. Und ich wusste, dass er, obwohl er es nicht zugeben wollte, grosse Angst vor dem hatte, das noch kommen würde.
Und ich konnte nichts tun, um ihm diese Angst zu nehmen.

Gerade in dem Moment hörte ich, wie sich die Haustür öffnete und eine Stimme fröhlich "Bin wieder da!", rief. Dann stand mein 13-jähriger Bruder auch schon vor mir und grinste mich an. Seine schwarzen Haare waren verwuschelt und seine schokoladenbraune Augen sahen mich neckisch an. Ich lächelte. "Wie war die Schule?"-"Ach, da gibt's nicht viel zu erzählen. Nate musste Nachsitzen." Sora schmiss seinen Schulrucksack in die Zimmerecke und liess sich auf einen Stuhl plumpsen. "Ach ja, und Mrs. Miller war mal wieder ganz schlecht drauf. Hat Hausaufgaben verteilt wie eine Wilde." Ich lachte und stellte ihm einen Teller Spaghetti Bolognese vor die Nase, dann setzte auch ich mich mit meinem Teller. Wir begannen zu essen, wobei der passendere Ausdruck für Sora wohl schlingen war. "Was hat Nate denn angestellt?", fragte ich Sora neugierig und er zuckte die Schultern. "Zu spät gekommen." Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Schon wieder?"-"Es ist Nate! Erwartest du da was anderes?" Ich lachte. Nein, Sora hatte recht. Von seinem besten Freund Nathan Hawkins erwartete man wirklich nichts anderes.
Nathan war vor ein paar Jahren ganz in unsere Nähe gezogen und Sora und er hatten sich zuerst überhaupt nicht ausstehen können. Nathan hatte Sora für ein weinerliches Kleinkind gehalten und Sora hatte Nate für einen fiesen, mürrischen, gleichaltrigen Jungen gehalten, der zu allem Überfluss noch ein Kopf grösser war als Sora. Nate hatte Sora immer in der Schule geneckt und ihn ausgelacht und Sora... nun ja, hatte es ausgehalten. Er war noch nie gut im austeilen gewesen. Doch dann eines Tages kam Nate mit einem blauen Auge in die Schule und nicht einmal seine damaligen 'Schlägerfreunde' konnten aus ihm herausbringen was passiert war. Sora hatte mir damals erzählt, er wäre ganz anders als sonst gewesen, so still. Jedenfalls war mein kleiner, naiver Sora in der Pause, als Nate's andere Freunde schon alle aufgegeben hatten, etwas aus ihm herauszubringen, zu Nate gegangen und hatte gesagt: "Das war dein Vater, nicht wahr? Das mit deinem Auge." Nate hatte ihn erst ganz entgeistert angestarrt, dann jedoch genickt. Auf dem Heimweg hatte Nate Sora dann die ganze Wahrheit erzählt; dass sein Vater ausgeflippt sei, und ihm ins Gesicht geschlagen habe, und dass er kurz darauf verschwunden war. Und bis heute nicht zurückgekehrt ist. Sora und ich verstanden Nate besser als jeder andere, weil wir all das auch durchgemacht hatten.
Seit diesem Tag waren die zwei praktisch unzertrennbar.
Mittlerweile war Nate für uns ein Teil der Familie und er war für mich wie ein zweiter Bruder. Er war auch sehr oft bei uns und manchmal, wenn Sora kurz auf der Toilette oder so war, kam Nate zu mir und sagte: "Erzähl's mir." Dann schüttete ich ihm das Herz aus und erzählte ihm alles. Und Nate hörte mir einfach nur zu.
Ohne Nathan Hawkins wäre ich vermutlich schon vor langer Zeit unter dem Gewicht meiner Last zusammengebrochen.
Diese eine Sache wusste ich mit Sicherheit.

Vergiss mein nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt