Prolog

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Prolog


Als Schwester Amera an diesem Morgen zur allmorgendlichen Andacht ging, hätte sie nicht gedacht, dass dieser Tag ihr Leben aus den Fugen werfen könnte. Auch als sie nach der Andacht zum stillen Frühstück in der großen Halle ging, schien alles noch normal. Ein wunderschöner Tag brach über den Dächern von Ereneth an, am Himmel trübte sich kein Wölkchen. Nachdem sie sich gestärkt hatte, ging sie in ihr Kämmerchen, legte sich die Tageskluft über und betrachtete sich eine Weile im Spiegel. Sie war eine wunderschöne Frau – wie alt sie genau war, wusste sie selber nicht. Ihr Haar war golden gelockt und ihre Augen braun wie das Holz der Bäume. Ihre spitzen Ohren waren unter der schwarzen Haube versteckt, die sie im Kloster stets tragen musste.
Als der Wind das Läuten der Glocken durch das geöffnete Fenster hereintrug kniete Schwester Amera sich hin und dankte der Göttin, für diesen schönen Tag und ließ sich ihren Segen geben. Als die Glocken wieder ertönten wusste sie, dass es acht Uhr war. Zeit für sie, das Waisenhaus aufzusperren.
Eiligen Schrittes ging sie steinernen Treppen des Klosters nach unten, vorbei an Nonnen und Mönchen, Priesterinnen und Priestern. Während sie lief dachte sie an die Kinder des Waisenhauses, und wie sie selbst vor langer Zeit dort gelandet war. Sie hatte keine Erinnerungen mehr an ihre Eltern, die ersten Erinnerungen setzten bei ihr ein, als sie ins Waisenhaus gekommen war. Sie war mit den anderen Kindern großgeworden, in der Hoffnung, von einem großzügigen Elfenpaar adoptiert zu werden und in der Gewissheit, dass ihre Eltern sie nicht haben wollten.
Oft hatte sie auf den Stufen des Waisenhauses gesessen und geweint, sie hatte zur Göttin Cophréya gebetet, sie möge ihrer Barmherzig sein und ihr ein nettes Elternpaar schenken. Die anderen Kinder auf den Straßen von Ereneth hatten die Kinder des Waisenhauses immer gemieden. Niemand wollte etwas mit dem Abschaum der Gesellschaft zu tun haben. Schwester Amera seufzte. So hatte sie sich oft gefühlt: Wie Abschaum in einer Gesellschaft, die sie nicht haben wollte.
Schließlich war sie zu alt für das Haus geworden, und da sie nicht wusste, was sie in ihrem Leben machen sollte, war sie dem Kloster beigetreten – so wie schon viele vor ihr. Ihre Aufgabe war es nun jeden Morgen das Waisenhaus aufzuschließen, sie zum Lernen zur strengen Schwester Alandra zu schicken und am Nachmittag mit ihnen zu beten. Abends war es dann ihre Aufgabe, das Waisenhaus wieder zuzusperren. Alles deutete daraufhin, dass es ein ganz normaler Tag werden sollte.
Ein kiesiger Schotterweg führte den Innenhof des Klosters entlang der Hecken und Stauden, um die sich Bruder Arinor immer kümmerte. Hier und dort war es kräftig am Blühen, wahre Kunstwerke ergaben sich aus den Pflanzen. Die Mitte des Innenhofes zierte ein kleiner Springbrunnen, der die Göttin Cophréya abbildete, mit ihrem mächtigen Schwert Blitz in der Hand. Schwester Amera ging vorbei an einer Gruppe von Mönchen, die sich kniend um den Brunnen versammelt hatten und der Göttin huldigten. Ein in eine lila Kutte gekleideter Priester mit einem gleichfarbigen Spitzhut, auf dem das Schwert von Cophréya abgebildet war, stand vor der Gruppe und las aus dem heiligen Buch vor.
Der Weg führte sie entlang der prunkvoll verzierten Balustraden und der schlichten Fassaden des Klosters. Sie ging vorbei an den Gemächern des Abtes, den sie nur zu besonderen Anlässen zu sehen bekamen. Schwester Amera schritt durch ein steinernes Portal, der den Eingang zum Kloster bildete. Die gusseisernen Gitter, die nachts geschlossen waren, standen nun weit offen und wirkten einladend. Schwester Amera folgte dem Weg noch ein kleines Stück, vorbei an den penibel gepflegten Rasen des Vorhofes. Sie bog eine kleine Abbiegung hinter der Kapelle ab und folgte einer kleinen Gasse, die auf der einen Seite entlang der Außenmauer des Klosters und auf der anderen Seite dem Zaun des kleinen Friedhofs führte, der hinter der Kapelle lag. Sie hörte Vögel zwitschern und lauschte, während sie lief, ihrem Gesang.
Sie folgte dem kleinen Pfad eine Weile, bis sie hinter dem Kloster an der Marktstraße stand, wo reges Treiben herrschte. Schwester Amera überquerte den Hauptplatz, an dem bereits die Händler ihre Stände eröffnet hatten. Von der Bäckerei her kam ein frischer Duft von knusprigen Brötchen. Ein Stand verkaufte frisches Obst und Gemüse, ein anderer frisch gefangenen Fisch. Ein Marktschreier nach dem anderen pries seine Ware als die beste an, eine alte Frau verkaufte hinter einem Holztisch selbstgenähte Kleider, mit dem königlichen Wappen von Ereneth eingestickt. Hinter einem anderen Stand verkaufte ein älterer Mann mit einem langen Bart Kräutertinkturen aller Art, die gegen jegliche Krankheit helfen sollten. An einem hölzernen verkaufte eine dicke Frau allerfeinste Seide aus Aralath, hinter noch einem wurde mit Wein gehandelt.
Wie jeden Morgen drängelte sich Schwester Amera durch die Reihen. Hätte sie nicht schon längst gefrühstückt, wäre sie sicherlich der Versuchung nachgegangen, von den köstlichen Leckereien zu probieren. Sie näherte sich dem Ende des Marktes zu, wo der größte Teil der Stände auf Handwerk spezialisiert war. Ein muskelbepackter Mann stand hinter einem riesigen Amboss und bearbeitete gerade eine Schwertklinge. Ein Tischler hatte seine besten Möbel zur Schau ausgestellt und wartete nun ungeduldig auf Kundschaft. Ein Gerber hatte seine Kunstwerke aus Leder – Schuhe, Westen, Sattel und vieles mehr – auf seinem Tresen ausgebreitet und beriet gerade interessierte Käufer.
Es gab auch einen Viehmarkt, der lag jedoch nicht auf Schwester Ameras Weg. Sie schob einige Leute beiseite und versuchte sich, am Trubel vorbei zur Tür des Waisenhauses zu erreichen. Mit etwas Mühe erreichte sie das Treppengeländer und stützte sich darauf ab. Sie wollte gerade die Stufen erklimmen, da erblickte sie ein kleines Mädchen, dass auf der obersten Stufe vor der Tür saß und weinte.
Schwester Amera kannte das Kind nicht, es war keine ihrer Waisen – wie sollte es auch, die Tür war ja verschlossen. Das kleine Mädchen – es mochte vielleicht fünf Jahre alt sein – weinte unerbittlich. Tränen kullerten die kleinen, roten Bäckchen herunter und tropften auf die Steinstufen. Vorsichtig setzte sich die Nonne zu dem Kind auf die Stufen. „Was ist denn los, mein liebes Kind? Warum weinst du?“ Das Kind gab ihr keine Antwort, sondern schniefte stattdessen in seine zerlumpte Kleidung. Mitfühlend legte Schwester Amera ihren Arm um den Hals des kleinen Mädchens. Diese schenkte ihr keine Beachtung. Erst jetzt bemerkte Schwester Amera, dass der Rücken des Kindes blutig war, einige dicke Schrammen hatten sich durch ihren dünnen Leinenstoff gerissen. Das Blut war bereits getrocknet, doch eine Wunde hatte zu eitern angefangen.
Nachdenklich sah Schwester Amera das Kind an. Wer war dieses kleine Mädchen und was war mit ihr passiert? Wer oder was hatte dieses arme kleine Ding so zugerichtet? Erneut versuchte Schwester Amera mit dem Kind zu reden, doch wieder kam keine Reaktion. Eine Weile saßen die beiden auf den Stufen und schwiegen. Schwester Amera beobachtete das Treiben auf dem Marktplatz, bis ihr wieder einfiel, dass sie das Waisenhaus aufsperren musste. „Möchtest du mit reinkommen?“, fragte die Nonne. Als das Mädchen weiterhin schwieg, nahm Schwester Amera sie zärtlich an der Hand und half ihr aufstehen.
Ohne Widerwillen stand das Kind auf. Während sie den Schlüssel aus ihrer Tasche zog, blickte sie das
Kind an.  „Wie heißt du, mein Kind.“ Eigentlich hatte Schwester Amera schon keine Reaktion mehr erwartet, da antwortete es schluchzend: „Ich bin
Martha.“
Etwas verwundert ging die Nonne in die Knie, um auf Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen zu reden.
„Kannst du mir sagen, was mit dir passiert ist, Martha?“, fragte Schwester Amera. Energisch schüttelte die kleine den Kopf und wischte sich an ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. „Ich bin Schwester Amera. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, in Ordnung.“ Martha nickte und begann erneut zu weinen. Kurz entschlossen nahm die Nonne sie auf ihren linken Arm und versuchte mit der rechten, die Tür zum Waisenhaus aufzusperren. „Es ist alles in Ordnung, mein kleiner Engel. Wir gehen jetzt am Besten rein und du erzählst mir alles, was du weißt.“ Das kleine Mädchen nickte und drückte ihren Kopf sanft an die Schulter von Schwester Amera.
Als diese es endlich geschafft hatte, die große, kluftige Tür zu öffnen, erwartete sie bereits eine Meute von Kindern. Sie hatten sich hinter dem Eingang versammelt und warteten sehnsüchtig auf Schwester Amera. Als sie eintrat, freuten sich die Kinder zunächst, doch als sie sahen, dass sie jemanden auf dem Arm trug, wurden sie schlagartig still. „Geht schon mal ins Esszimmer. Ich komme gleich.“, sagte sie mit ruhigem Tonfall und scheuchte einen nach dem anderen ins die Speisestube.
Mit Martha auf dem Arm ging sie in ein anschließendes Zimmer, in dem eines Bett stand. Sie setzte das kleine Mädchen auf die Bettkante und setzte sich neben sie. Das kleine Mädchen begann zu schluchzen und vergrub ihr Gesicht in ihren kleinen Händen. Schwester Amera musterte Martha eindringlich. Sie war sehr abgemagert, ihre Kleidung waren einzige Fetzten, ihr struppiges, braunes Haar war verfilzt. „Es ist alles gut, Martha. Hier drinnen kann dir absolut nichts passieren. Hab nur Vertrauen.“ Vorsichtig legte die Nonne ihren Arm um den schlaksigen Körper des kleinen Mädchens und drückte ihn an sich. Einen Moment lang saßen die beiden schweigend da, bis schließlich Schwester Amera ihre Frage nicht mehr zurückhalten konnte: „Kannst du mir sagen was passiert ist?“ Das Mädchen hörte einen Augenblick lang auf zu schluchzen und antwortete mit zittriger Stimme: „I-ich weiß es nicht.“ „Was ist das letzte, an das du dich erinnern kannst?“, fragte Schwester Amera.
„Das ich auf der Treppe saß und alleine war. Dann haben die Menschen angefangen irgendwas aufzubauen…“ Die Nonne seufzte. „Du hast bestimmt gesehen, wie die Leute den Markt aufgebaut haben.“ Zögerlich nickte das kleine Mädchen. Sanft strich ihr Schwester Amera durchs filzige Haar, dann spürte sie, wie Martha ihren Kopf noch enger an ihre Schulter presste. „Ich habe Angst“, flüsterte sie. Schwester Amera versuchte sie zu beruhigen. „Wovor hast du Angst? Weißt du woher du die Narben auf deinem Rücken hast?“ Martha schüttelte den Kopf. Etwas beunruhigt fuhr Amera ihr vorsichtig über die ausgetrockneten
Wunden. Die Schnitte sahen fast so aus wie Krallen, als hätte sie einen Kampf mit irgendeinem Tier geführt.
Etwas verunsichert rief sie einen Jungen aus dem Esszimmer herbei und wies ihn an, schnell zu Schwester Alandra ins Kloster zu laufen und diese zu holen. Der Junge nickte stumm und machte sich auf den Weg. In der Zwischenzeit blieb Schwester bei dem zitternden Mädchen sitzen. „Hast du Hunger?“, fragte sie und das kleine Mädchen nickte. „Na, dann komm.“, sagte die Nonne und nahm Martha bei der Hand.
Gemeinsam gingen die beiden hinüber zur
Speisestube, an denen die anderen Kinder bereits um den Tisch herumsaßen und geduldig auf ihr Essen warteten. Gemeinsam hatten sie bereits den Tisch gedeckt. Vor ihnen auf dem Tisch lag hartes Brot vom Vortag, etwas Ziegenkäse und einige Tomaten. Schwester Amera teilte das Essen gerecht ein und ärgerte sich, dass die Kinder nichts Ordentliches zu Essen bekamen. Leider war im Kloster diesen Morgen nichts übriggeblieben, dass sie ihnen hätte heimlich mitbringen können. Außerdem hätte Schwester Mordál sicherlich wieder darauf bestanden, damit die Schweine zu füttern.
Schließlich hatten alle Kinder etwas zu essen. Schweigend beobachteten Schwester Amera und die anderen Kinder, wie Martha nachdenklich auf einem
Eck Brot herumkaute. Die Nonne blickte sie traurig an. Das Kind tat ihr leid, allgemein die Kinder hier taten ihr leid, sie wusste wie es war, eine von ihnen zu sein. Lange Zeit hatte sie selbst hier gelebt, sie wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn die Tore nachts geschlossen wurden und die Kinder alleine in diesem Haus waren. Dies war ein schrecklicher Ort, aber besser als auf der Straße zu wohnen.
Schmerzlich dachte die Nonne an die Zeit, in der sie selbst in den Gassen von Ereneth umhergewandert war, immer auf der Suche nach Essen und Trinken. Hatten ihr die Bäcker von Zeit zu Zeit eine Kruste Brot zugeworfen, die die Schweine nicht fressen wollte, so nahm sie die Gabe dankend an. Mehr als nur einmal hatte sie sich auf den harten
Pflastersteinen hungrig schlafen legen müssen. Ganz in Gedanken verloren fing sie erneut an, Martha durch die Haare zu streichen. Was mochte dem armen Mädchen wohl passiert sein?
Schwester Amera war so sehr in Gedanken, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie sich Schwester
Alandra von hinten genähert hatte. Sie stand im Türrahmen Esszimmer und räusperte sich.
Erschrocken fuhr die Nonne hoch und drehte sich um.
Sie kannte das strenge Gesicht von Schwester Alandra nur zu gut, schmerzhaft wahren die Erinnerungen an die Lektionen mit dem Rohrstock. Schwester Alandra war eine alte Frau, wie alt vermochte Amera nicht zu sagen. Doch schon als sie selbst noch ein kleines Kind gewesen war, schien Schwester Alandra alt gewesen zu sein.
„Was ist denn passiert, dass ich so schnell herkommen musste, Schwester Amera?“, murmelte sie. Die junge Nonne erhob sich und deutete mit einer Handbewegung auf Martha, die stillschweigend vor ihrem Teller saß und immer noch auf einer Kruste herumkaute. „Dieses Mädchen saß gerade eben weinend auf der Treppe zum Waisenhaus. Ihre Kleidung ist zerrissen, ihr Haar ist verfilzt.“ Schwester Alandra runzelte die Stirn und trat langsam auf Martha zu. Während diese aß, musterte die strenge Nonne sie von oben bis unten. „Das arme Ding“, murmelte sie schließlich. „Will gar nicht wissen, was sie schon durchmachen musste. Was ist mit ihren Eltern?“ „Das konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen. Sie scheint auch keinerlei Erinnerungen mehr daran zu haben, was geschehen ist.“ Schwester Alandra seufzte und nahm auf der Bank neben ihr Platz. Vorsichtig begann sie damit, die Wunden auf ihrem Rücken zu untersuchen.
„Weißt du woher diese hässlichen Dinger stammen?“, fragte sie forsch.
„Nein, ich weiß es nicht.“, antwortete Schwester Amera. Nachdem Alandra mit ihrer Untersuchung fertig war erhob sie sich und ging zur jungen Nonne, die immer noch in der Nähe des Türrahmens stand. „Am besten ist es, du lässt dem armen Ding eine heiße Wanne ein, sobald sie fertig ist mit Essen. Schrubb sie gründlich ab und versorge ihre Wunden.
Der Göttin sei Dank, dass sie noch am Leben ist.“
Schwester Alandra wandte sich an die anderen
Kinder. „Und ihr, wenn ihr fertig seid, dann findet ihr euch zum Lernen ein.“ Ein Stöhnen und Seufzen ging durch die Reihen der anderen Waisen, die sich insgeheim schon darauf gefreut hatten, dass die Lektionen für heute ausfallen würden. Unter den strengen, wachsamen Blicken von Schwester Alandra standen sie einer nach dem anderen auf, wuschen ihre Holzteller ab und stellten sie – fein säuberlich gestapelt – in das Regal zurück. Schwester Alandra war sehr auf Zucht und Ordnung aus, sie brachte den Waisenkindern immer bei, wie wichtig Ordnung war.
Während die alte Nonne die Kinder ins Nebenzimmer begleitete, brachte Schwester Amera Martha nach oben, erhitzte einen großen Kessel mit Wasser, und ließ dem kleinen Mädchen in einem kleinen Waschzuber ein Bad ein.
Das Kind sprach kein Wort, als Schwester Amera ihr die zerrissenen Kleider vom Leib zog und sie in einen Korb in der Ecke legte. Stillschweigend kletterte
Martha artig in die Wanne und ließ sich mit einer
Bürste von der jungen Nonne abschrubben. Der
Schmutz hatte sich in einer dicken Schicht über der Haut angesammelt, erst nachdem Schwester Amera eine Weile lang ordentlich mit einer rauen Bürste daran rieb, ging er weg. Sorgfältig säuberte sie die Wunden, die sich in dicken Striemen über den Rücken zogen. „Woher hast du die Verletzungen?“, fragte die junge Nonne vorsichtig und strich sanft mit den Fingerkuppen darüber. Deutlich war unter der Hautschicht das entzündete Fleisch zu sehen, gerötet und empfindsam. Martha zuckte zusammen, als Schwester Amera darüberstrich, doch sie gab ihr keine Antwort auf ihre Frage. Seufzend betrachtete sich die Nonne die Wunden genauer.
Bei einer besonders dicken dachte sie, sie könnte schon den Knochen hinter der Fleischschicht erkennen. „Mein Kind“, sagte Schwester Amera und streichelte dem Kind über die Schulter. „Du musst keine Angst haben. Du kannst mir ruhig sagen, woher du diese Wunden hast.“ Martha saß schweigend im Zuber und starrte gerade aus. Sie schien gar nicht mitzubekommen, dass die junge Nonne mit ihr geredet hatte. Ihr Blick war auf den Spiegel an der Wand über der Kommode fixiert; unentwegt starrte sie hinein.
Ein kalter Schauer lief Schwester Amera über den Rücken, als sie begann, die Haare des Kindes zu waschen. Es bereitete ihr große Probleme, die dicken, verfilzten Haare auseinander zu bekommen und nur mit der Hilfe von einer alten Spange, die die Nonne einmal aus dem Kloster hatte mitgehen lassen, konnte sie die Haare wieder glätten. Erst jetzt fiel Schwester Amera auf, die schön Martha eigentlich war: die schönen, braunen Haare, die spitzen Ohren, und die braunen Augen, die noch immer ins Leere zu blicken schienen.
Die junge Nonne wischte dem Mädchen mit einem feuchten Lappen über das Gesicht. Auch hier hatte sich der Schmutz gesammelt und nur durch großen Kraftaufwand schaffte Schwester Amera es, das kleine Mädchen sauber zu bekommen. Als sie fertig war, streifte sie dem Mädchen die Haare aus dem Gesicht und entdeckte ein kleines Muttermal, das sich an ihrem Hals befand. Es war nicht groß – es war ungefähr so breit wie Marthas Daumen – aber es war deutlich zu erkennen. Ein pechschwarzer Sichelmond zierte den Hals des kleinen Kindes. Erschrocken ließ Schwester Amera den Lappen fallen und stieß einen erstickten Schrei aus.
Das Mädchen schien all dies nicht wahrzunehmen, teilnahmslos hockte sie in der Wanne und fixierte weiterhin den Spiegel an. „Warte hier“, flüsterte Schwester Amera, erhob sich und eilte die Treppe hinunter. Der Schreck vor dem Symbol saß ihr tief in den Gliedern. Sie kannte das Zeichen nur zu gut – und sie musste es Schwester Alandra zeigen.
Ohne an der Tür anzuklopfen stürmte sie in das Klassenzimmer heraus. Unwillkürlich drehten sich die eifrig lernenden Kinder um und starrten sie an, ebenso wie Schwester Alandra, die hinter dem Pult Platz genommen hatte und in dem heiligen Buch las. „Schwester Amera, was ist los?“, fragte die strenge Nonne mit verdrossener Miene, empört darüber, dass sie es gewagt hatte zu störten. „W-wir haben ein Problem, glaube ich - “, stammelte die junge Nonne nervös und stützte sich im Türrahmen ab. Schwester Alandra erhob sich schwermütig und ging zur Tür. „Ihr arbeitet still weiter. Und wehe ich höre irgendwen tuscheln.“, zischte sie die Kinder an und ging mit Schwester Amera zur Tür raus. Erst als diese ins Schloss gefallen war, fragte die alte Nonne: „Was im Namen der Göttin ist los? Du wirkst so aufgelöst.“ Schwester Amera atmete hastig ein und aus. Sie setzte sich auf den Stuhl, der neben der Tür stand. Eigentlich war dieser für unartige Kinder vorgesehen, die es nicht für nötig erachteten, dem Unterricht von Schwester Alandra zu folgen.
Die alte Nonne legte Amera die Hand auf die Schulter und versuchte sie zu beruhigen. „D-das Kind“, stotterte sie und blickte Schwester Alandra tief in die
Augen. „Sie ist gezeichnet vom Bösen.“ „Wie meinst du das?“, fragte die strenge Nonne mit verbitterter Miene. Sie dachte für einen Augenblick, Schwester Amera hätte sich irgendetwas eingebildet, doch wie sie bald herausfinden sollte, war dem nicht so.
Die junge Nonne deutete panisch mit dem Finger auf die Treppe. „Da oben… am Hals… das Zeichen“, stotterte sie erneut. Schließlich wurde ihr schwarz vor Augen und sie wurde ohnmächtig. Erst als sie Schwester Alandra einige Male schmerzhaft ohrfeigte, kam sie wieder zu sich. Benommen richtete die junge Nonne sich auf – in ihrer Bewusstlosigkeit war sie vom Stuhl gefallen und auf dem Boden aufgeschlagen – und setzte sich wieder auf dem Stuhl.
„Hör zu“, zischte Schwester Alandra. „Du musst dich jetzt zusammenreißen. Wir gehen jetzt gemeinsam nach oben, und du zeigst mir, was dich so in Panik versetzt hat.“ Die junge Nonne nickte keuchend und zog sich an Schwester Alandras Arm auf die Beine. Gemeinsam schritten die beiden auf die Treppe zu, die morschen Dielen knarrten unter ihren Füßen. Am Treppengeländer abgestützt schleppte sich Schwester Amera nach oben, dicht gefolgt von Schwester Alandra.
Als sie ins Bad eintraten, saß Martha noch immer regungslos in der Wanne. Während sich die junge Nonne an der Kommode festklammerte, schritt Schwester Alandra fest entschlossen auf das kleine
Mädchen zu. „Wo hast du gesagt ist sie gezeichnet?
Am Hals?“ Schwester Amera nickte und die alte Nonne beugte sich vor und musterte das Mädchen kritisch. Als sie das Muttermal entdeckte, fuhr auch sie erschrocken zurück und stieß dabei einen
Blecheimer – den Schwester Amera vorher als Sitzgelegenheit genutzt hatte – um. „Im Namen der Göttin“, entfuhr es ihr und sie sprach sogleich ein Gebet. 
„Oh Göttin, die du bist gnädig der immerdar, nimm von uns die Sünde und das Werk deines Bruders.“, murmelte sie vor sich hin, das Gebet, wie es alle im Kloster von Ereneth gelernt hatten. Schwester Amera stand kreidebleich an der Kommode und hielt diese krampfhaft umschlossen. Ihre Gedanken kreisten. Sie vermochte nicht zu glauben, dass dieses so unschuldige Kind die Ausgeburt des Bösen sein sollte. „Wir müssen den Abt holen“, entfuhr es schließlich. Schwester Alandra unterbrach ihr Gebet und blickte sie an. „Ja, das wäre der richtige Schritt. Lauf du geschwind zum Kloster und hole ihn, ich passe indessen auf die Kinder auf.“
Schwester Alandra eilte nach unten, doch Amera blieb noch einige Augenblicke an der Kommode stehen. Ihr Blick war auf Martha fixiert, die stillschweigend im Zuber saß und in den Spiegel starrte. Sie hatte Angst vor diesem Kind und irgendwie hatte sie Mitleid. Schließlich – obwohl sie gezeichnet war – war sie nach allem immer noch ein kleines Mädchen, und bekam die Dinge um sie herum auf eine andere Weise mit, als sie es tat. Schwester Amera wollte sich gar nicht vorstellen, was nun mit dem Kind geschehen würde. Dennoch – es war gezeichnet, und in den Diensten der Göttin war jede Tat gerechtfertigt. Langsam setzte sie sich in Bewegung und machte sich auf den Weg zurück ins Kloster.
Zunächst langsam, dann immer schneller werdend trugen sie ihre Füße aus dem Waisenhaus hinein in den dichten Trubel der Stadt. Der Weg, den sie jeden Morgen beschritt und den sie notfalls hätte blind laufen können, kam ihr nun länger vor als sonst. So schnell sie konnte rannte sie über den Marktplatz, dicht verfolgt von den gaffenden Blicken der Marktbesucher. Mehr als einmal huschten die Leute auf die Seite und bildeten eine kleine Gasse, durch die die Schwester rannte. Schließlich kam sie an die kleine Böschung, die zum Pfad hinter der Kapelle führte. Sie hatte schon das Ziel vor Augen, als ihr die Puste ausging. Langsamer trabend eilte sie zum Eingang des Klosters hin. Bruder Arinor kniete mit einer Schere auf dem Rasen und schnippelte an einer Hecke herum. Verwundert blickte er auf, als er
Schwester Amera außer Atem am Eingang des Klosters stehen sah, doch kümmerte sich nicht weiter darum.
Mit einem Stechen in der Magengegend schleppte sich die Nonne durch den Innenhof zur Tür hin, die zum Pavillon führten, in dem die Gemächer des Abtes lagen. Sie fand sich in einem langen Gang wieder, der nach rechts und links führte. Sie bog nach rechts ab und konnte schon goldene Schwert von Cophréya an einer der vielen Türen erkennen. Ein älterer Mönch saß hinter einem hölzernen Katheder, mit einer Schreibfeder in der Hand, vertieft über seine Notizen. Schwester Amera nahm vor ihm Platz und räusperte sich. Unbeirrt schrieb der Mönch weiter. Er blickte nicht einmal auf, als er seine Feder in das Tintenfass tunkte, sondern starrte unentwegt auf das Pergament, das vor ihm lag.
„Bruder Arctus, ich muss mit dem Abt sprechen.“, entfuhr es ihr ungeduldig. Seelenruhig schrieb der alte Mönch weiter und fragte beiläufig: „Hast du einen Termin für eine Audienz?“ Die Stimme klang forsch und bestimmt. „Nein, dafür ist auch keine Zeit.“, schnaufte Schwester Amera hysterisch. In knappen Worten schilderte sie dem Mönch, was geschehen war. Endlich schaute er auf, legte seine Feder beiseite und zog eine Augenbraue hoch. „Recht beunruhigend. Nun, ich darf dich ohne Termin nicht vorlassen, aber da es sich hier um eine… Ausnahme handelt, werde ich kurz nachfragen, ob sich der Abt kurz erübrigen.“
Der alte Mönch erhob sich, griff nach einem Gehstock der neben dem Katheder an eine Wand gelehnt war und ging mit zittrigen Schritten zur Tür des Abtes. „Vielen Dank, Bruder Arctus“, rief sie ihm hinterher. Als der alte Mönch die Tür erreicht hatte, hämmerte er mit seinem Gehstock dagegen. Wenige Augenblicke später öffnete sich diese und der Abt trat hervor, ganz in ein goldenes Gewand gekleidet.
Auf seinem Haupt trug er eine goldene Mitra, in dessen Mitte ein mit Edelsteinen versehenes Schwert abgebildet war. Erhaben blickte er Bruder Arctus forschend an. „Was wünscht Ihr?“, fragte er mit gehobener Stimme. Das ganze Aussehen des Abtes ließ Schwester Amera erzittern. Trotz der Umstände, die die Störung rechtfertigten fühlte sie sich schuldig, ihn bei seiner Arbeit zu unterbrechen. „Schwester Amera bittet um die Ehre, Euch ein Anliegen vortragen zu dürfen, Hochwürdigster.“, antwortete Bruder Arctus ruhig. „Hat die werte Schwester
Amera einen Termin für eine Audienz.“ „Nein, Euer Gnaden. Dennoch, die Umstände für ihre unangekündigte Anhörung sind gravierend.“ „Nun denn, sagt der werten Schwester Amera, sie möge vortreten.“ „Du hast ihn gehört.“, sagte der Mönch an die junge Nonne gewandt. „Er widmet dir ein paar
Minuten seiner kostbaren Zeit.“
Zögerlich trat Schwester Amera vor. Noch nie zuvor war sie zu einer Audienz beim Abt gebeten worden.
Etwas ängstlich blickte sie ihn an. „Es ist eine große Ehre mit Euch persönlich sprechen zu dürfen, Hochwürdigster.“, stotterte sie etwas verlegen. Der Abt bemerkte ihre Unruhe und legte seine Hand auf ihre Schulter. Schwester Amera durchlief ein Schauern. „Habt keine Angst, mein Kind. Was bedrückt Euch?“
Kurz schilderte sie nun dem Abt, was sich im Waisenhaus zugetragen hatte. Nachdem sie fertig war, sah sie ihn beunruhigt an. „Nun, Ihr wisst, dass das Waisenhaus nicht zu meiner täglichen Arbeit gehört. Allerdings – wenn eine Seele in Not ist, so verlangt die Göttin von mir, dass ich sie versuche zu retten. Nun denn, Schwester Alchomêr, ich werde euch nicht zum Waisenhaus geleiten. Den wie ihr sicherlich wisst, ist es mir als Abt untersagt, die Mauern des Klosters zu verlassen – außer zu zwingend wichtigen Ereignissen. Bringt das Mädchen zu mir, und ich werde mich ihrer armen Seele annehmen.“ Schwester Amera verneigte sich leicht. „Wie ihr wünscht, Euer Gnaden.“, sagte sie und entfernte sich langsam. Gerade als sie sich wieder umdrehen wollte, fügte der Abt noch etwas hinzu: „Geht mit meinem Segen, Schwester Amera.“ Mit diesen Worten drehte sich der Abt um und kehrte zurück in seine Gemächer, während der alte Mönch die Tür wieder verschloss.
Schwester Amera schluckte und machte sich wieder auf den Weg zum Waisenhaus. Der Abt hatte ihr persönlich seinen Segen mit auf den Weg gegeben. Dies war die höchste Ehre, die einer Nonne oder einem Mönch im Kloster wiederfahren konnte – vom Abt persönlich gesegnet zu werden. Viele, die jahrelang in diesem Kloster wohnten, sahen den Abt nur zu feierlichen Anlässen und hatten nie die Ehre, eine private Audienz bei ihm zu bekommen. Frohen Mutes ging sie zurück zum Waisenhaus. Sie war fest entschlossen, dass der Abt einen Weg kannte, Martha von ihrer Last zu befreien. Mit aller Kraft der Göttin würde er es schaffen, das Mädchen zu reinigen.
Am Waisenhaus angekommen unterrichtete sie
Schwester Alandra in den Ereignissen, die geschehen war. Sie hatte die Kinder auf ihre Zimmer geschickt und – sehr zur Zufriedenheit der Kinder – die Lektionen für den restlichen Tag ausfallen lassen.
Die Kirchturmglocke verkündete, dass die Mittagsstunde anbrach. Allmählich leerte sich der Markt, denn die Leute waren hungrig und begaben sich zum Mittagessen. Die beiden Nonnen hielten das für eine gute Gelegenheit, Martha zum Abt zu schaffen. Diese saß noch immer im Waschzuber und schien sich nicht einmal bewegt zu haben, seit Schwester Amera fortgewesen war. Während die alte Nonne die Kinder vertröstete, dass das Mittagessen aufgeschoben werden musste, suchte Amera einige Kleidungsstücke für Martha heraus.
Sie bat Martha, aus dem Zuber zu steigen, was diese auch ohne Widerwillen tat. Mit einem Lappen, der früher dazu benutzt wurde, um die Bodendielen im Kloster zu scheuern, trocknete die Nonne das kleine
Mädchen ab. Vom vielen Wasser waren Marthas Finger ganz schrumpelig geworden, auch die Wunden am Rücken hatten sich aufgebläht und waren weiß. 
Während der ganzen Prozedur sprach das Kind kein Wort, stumm blickte sie vor sich hin. Nachdem sie trocken war zog ihr Schwester Amera ein Kleid an, dass ihr etwas zu groß war und an den Schultern leicht rutschte. Das Kleid war auch nicht mehr das Schönste, besonnen erinnerte sich die Nonne, dass schon zu ihrer Zeit im Waisenhaus viele es getragen hatten.
Das Mädchen ging brav mit Schwester Amera mit, als diese das dreckige Wasser des Waschzubers aus dem Fenster kippte. Eine schmutzige Pfütze bildete sich auf den Pflastersteinen hinter dem Waisenhaus, in der kleinen Seitengasse die zum Viehmarkt führte. Schwester Amera versicherte sich, dass sie auch niemanden getroffen hatte und schloss anschließend die Laden der Fenster.
Sie lehnte die Wanne an die Kommode und ging mit dem Mädchen die Treppe hinunter. Die ganze Zeit über sprachen die beiden kein Wort miteinander, bis sie schließlich bei Schwester Alandra waren, die schon am Fußende der Treppe wartete. Als die beiden ihr die abgenutzten Schuhe eines anderen Kindes anziehen wollten, fragte sie plötzlich: „Wohin gehen wir?“ Schwester Alandra, die sich gebückt hatte um ihr die ledrigen Pantoffeln anzuziehen, antwortete in mitfühlendem Ton: „Ich möchte dich jemandem vorstellen. Er wird sich gut um dich kümmern.“ „Versprochen?“, fragte das kleine Mädchen etwas skeptisch. „Du hast mein Wort.“, erwiderte Schwester Alandra, mit einem versuchten Lächeln auf den Lippen. Die alte Nonne lächelte sonst nie – ihre Miene war meistens streng und kalt – und Schwester Amera wusste, dass sie dies nur tat, um das Mädchen zu beruhigen.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Kloster. Die Mittagszeit war im vollen Gange, der Marktplatz war wie leergefegt, Händler hatten ihre Läden kurzzeitig geschlossen um die Mittagssonne zu genießen. Hier und dort waren einige Leute unterwegs, einige dösten auf der Bank am Brunnen, andere unterhielten sich und andere nutzten die Mittagsstille, um genüsslich eine Pfeife zu rauchen. Umso verdutzter waren die Leute, als sie sahen, dass zwei Nonnen mit einem Kind im Schlepptau unterwegs waren, und noch verwunderter waren die Leute, die sich daran erinnerten, dass Schwester Amera wie eine Wilde über den Marktplatz gerannt war.
Auf die seltsamen Blicken, die ihrem Weg folgten achteten die beiden Nonnen nicht. Beunruhigt beobachteten die beiden das Mädchen, das folgsam neben ihnen her trottete. Ich frage mich wirklich, was es mit diesem Kind auf sich hat, dachte sich Schwester Amera, während sie gerade in die Abzweigung auf den Pfad zur Kapelle abbogen. Sie gingen gerade am Zaun des kleinen Friedhofes vorbei, als das Mädchen stehen blieb und die
Grabsteine betrachtete. „Warum stehen da so viele
Steine herum?“, fragte sie. Ihre Stimme klang unschuldig und rein, Schwester Amera bezweifelte, dass dieses Kind irgendetwas Böses an sich hatte.
„Damit gedenkt man den Menschen, die fortgegangen sind.“, antwortete Schwester Alandra und nahm Martha an der Hand. Sie zog sie ein wenig, doch das kleine Mädchen wollte nicht gehen. Fasziniert betrachtete sie diesen Ort; ihre Augen strahlten als sie die vielen Gräber musterte. „Wohin sind die Menschen fortgegangen?“, fragte das Mädchen, doch die alte Nonne gab ihr keine Antwort darauf. Mit etwas Schwung zog sie das Kind hinter sich her und setzte den Weg zum Kloster fort. „Wohin sind die Menschen gegangen?“, fragte das Mädchen erneut, in der Erwartung, eine Antwort zu bekommen. Schwester Alandra blieb stehen und giftete das Kind an. „Über solche Dinge reden wir nicht, verstanden?“
Martha nickte gehorsam und lief wieder schweigend neben den beiden her. Fragend blickten sich die beiden Nonnen an. Was hat es nur mit diesem Kind auf sich? fragte sich Schwester Amera, während sie fast den Eingang des Klosters erreichten. Bruder Arinor war mittlerweile damit beschäftigt, die Hecken rund um die Statue von Cophréya zu stutzen. Neugierig sah er auf, als sich die drei näherten, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Die Nonnen betraten – gefolgt von Martha – den Pavillon und näherten sich eiligen Schritten den Gemächern des Abtes. „Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Martha erstaunt, und ihre Frage hallte an den großen Mauern wider. „Ein schöner Ort, vertrau mir“, antwortete Schwester Amera lächelnd und tätschelte die Schulter des Mädchens. Als sie das Pult von Bruder Arctus, sah dieser kurz auf, beäugte das Mädchen und nickte. „Das ist also das Mädchen?“, fragte der Mann und Schwester Amera nickte. Der alte Mönch erhob sich und wies den Nonnen an, ihm zu folgen. Ohne Aufforderung wackelte Martha ihnen hinterher. Erneut klopfte Bruder Arctus an die Tür. Als man von innen ein stumpfes „Herein“ hörte, öffnete der alte Mönch mit aller Kraft die schwere Tür. „Soll ich dir zur Hand gehen, Bruder Arctus?“, fragte Schwester Amera hilfsbereit. Der alte Mönch hielt inne und funkelte die junge Nonne wütend an. „Ich öffne diese Türen nun schon seit über fünfzig Jahren, da werde ich sicherlich nicht auf meine alten Tage die Hilfe von dir benötigen.“ Gekränkt von dem Angebot schob Bruder Arctus die Tür und wies die drei dazu an einzutreten. Etwas verunsichert trat Schwester Amera an ihm vorbei, sie hatte ihn keinesfalls verletzten wollen. Beim Hinausgehen warf der Mönch Schwester Amera einen grimmigen Blick zu und schloss die Türen hinter ihnen.
Schwester Amera vergaß die Wut des Mönches und blickte sich fasziniert in den Gemächern um. Sie war noch nie zuvor in diesem Zimmer gewesen und hatte es auch noch nie wirklich gesehen. Vorhin – als sie mit dem Abt geredet hatte – hatte sie nur einen flüchtigen Blick erhaschen können, nun ließ sie sich Zeit, den Blick an den unzähligen Bildern vorbei hin zu den beiden Statuen in der Ecke schweifen zu lassen. Sie war beeindruckt von der prunkvoll ausgestatteten Einrichtung des Raumes. Ein goldener Kronleuchter hing von oben herab und verdeckte dabei die Sicht auf die Deckenbemalung. Nur grob konnte Schwester Amera erahnen, dass das Bild die Göttin Cophréya zeigte, kriegerisch mit ihrem Langschwert Blitz in der Hand, im Kampf gegen ihren Bruder Héphinór, dem Rachsüchtigen.
Die Gemälde an den Wänden zeigten die verschiedensten Kapitel aus dem heiligen Buch, jedes wichtige Ereignis war künstlerisch mindestens einmal vertreten. Ein roter Samtteppich zierte den Weg von der Tür zu einem Podium, auf dem hinter einem sperrigen Tisch saß, dass mit einem silbernen Tischtuch bedeckt war. Als die drei eintraten erhob er sich und schritt andächtig auf die beiden Nonnen zu. „Ihr bringt mir also das Mädchen, das gezeichnet ist.“ In tiefer Ehrfurcht verneigten sich die beiden ein wenig. „Jawohl, Hochwürdigster“, antwortete Schwester Amera untertänig. Der Abt ließ seinen Blick über das kleine Mädchen schweifen, das ihn mit großen Augen anstarrte. „Wie heißt du, meine Kleine?“, fragte er gebieterisch. „Martha, und du?“ Schwester Alandra fauchte das Kind böse an. „Du redest hier mit dem heiligen Abt, du musst ihn mit Euer Gnaden oder Hochwürdigster ansprechen. Er ist wie ein König.“, tadelte sie. Verschmitzt lächelte der Abt und wandte sich Schwester Alandra zu. „Schon gut, Schwester.“ Augenblicklich verstummte Schwester Alandra und sah beschämt zu Boden.
Verunsichert sah Martha sich um. „Du musst vor mir keine Angst haben.“ Das Mädchen nickte irritiert, sie verstand nicht, warum sie hier war. Der Abt wandte sich an Schwester Amera. „Nun bin ich gespannt auf das Mal, dass Ihr beschrieben habt.“ Die junge Nonne ging in die Knie und streifte Martha die Haare vom Hals. Erschrocken erblickte der Abt das Mal; es war das Zeichen des Teufels, Héphinór, der sich die Dunkelheit zu eigen machte. Der Abt taumelte einige Schritte zurück. Schnell bedeckte Schwester Amera das Muttermal wieder mit den Haaren und trat von ihr weg. „Nun, Euer Gnaden. Was sollen wir machen?“, fragte sie hastig.
Der Abt hob den Kopf und sagte: „Als allererstes schafft Ihr sie hier weg. Sie hat in diesen heiligen Hallen nichts zu suchen. Ich werde mich mit dem Rat der Ältesten austauschen, wie wir mit ihr verfahren.“
„Was sollen wir währenddessen mit ihr machen,
Hochwürdigster?“, fragte Schwester Amera. Der Abt seufzte und sagte dann, an Schwester Alandra gewandt: „Würdet Ihr wohl einen Augenblick vor die
Türe gehen. Aber nehmt das Kind mit.“ 
Die alte Nonne verneigte sich, nahm Martha bei der Hand und klopfte gegen die Tür, damit Bruder Arctus kam und sie öffnete. Nachdem beide die Gemächer des Abts verlassen hatten, atmete der Abt tief ein und sagte dann: „Sperrt dieses Mädchen irgendwo ein. Gebt ihm nichts zu Essen oder zu Trinken, denn dass ist es nicht wert. Ich werde mich mit dem Rat in Verbindung setzten um zu sehen, wie wir mit ihr verfahren.“
„Verzeiht mir meine direkte Frage, Euer Gnaden, aber ich dachte, Ihr wollt dem armen Kind helfen?“ Ehrwürdig baute er sich auf, Schwester Amera hatte das Gefühl, in seiner Anwesenheit zu schrumpfen, denn er wirkte mit einem Mal so groß und mächtig.
„Diesem Kind ist nicht mehr zu helfen.“, antwortete er entschieden. „Das Kind ist gezeichnet vom Teufel persönlich. Es am Leben zu lassen wäre eine
Bedrohung für den Glauben.“ „Aber,
Hochwürdigster, es handelt sich doch lediglich um ein Kind.“ Der Abt trat einen Schritt auf sie zu, wodurch er ihr noch größer vorkam, als er es eh schon tat. „Wollt Ihr Euch meinem Befehl wiedersetzten,
Schwester Amera?“
Die junge Nonne zuckte zusammen. Sie hatte gerade den größten Fehler ihres Lebens begangen, und dem Abt, dem heiligen Vater des Klosters widersprochen. Für diese Freveltat könnte er sie des Klosters verbannen… wenn sie Glück hatte. Kaum merklich schluckte sie und stotterte dann: „Verzeiht mir, Euer Gnaden, ich wollte Euch nicht anzweifeln. Bitte verzeiht mir.“ Sie sank vor ihm auf die Knie und begann zu weinen.
Tröstend trat der Abt auf sie zu und legte seine Hand auf ihren Kopf. „Ich mache Euch keinen Vorwurf, mein Kind. Der böse Geist des Kindes wirkt sich auf Euer denken aus. Geht in die Kapelle und tut Buße. Heute Abend beim Essen werdet Ihr fasten. Diese Nacht werdet Ihr nicht schlafen, sondern Euch im stillen Gebet üben. Tut dies, und Euch sei verzeihen.“ Schwester Amera sah zu ihm auf. Sie hatte oft von seiner Gnade gehört, doch nun spürte sie diese zum ersten Mal wahrhaftig. „Ich danke Euch, Hochwürdigster.“ Der Abt nahm seine Hand von ihr und trat einen Schritt zurück. „Nun denn, macht Euch auf, Ihr habt viel zu tun.“
Schwester Amera nickte und klopfte gegen Tür. Der
Abt drehte sich um und schritt zu seinem Tisch. Als Bruder Arctus die Tür geöffnet hatte, drehte sie sich noch einmal um. Sie wollte noch etwas sagen, ihm für seine unendliche Gnade danken, doch der Abt hatte sich über ein Buch gebeugt und las. Schweigend trat sie auf den Gang, in dem Schwester Alandra bereits ungeduldig auf sie wartete. Martha stand schweigend neben ihr. „Was hat er gesagt?“, fragte die alte Nonne. „Wir sollen sie im Waisenhaus unterbringen, weg von den anderen Kindern. Sie soll fasten, bis der Rat zu einer Entscheidung kommt.“, sagte Schwester Amera, etwas niedergeschlagen. Ihr tat es leid, dass Kind einzusperren und hungern lassen, dennoch war der Befehl des Abtes klar gewesen. Schwester Amera trat an die alte Nonne heran und flüsterte ihr ins Ohr, was der Abt ihr konkret aufgetragen hatte. Schwester Alandra nickte stumm. Die Mittagsruhe war noch nicht ganz vorbei, als die beiden Nonnen sich zusammen auf den Rückweg machten. Bruder Arctus funkelte die junge Nonne beim Vorbeigehen noch einmal böse an. Auf dem Markt eröffneten gerade die Händler wieder ihre
Stände, als sie sich dem Waisenhaus näherten. „Ich werde dir gleich dein Zimmer zeigen, Martha.“, flüsterte Schwester Alandra ihr zu, als die die Tür zum Waisenhaus aufschloss. Das Mädchen nickte stumm und folgte der Nonne, die sie in den Keller begleitet.
Schwester Amera fühlte sich miserabel. Martha folgte Alandra nichtsahnend in den Keller. „Du bekommst ein schönes Zimmer.“, sagte die alte Nonne und streichelte ihr über den Kopf. Sie sperrte eine schwere Tür auf, hinter der sich ein altes Lager befand. Der Raum war fast leer, außer ein paar leerer Kartoffelsäcke, die in einer Ecke lagen. Martha blickte in das Zimmer. Es war düster, das einzige Licht drang durch ein kleines Fenster, das hoch an der Seitenwand befestigt war. Entfernt hörte man den Trubel vom Markt, der große Ansturm nach der Mittagsruhe. „Mir gefällt das Zimmer nicht.“, sagte sie.
„Das ist auch nicht dein Zimmer.“, log Schwester Alandra. Insgeheim schämte sie sie sich, da Lügen eine Sünde war, aber sie wusste, dass jede Tat in den Diensten der Göttin gerechtfertigt war. „Aber dahinten in der Ecke, in dem Sack ist eine Überraschung für dich. Jedes Kind das hierher kommt, bekommt ein Geschenk.“ Zögerlich trat Martha ein. Sie ging einige Schritte in den Raum hinein und hörte nur noch, wie sich die Tür mit einem lauten Knall hinter ihr schloss. Schwester Alandra drehte den Schlüssel um und sperrte ab. Das kleine Mädchen schrie und hämmerte gegen die Tür und flehte sie an, die Tür wieder zu öffnen, doch die alte Nonne blieb kalt und ging wieder nach oben.
Schwester Amera hatte die anderen Kinder zum Spielen auf die Straße geschickt. Sie sollten nicht mitbekommen, was im Keller passierte. Sie hatte sich in der Speisestube am Tisch niedergelassen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Sie hörte das Hämmern von Martha an der Tür, und war kurz der Versuchung widerlegen, das Kind zu befreien. Sie tadelte sich selbst für ihre Gedanken und beschloss, nach ihrer Arbeit im Waisenhaus Buße zu tun, wie der Abt es ihr aufgetragen hatte.
Schwester Alandra gesellte sich zu ihr. „Wo sind die Kinder?“, fragte sie, als sie durch die Türschwelle trat. „Ich habe sie zum Spielen nach draußen geschickt. Es ist schon schlimm genug, dass wir das mitbekommen.“ Die alte Nonne setzte sich zu ihr. „Du machst dir doch nicht etwa Vorwürfe wegen dem Mädchen?“, fragte sie. „Du dir etwa nicht? Nach allem war passiert ist, ist sie doch immer noch ein
Kind.“ „Nein“, widersprach Schwester Alandra und hatte ihre strenge Miene aufgesetzt. Amera erinnerte sich wieder an die unglimpflichen Lektionen mit dem Rohrstock. „Ich habe dich erzogen, damit du das Richtige tust. Nicht, damit du das anzweifelst, was der Abt sagt. Du hast ihn doch gehört, dieses Kind ist die Ausgeburt der Hölle, vom Teufel gezeichnet.“ „Und wenn dieses Muttermal einfach nur ein dummer Zufall ist?“, fragte die junge Nonne, in der Hoffnung bei Schwester Alandra Gehör zu finden. „Es gibt keine Zufälle in der Welt. Ich weiß nicht, was es mit diesem Kind auf sich hat, aber ich kann dir sagen, dass es nichts Gutes ist.“ Schwester Alandras Stimme war kalt und gefühllos, ihr tat Martha nicht einmal im
Ansatz leid. „Dieses Kind saß heute Morgen weinend auf der Treppe. Ihr Körper ist mit Wunden übersäht. Ich würde zu gerne wissen, was mit ihr geschehen ist.“ Schwester Amera spürte, dass es keinen Sinn hatte, sich mit der alten Nonne darüber zu unterhalten, da diese an ihrer Meinung festhielt. Deshalb versuchte sie, das Thema zu wechseln.
„Wie gedenkst du an Essen zu kommen?“, fragte sie. „Das ist – ehrlich gesagt – nicht mein Problem, denn dafür bist du zuständig. Ich bin lediglich hier um den Kindern Wissen weiterzugeben.“ „Aber – du willst mich doch jetzt nicht alleine lassen?“, fragte sie. „Hör zu“, versuchte Schwester Alandra ruhig zu sagen, doch ihre Stimme bebte leicht vor Anspannung. „Ich bin heute Morgen schon früher gekommen als sonst, um dir bei deinem Problem zu helfen. Dieser Junge den du geschickt hast hat mich mitten aus meinem Gebet gerissen. Ich helfe den Kindern hier beim Lernen, damit aus ihnen war wird. Aber ich habe noch andere Aufgaben zu tun. Und ich bin alt, ich bin nicht mehr so fit wie früher. Und seien wir ehrlich – ohne dich wäre dieses Heim hier schon längst geschlossen worden.“
Schwester Alandra erhob sich und schritt zur Tür. Bevor sie hinaus ging drehte sie sich noch einmal um. „Ich wünsche dir einen angenehmen Nachmittag.“, sagte sie und ging hinaus. Schwester Amera blieb am Tisch sitzen. Ihre Gedanken kreisten um das Mädchen, das im Keller gefangen war. Mittlerweile hatte sie aufgehört, gegen die Tür zu klopfen. Mehr als einmal war sie der Versuchung erlegen, hinunter zu gehen und sie zu befreien.
Im Nachhinein konnte sie nicht mehr genau sagen, wie lange sie eigentlich dagesessen und nachgedacht hatte. Erst als die Sonne den Zenit weit überstiegen hatte, beschloss sie, auf die Straßen zu gehen und nach Essen für die Kinder zu fragen. Der Markt war nur noch spärlich besucht; hier und dort tummelten sich noch einige Leute. Sie ging durch die Reihen der Stände. Einige hatten ihre gesamten Waren bereits verkauft und waren dabei, für den heutigen Tag zu schließen. Andere, von weit hergereiste Händler, wollten noch nicht aufhören und priesen ihre Waren an. Schwester Amera schlenderte entlang der Handwerksstände und näherte sich der Bäckerei. Sie kannte den Bäcker schon lange, früher war sie oft hergegangen, um ein Laib Brot zu ergattern. Der Bäcker war ein herzensguter Mann. An Tagen, an dem sein Geschäft fluorierte legte er immer ein paar frische Brote auf Seite oder gab ihnen die, die er am Tag nicht verkaufen konnte.
Sie betrat den Laden. Das Leise Ding Dong einer Glocke kündigte an, dass sie die Bäckerei betreten hatte. Aus der Backstube trat er Bäcker, breit lächelnd und gut gelaunt. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie heute kommen würden, Schwester. Ich habe einige frische Brote auf Seite gelegt.“ Er kramte einen Korb unter der Ladentheke hervor und reichte ihn rüber. In ihm befanden sich verschiedenste Brote und kleine Brötchen, sogar zwei kleine Törtchen waren mit dabei.
„Vielen Dank“, sagte Schwester Amera etwas abwesend. „Da werden sich die Kinder heute Abend sicher freuen. Vor allem weil schon ihr Mittagessen ausfallen musste.“ Der Bäcker musterte sie kritisch. „Ist alles in Ordnung? Sie wirken heute etwas missmutig.“ Schwester Amera seufzte. „Es ist nur ein anstrengender Tag. Die Göttin fordert mich heute ziemlich.“ „Ich finde, wir sollten dankbar sein, für jeden Tag, den wir haben. Das Leben ist allzu kurz und schneller als es uns lieb ist, ist es vorbei.“ Die Worte sollten aufmunternd wirken, doch senkten sie Schwester Ameras Laune nur noch mehr. Der Bäcker merke dies und lenkte schnell ein. „Dennoch, heute war für mich fürwahr ein guter Tag. Die Göttin hat mir reichlich Kundschaft beschert. Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen etwas von meiner guten Laune abgeben.“
„Vielen Dank, Sie sind zu gütig. Ich hoffe, die Göttin beschert Ihnen noch viele weitere gute Tage.“ Der Bäcker nickte dankend. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie morgen den Korb wieder mitnehmen könnten. Den hat meine Frau von Hand geflochten und sie möchte nicht, dass er verloren geht. Ich soll übrigens liebe Grüße ausrichten.“ Schwester Amera lächelte leicht. „Das ist zu nett. Richten Sie Ihrer Frau aus, ich werde ihn direkt morgen früh wieder vorbeibringen. Einen schönen Tag Ihnen noch.“ „Den werde ich hoffentlich haben. Vor allem kann ich heute Nacht mit gutem Gewissen schlafen, dass die armen Kinder nicht hungrig zu Bett gehen müssen.“
„Sie sind zu gütig. Stünde es mir zu, den Segen der Göttin zu verteilen, wären Sie der erste, dem ich ihn übermitteln würde.“ Der Bäcker lächelte ihr zum Abschied nach, während sie den Laden wieder verließ.
Mittlerweile wehte ein leichter Wind durch die Gassen und brachte eine angenehme Kühle mit sich.
Es tat gut und lenkte Schwester Amera von ihren Sorgen ab. Nach und nach sammelte sie die Kinder ein und ließ sie zum Abendbrot antreten. Der Tag war noch nicht in die Späte gegangen, da saßen neun hungrige Kinder um den Tisch und genossen die frischen Waren, die der Bäcker ihnen so großzügig überlassen hatte.
Nach dem Essen stimmte sie – wie es jeden Abend der Brauch war – ein Lied an, um den Kindern Mut und Kraft zu schenken. Artig sangen alle mit – der Text war ihnen allen geläufig, denn er stammte aus dem heiligen Buch und Schwester Alandra legte immer viel wert darauf, dass alle möglichst viel darüber wussten. Sie selbst behauptete von sich, fast das gesamte Buch auswendig aufsagen zu können, und wenn man sie darum bat, tat sie das auch und zitierte schier endlose Passagen heraus.
Die ganze Zeit während sie sang dachte sie an die arme Martha, die eingesperrt unten im Keller saß und nicht einmal wusste wieso. Der Grund kam der Nonne banal vor – aufgrund eines Muttermals wurde das arme Mädchen gefangen gehalten wie eine Delinquentin, die für ihre Sünden bezahlen musste.
Nach dem Singen wünschte Schwester Amera den Kindern einen schönen Abend. Von nun an waren sie alleine gestellt. Noch schwerer als sonst fiel es ihr, die Kleinen nun bis zum nächsten Morgen alleine zu lassen. Dennoch – ihre Arbeit war für den heutigen Tag erledigt. Sie schritt hinaus zur Tür und sperrte sie hinter sich zu. Die Kinder konnten nun nicht mehr rausgehen.
So schnell sie konnte, machte sie sich auf den Weg zur Kapelle. Langsam bereitete die Sonne ihren Weg zum Horizont vor, der Schein fiel golden und matt über die Dächer von Ereneth.
Sie dachte daran, dass sie nun Buße tun musste für ihren Widerspruch gegenüber dem Abt.
Die Türen der Kapelle waren geöffnet, eine kleine Schar Mönche und Nonnen kamen heraus, tief in ihre Gespräche vertieft. Sie wartete einen Augenblick, bis alle weg waren, dann betrat sie ehrfürchtig das Haus der Göttin.
Der Altar war mit Blumen und Kerzen verziert, die im leichten Luftzug flackerten. Über dem Altar, an Fäden aufgehängt hing eine große Nachbildung von Blitz und schwebte thronend über den fast leeren
Bänken. Lediglich ein paar vereinzelte Mönche und
Nonnen waren zurückgeblieben, um sich im stillen Gebet mit der Göttin zu verbinden. Ein lieblicher
Kranz aus Delphinium und Dahlien, Rosen und
Cymbidien zierte den Eingang zur Kapelle. Bruder Arinor hatte sich die Mühe gemacht, die gesamte Kapelle zum Beginn des Sommers zu schmücken. Die einzelnen Sitzreihen zierten jeweils an den Enden ein Geflecht aus zart duftenden Freesien und Gladiolen, hier und dort mit ein paar Hyazinthen gemischt. Die ganze Kapelle erfüllte ein lieblicher, wohliger Duft, der für eine angenehme Stimmung sorgte.
Der Altar war überhäuft mit Blumen. Die Steinstufen, die zu ihm führten waren mit Milchsternen und Lilien überhäuft, was ihnen einen weißen Glanz verlieh. Der Altar selbst war mit einer ganzen Vielzahl an Blumen dekoriert worden. Ein Kranz aus Hortensien, Levkojen und Narzissen schmückten ihn; Nelken und Rosen waren liebevoll an den Seiten zu Sträuchern gebunden und einige Strelitzien und Weidenkätzchen hingen an den Seiten herab. Es schein so, als hätte Bruder Arinor die gesamten Blumen des Innenhofes hier in die Kapelle verlegt.
Andächtig ließ sie sich auf eine der Bänke nieder. Sie setzte sich hin, faltete die Hände ineinander und begann zu beten. Göttin, verzeih mir, ich habe gesündigt, begann sie ihr Gebet. Eine Weile lang saß sie schweigend da, vertieft in ihre Gedanken. Ich weiß, du bist gütig und gnädig, aber ist es rechtens, ein wehrloses Kind zu quälen? dachte sie. Sie lauschte der Stille in der Kapelle, bekam aber keine Antwort. 
Für eine ziemliche Weile grübelte sie darüber, wie es Martha wohl ging. Das arme Mädchen, hilflos und alleine in einem Keller eingesperrt, ohne etwas zu essen. Das Gefühl des Hungers kannte sie nur zu gut, wenn der Magen schmerzte und sie kurz davor war, den Dreck von den Straßen zu essen, um irgendetwas nahrhaftes zu sich zu nehmen. Diese Zeiten waren nicht allzu lange her; nun hatte sich natürlich viel geändert und die Göttin hatte sich ihrer Seele als gnädig erwiesen und sie angenommen.
Nur durch das Leben im Waisenhaus – so schlimm es auch gewesen sein mochte – hatte sie Tugenden erlernt, das Leben in einer Gesellschaft erlebt und schließlich auf den rechten Pfad des Glaubens gefunden. Keinen Augenblick hatte sie jemals an der Göttin gezweifelt, doch nun schien es, als ob die Leute um sie herum die falschen Entscheidungen treffen würden. Sie konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, ein armes Kind leiden zu lassen. Wie wird der Rat wohl über ihr Schicksal entscheiden? kam es ihr in den Sinn. Zu welchem Schluss würden die Hohen Leute dieser Stadt wohl kommen. Wie auch immer sie sich entscheiden würden, sie bestimmten letzten Endes über das Schicksal des Kindes. Vielleicht wurde sie verstoßen, vielleicht weiterhin gefangen gehalten bis an ihr Lebensende.
Schwester Amera fing leise an zu weinen. Der Gedanken an das kleine Mädchen schockierte sie; ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie hatte immer gedacht, dass sie ein schlimmes Schicksal getroffen hatte und sie im rechten Moment erlöst worden war, doch für dieses Mädchen schien es gar keine Hoffnung mehr zu geben. Gnädige Göttin, ich flehe dich an, bitte erlöse dieses Mädchen. Nimm dich ihrer an, flehte sie.
Eine Weile lang saß sie da und grübelte. Schließlich verkündete die Glocke der Kapelle – die bei Weitem nicht so schön und laut klang wie die der Kirche – dass nun die Zeit für das gemeinschaftliche Abendessen war. Die Anwesenheit war unmittelbare Pflicht, außer man wollte es riskieren, einen Bußdienst zu bekommen. Deswegen machte sie sich auf dem Weg zum Speisesaal, auch wenn sie selber nichts essen durfte.
Vor ihrem inneren Auge tauchte das Gesicht des Abtes auf und sie schämte sich dafür, sich Martha gegenüber so zu erbarmen. Wenn es der Wille der Göttin ist, dann ist es auch der richtige, sagte sie sich selbst, während sie – wie die anderen Mönche und Nonnen – durch den Innenhof in die große Halle lief. Allmählich neigte sich der Tag dem Ende entgegen. Die letzten Strahlen der Sonne erhellten den Innenhof und ließen ihn erstrahlen.
Die Halle war bereits gut gefüllt, als Schwester
Amera diese betrat. Alle hüllten sich in bedächtiges Schweigen, denn während des Essens durfte man nicht miteinander reden. Lediglich die rundliche Schwester Mordál stand auf einem Plateau und las aus dem heiligen Buch vor. Ihre Worte hämmerten sich in ihren Verstand wie ein Nagel in eine Holzleiste und formten ihn wie ein Schmied sein Eisen. Andächtig saß sie zwischen den anderen, die kräftig aßen. Sie bekam Hunger, als sie die reich gedeckten Platten vor sich auf dem Tisch stehen sah. Vor ihr türmten sich Haufen mit frischem Geflügel, Käse und Brot, soweit das Auge reichte. Auch an Getränken mangelte es nicht, die Nonnen und Mönche reichten sich munter Krüge mit Wein und Bier zu, andere waren gefüllt mit frischem Brunnenwasser.
Andächtig lauschte sie den scharfen Worten von Schwester Mordál, die in ihrer feurigen Art zu predigen nicht mehr zu stoppen war. Die Worte sprudelten aus ihr heraus wie Wasser aus einer Quelle. Schwester Amera sog sie auf und dachte darüber nach. Die Wörter brannten sich in ihren Kopf und blieben dort hängen. „Und Malóchil wird kommen und richten, über die Sünden der Gedanken. Sei der Mensch vom Tier unterschieden durch nicht den Drang alles was ihm in den Sinn kommt, in die Tat umzusetzen. Cophréya gab den Elfen den einzig freien Willen, doch auch unsere Gedanken können Sünde sein. Verziehen sei denen, die sich schuldig bekennen und Buße tun, bestraft werden diese, die sich in Schweigen hüllen und vernichtet werden andere, die ihre Sünden leugnen.“
Malóchil war der Engel der Gerechtigkeit, stets an der rechten Seite von Cophréya. Im heiligen Buch stand eine Geschichte über einen Krieg der Götter, in dessen größten Not er der Göttin beigestanden hatte. Héphinór hatte seine Streitmächte vor den Toren von Azgathár versammelt, um gegen den vernichtenden Schlag gegen die Göttin auszuführen. Diese, vom Leid der Welt geschwächt und lediglich durch die
Hoffnung der Menschen gestärkt, war zu schwach, um Blitz zu halten, weswegen sie Malóchil das Langschwert anvertraute, der den entscheidenden Moment ausnutzte und die Klinge gegen Héphinór richtete.
„Nicht das Böse dieser Welt hat Schuld an den Gedanken dieser Welt, denn die gütige Göttin sorgt dafür, dass die Menschen der Gedanken rein bleiben. Hat sie nicht Èrudin geschaffen, um Nacht für Nacht die Geister zu reinigen? Sind die Gedanken der Elfen unrein, so ist es zumeist ihre eigene Schuld. Doch das Böse ist gerissen und erzeugte Mitleid in den Elfen. Bekennt Euch schuldig, wenn ihr kurz vor der Versuchung standet, lobet Euch, wenn ihr nicht der List und Tücke widerfallen seid und büßt, wenn doch.“ 
Mit diesen Worten klappte Schwester Mordál das Buch zu und erhob sich. Das Essen war beendet, die Mönche und Nonnen erhoben sich und verließen den Raum. Einen Augenblick blieb Schwester Amera noch sitzen und dachte an die Worte der dicklichen Nonne. Sie fühlte sich schuldig und unrein. Sie hatte es nicht verdient in diesen steinernen Hallen zu sitzen und im Namen der Göttin zu leben. Zu verdorben waren ihre Gedanken, sie war der List des Bösen zum Opfer gefallen. Dieses Kind bekommt nur, was es verdient, redete sich Schwester Amera ein, während sie die Halle verließ um sich der Abendrunde anzuschließen.
Die Abendrunde war für Schwester Amera die schönste Zeit des Tages. Ein paar Mönche und Nonnen versammelten sich jeden Abend im Innenhof um den Brunnen herum, beteten und redeten, tranken Bier und Wein, erzählten sich die abenteuerlichsten Geschichten. Manchmal sangen sie, manchmal lauschten sie dem plätschernden Wasser des kleinen Springbrunnens. Als die junge Nonne in den Innenhof trat, hatte sich bereits eine kleine Gruppe gebildet. Die Sonne war schon fast gänzlich verschwunden, lediglich ein paar lila Wolken waren noch zu sehen. Der Hof war fast gänzlich von Dunkelheit umgeben, lediglich ein kleines
Lagerfeuer war auf dem Kiesweg entfacht worden. Darum versammelt saßen einige Mönche und Nonnen.
„Schwester Amera“, rief Bruder Arinor, der vom Wein schon angeheitert war. Seine Backen waren gerötet und er gluckste, als er die junge Nonne erblickte. „Kommt“, lud er sie mit einer Handbewegung ein. „Gesellt Euch zu uns. Wir wollen singen und lachen, der Göttin huldigen und uns des Lebens freuen.“ Etwas schüchtern setzte sie sich ein wenig abseits von den anderen ins Gras, doch diese schienen das nicht wirklich zu bemerken. Ein Kelch mit Wein wurde herumgereicht und es wurde reichlich vergossen.
„Ach, herrlich“, schwärmte Bruder Marcón, ein junger Mönch, der dem Kloster noch nicht lange beigetreten war. „Daran könnte ich mich glatt gewöhnen. Ich danke der Göttin, dass sie mir den Weg in dieses Kloster eröffnet hat.“ Die kleine Gruppe hob ihre Becher und ließ sie klingend aneinanderstoßen. „Auf Cophréya“, sang Schwester Rylá, die schon ziemlich angetrunken war. „Möge ihre Güte noch viele Herzen öffnen.“
Gemeinsam stimmte die Gruppe ein heiteres Lied an, alle kannten den Text, doch sang jeder in einer anderen Melodie mit, was es schwer machte, den Text zu verstehen. Die dickliche Schwester Mordál, die sonst so fromm und streng war, trällerte am lautesten. Schwester Amera beobachtete stillschweigend das Geschehen. Sie sang nicht mit – dazu war sie nicht in der Stimmung – sondern sie lauschte einfach der schrillen Mischung aus Tönen, die das Lied bilden sollten.
Sie bekam nicht mit, wie sich der Abt, in eine silberne Kutte zur Nacht gekleidet, sich von hinten an sie näherte. Erst als er sich räusperte sah sie auf und erschrak sich. „Hochwürdigster… ich… verzeiht mir… weshalb ehrt ihr mich mit Eurem Besuch?“, stammelte sie etwas ängstlich. Der Abt sah sie forschend an und sprach dann mit gedämpfter Stimme: „Ich wollte Euch nur darin unterrichten, dass der Rat und ich zu einer Übereinkunft gekommen sind, was das Mädchen betrifft. Nach langen Diskussionen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass das Kind morgen früh auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.“
Innerlich schrie Schwester Amera, doch nach außen hin war ihre Miene versteinert. Sie konnte nicht glauben, was der Abt da soeben gesagt hatte. Sie wollte widersprechen, doch ihre Worte blieben in ihrer Kehle stecken.
Mittlerweile hatten auch die anderen der Abendrunde bemerkt, dass der Abt auf der Wiese stand und waren verstummt. Einige waren auf die Knie gegangen und huldigten ihm, andere wiederum wussten nicht so recht, was sie machen sollten und blickten verunsichert umher. Auch Schwester Amera wusste nicht, was sie tun sollte. Der Abt merkte die
Verwirrung der jungen Nonne, deshalb sagte er: „Ihr müsst Euch keinen Vorwurf machen, Schwester. Das Kind muss sterben. Lassen wir es am Leben, so wird es Ereneth vernichten, das hat der Rat der Ältesten prophezeit. Im Orakel haben sie gesehen, wie die Stadt brennt und die Türme fallen, wie Risse die
Mauern zierten… sie muss sterben, sonst bedeutet sie den Untergang der Stadt.“ 
Schwester Amera versuchte verzweifelt sich nicht anmerken zu lassen, wie es ihr wirklich ging. Ein Drang zu Weinen überkam sie, doch mit aller Kraft versuchte sie ihn zu unterdrücken. Sie blickte den Abt an und antwortete mit zittriger Stimme: „Wenn das der Wille der Göttin ist, sei es so.“ Der Abt lächelte und erwiderte dann: „Ihr seid wieder auf dem richtigen Weg. Morgen früh wird sie im Lichte der Göttin hingerichtet. Ich hoffe, die Göttin wird sich ihrer Seele als Gnädig erweisen. Es war mir ein persönliches Anliegen, sie nicht in der Nacht an Héphinór zu übergeben, sondern an Cophréya. Dann kann das kleine Ding wenigstens doch noch Erlösung finden. Ich nehme an sie ist in sicherer Verwahrung?“ Schwester Amera nickte und versuchte so kalt wie möglich zu klingen. „Sie ist im Keller des Waisenhauses eingesperrt. Es gibt keine Möglichkeit für sie, zu entkommen.“ „Gut.“, antwortete er zufrieden. „Ich werde nun in meine Gemächer gehen und mich vorbereiten. Ich trage noch schnell ein paar Mönchen auf, den Scheiterhaufen für morgen zu errichten. Genießt Euren Abend und feiert ausgelassen. Und denkt an Eure Buße heute Nacht im
stillen Gebet. Dann ist Eure Seele wieder rein.“
Der Abt machte kehrt und lief – unter den ehrfürchtigen Blicken der zur Abendrunde versammelten Leute – über den Rasen ins Kloster zurück. Schwester Amera blieb zurück, schweigend und ungläubig. Sie konnte es nicht fassen, dass der Rat beschlossen hatte, das arme Kind zu verbrennen. Es war eine der scheußlichsten Methoden zu sterben und weit gefürchtet unter den Verbrechern in den Todeszellen.
Warum muss das Mädchen verbrannt werden? fragte sie sich selbst. Ihr Blick starrte ins Leere, sie hörte nicht, wie Bruder Arinor sie zu sich rief, damit die Nonne, die die Ehre gehabt hatte mit dem Abt zu sprechen, sich zu ihnen setzte. Er selbst war schon ziemlich angetrunken und verkündete lauthals – während er einen Freudentanz um das Feuer aufführte – dass er irgendwann in seinem Leben im
Rat der Ältesten hocken würde. Schallendes
Gelächter begleitete ihn, denn die Vorstellung war zu witzig. Doch Schwester Amera war nicht nach Lachen und Freude zu Mute. Sie löste sich von der Gruppe und ging in ihre Zimmer, um Trost im Gebet zu finden.
Als sie in ihrer Zelle angekommen war, zog sie ihre Nonnenkluft aus und legte sich das Gewand für die Nacht an. Ihr Schrank war übersäht mit den verschiedensten Kluften für die verschiedensten Anlässen, denn die Kleiderordnung war im Kloster streng geregelt.
Die junge Nonne kniete sich vor ihrem Dachfenster nieder und schaute hinauf zum Himmel. Die Sterne leuchteten bereits hell, als Schwester Amera ihr Gebet begann. Oh heilige Göttin, bitte erhöre mein
Gebet aus tiefster Not, sagte sie in Gedanken. Bitte zeige dich barmherzig und verschone das Kind. Lass sie leben und führe sie auf den rechten Pfad.
So ganz konnte sich die Nonne nicht konzentrieren, denn sie sah dauernd die kleine Martha vor sich, die am Scheiterhaufen angebunden und verbrannt wurde. Innerlich hörte sie ihre Schreie und sie verklangen mit dem Knistern des Feuers. Diese Vorstellung versetzte sie in Verzweiflung, sie konnte nicht zulassen, dass dem Kind etwas geschehe. Nur was sollte sie tun? Ich muss dem Mädchen helfen zu fliehen, noch heute Nacht, dachte sie sich. Doch wo soll sie hin? Nach Aralath würde es zu lange dauern und wenn sie auf dem Weg lief, dann würden königliche Soldaten sie vorher finden. Beunruhigt stand sie auf. Habe ich denn eine Wahl? Es ist ihre einzige Chance. Vielleicht überlebt sie im Wald irgendwie.
Sie ärgerte sich darüber, dass sie die Lektionen von Schwester Alandra über das Land vergessen hatte. Als Kind hatte sie sich nie dafür interessiert, was außerhalb der Burgmauern passierte und wo die Wege hinführten, wusste sie erst recht nicht. Ich muss mit dem Kind mitgehen, beschloss sie schließlich nach einer Weile des Grübelns. Sofort verwarf sie den Gedanken wieder, denn sie kannte sich in der Welt da draußen nicht zurecht und würde dem Kind eher eine Last sein. Als ich Martha heute Morgen gefunden habe, sah sie verwildert aus, so, als käme sie von außerhalb. Bestimmt kam sie bereits aus den Wäldern. Irgendwie hatte sie dort überlebt und musste es wieder tun, wenn sie weiterleben wollte. Die Glocke des Klosters riss sie aus den Gedanken. Sie schlug drei Mal und verkündete, dass nun die Nachtruhe begann und niemand mehr sein Zimmer verlassen durfte. Schlagartig fiel ihr auf, dass sie noch ein größeres Problem hatte als dem Mädchen zur Flucht zu verhelfen. Wie sollte sie das Kloster verlassen, wo Priester Òrynor das Eingangstor verschloss? Den Schlüssel hatte nur er alleine und für Schwester Amera gab es keine Möglichkeit, an ihn heran zu kommen. Außerdem fiel ihr ein, dass es einen Nachtwächter gab, der nachts umherwanderte und kontrollierte, dass niemand die Gemächer verließ.
Der ganze Plan kam ihr so sinnlos und waghalsig vor und sie wollte nicht daran denken was passieren würde, wenn es schiefging. Außerdem, selbst wenn sie es aus der Stadt herausschaffen sollten: wovon würde sich das Mädchen ernähren? dachte sie. Ich könnte in die Küche gehen und etwas zu essen stehlen. Ich darf mich lediglich nicht erwischen lassen. Sie seufzte und suchte Rat im Gebet. Sag du mir, gnädige Göttin, was soll ich machen. Doch von der Göttin kam keine Antwort. Schweigend verbrachte sie einige Momente. Sie atmete tief ein und seufzte. Ich muss es riskieren. Ich kann nicht mit dem Gewissen leben, ein unschuldiges Kind zu ermorden. Sie wartete noch einige Momente bis sie sicher gehen konnte, dass sich auch die heitere Abendrunde aufgelöst hatte und alle in ihren Zellen waren. Als sie den schweren Schlüsselbund des Nachtwächters klappern hörte, schlich sie sich auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie lautlos.
Verstohlen blickte sie in den Gang und sah sich nach links und rechts um. Sie sah gerade noch den Umhang eines Mönches hinter einer Ecke auf der linken Seite des Ganges verschwinden. Leise schloss sie die Tür hinter sich und schlich nach rechts entlang zur Treppe. Sie musste aufpassen, dass sie nicht vom Wächter überrascht wurde, der vielleicht die Treppen auf der anderen Seite nach unten gehen würde. Lautlos wie ein Schatten in der Nacht stieg sie die Stufen hinunter. Unten angekommen suchte sie einen Ort, in dem sie im Ernstfall in Deckung gehen konnte. Der Gang, der sich vor ihr erstreckte war leer und auch das Klappern des Schlüsselbundes war nicht zu hören.
Dennoch musste sie aufpassen, keinen Laut zu verursachen, denn die Wände des Klosters trugen jedes Geräusch durch die Gänge. Leise wie eine Katze schlich sie durch die Flure. Sie scheute sich davor, den Innenhof zu betreten, da der Wächter in einem der Kreuzgänge umherwandern und sie sehen könnte. Ihr Herz raste, als sie vorsichtig um eine Ecke linste. Der Gang dahinter war frei, und sie musste es nur bis zur Speisehalle schaffen, um in die Küche zu gelangen. Mit wachsamen Augen glitt sie um die Ecke und pirschte sich langsam voran. Als sie das
Klappern des Schlüssels hörte, ging sie
Augenblicklich hinter einer der Säulen in Deckung. Keine Sekunde zu früh, denn schon konnte sie den Wächter aus einem der Gänge um die Ecken sehen. Ein Lied auf den Lippen summend ging er an ihr vorbei.
Schwester Amera hatte das Gefühl, ihr Herz blieb stehen. Sie versuchte so leise wie möglich zu atmen, damit der Wächter sie nicht bemerkte. Er lief gerade dicht an ihr vorbei. Einen Augenblick lang wünschte sich Schwester Amera unsichtbar zu sein, doch da war der Wärter schon an ihr vorbei und in einen anderen Gang abgebogen. Erleichternd ausatmend schlich sie weiter. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, wenn er sie hinter der Säule gesehen hätte.
Eilig hastete sie zur Tür der großen Halle und öffnete sie. Mit einem lauten Quietschen öffnete sie und die junge Nonne betete, dass der Wächter das Geräusch nicht vernehmen würde. So leise wie möglich versuchte sie die Tür wieder zu schließen. Als sie es geschafft hatte, atmete sie erleichtert aus. Eilig ging sie in die zu dem Torbogen, der in die Küche führte.
Noch nie zuvor war sie in der Küche gewesen, dieses Recht war alleine den Köchen unter den Mönchen und Nonnen vorbehalten. Während sie herumschlich, blickte sie sich verstohlen um. Auf den ersten Blick sah sie nichts, dass irgendwie essbar aussah. Einige Töpfe waren fein säuberlich gestapelt in ein Regal gestellt worden und über der Feuerstelle am Kamin hing ein großer, eiserner Kessel. Die Küche war fein säuberlich aufgeräumt. Eine große Zahl an Holzschalen und Krügen standen in einem Schrank. In einer Schublade fand sie eine große Auswahl aus verschiedensten Gewürzen; hier und dort waren einige teure Gewürze wie Pfeffer, Zimt, Muskat aber auch Nelken und Ingwer waren zu finden. Kostbares Salz wurde in einer eigens dafür vorgesehenen Schatulle aufbewahrt.
Schwester Amera wandte sich ab. Im Halbdunkeln erkannte sie eine schmale Holztür, die im Schatten eines Schrankes versteckt war. Leise öffnete sie diese und schlich hinein. Die Kammer war klein, aber vollgestopft mit Essen. Hier und dort standen Säcke mit Reis und Kartoffeln, Gemüse und Obst stapelte sich in Holzkisten bis unter die Decke. Sie sah einen Sack, in dem Brot vom Vortag lag, dass nicht gegessen wurde und an die Schweine verfüttert werden sollte. Sie schnappte sich einen kleinen, leeren Sack der in der Ecke stand und stopfte ihn mit Brot voll. Sie machte den Sack nicht voll – schließlich musste das kleine Mädchen den tragen können – sondern packte nur soviel ein, wie sie es für nötig erachtete.
Nachdem sie fertig war schlich sie wieder aus der Kammer heraus und schloss die Tür leise. Hoffentlich würde niemandem auffallen, dass sie der Küche einen nächtlichen Besuch abgehalten hatte, doch letztendlich war es ihr egal – schlimmere Sünden würde sie heute Nacht entgehen. Die Tür, die von der Küche in den Hinterhof führte – zu dem Stall in dem sie Schweine und Hühner mästeten – war verschlossen. Durch eines der Fenster konnte sie nicht klettern; es waren Blumenfenster, die sich nicht öffnen ließen. Sie überlegte, ob sie eines der Gläser einschlagen und hinausklettern sollte, sie wollte es jedoch nicht riskieren, Aufsehen zu erregen.
Deshalb schlich sie leise zurück in die Halle, denselben Weg, den sie gekommen war. Langsam öffnete sie die knarrende Tür nur einen Spalt, um hinaus zu linsen. Der Gang war leer und es war nichts zu hören. Mit angehaltenem Atem öffnete sie die Tür gerade soweit, dass sie sich mit dem Sack zusammen durchquetschen konnte. Langsam lies sie die Tür ins Schloss fallen. Angestrengt lauschte sie, ob sie den Wächter irgendwo sehen oder hören konnte, doch als sich nichts tat, hastete sie zur Treppe zurück. Als sie am Ende der Treppe ankam, durchfuhr sie ein Schock, denn gerade in dem Moment, als sie die Stufen erklimmen wollte, hörte sie von oben das Klirren eines Schlüsselbundes. Sie sah den Schatten des Wächters, der sich der Treppe näherte. Hilflos blickte sie sich um. In diesem Gang gab es keine Säulen, hinter denen sie sich hätte verstecken können. Fieberhaft überlegte sie, was sie nun tun sollte. Sie wollte weglaufen, doch ihre Füße waren wie versteinert. Der Wächter hatte die Treppe beinahe erreicht, seine schlanke Figur war bereits zu sehen, als Schwester Amera der rettende Gedanke kam. Sie sprintete zu den Bogengängen, die in die Innenhöfe führte, sprang über die kleine Mauer und duckte sich darunter. Ihr Herz bebte vor Angst, der Wächter könnte etwas bemerkt haben. Doch dieser spazierte seelenruhig die Gänge hinunter und gähnte, dann bog er nach rechts ab in Richtung der Speisehalle, aus der sie gerade gekommen war.
Erleichtert kletterte sie wieder über die Mauer, als er außer Sicht- und Hörweite war. Sie schlich die Stufen nach oben und erreichte seufzend ihr Zimmer. Lautlos öffnete sie die Tür und verschwand darin. Erst als sich die Tür wieder geschlossen hatte, wagte sie sich zu freuen.
Erleichtert atmete sie tief ein und aus. Ihr nächtlicher Beutezug hatte geklappt und sie war sich sicher, dass sie das Mädchen befreien konnte. Ich hoffe du kannst mir verzeihen, gnädige Göttin, dachte sie.
Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie zwar Essen für das Kind hatte, nun aber immer noch nicht wusste, wie sie das Kloster eigentlich verlassen sollte. Noch einmal rauszugehen war ihr zu riskant aber irgendwie musste sie hier heraus. Auf einmal kam ihr eine Idee, die ihr bescheuert und genial zugleich vorkam. Vorsichtig öffnete sie das Dachfenster und spähte hinaus. Der Himmel war etwas bewölkt, die Sterne waren nur noch unklar zu erkennen. Eine kühle Brise wehte durch die leeren Straßen. Sie zitterte, dann schnappte sie sich den Sack mit den Broten und knotete ihn zu. Mit Herzrasen schob sie den Stuhl ihrer Kommode an das Fenster heran und stopfte den Schlüssel zum Waisenhaus in ihre Kutte. Sie stellte sich drauf und zog sich mit aller Kraft die sie aufbringen konnte, auf das Dach.
Noch nie zuvor war sie auf dem spitz zulaufenden Giebeldach gewesen und das, was sie sah, gefiel ihr nicht. Sie befand sich nur wenige Fuß von den Überhangszinnen entfernt, die das Ende des Daches verkündeten. Ängstlich sah sie hinab, vor ihr eröffneten sich eine etwa sechzig Fuß hohe, steile Wand, die unten an einem Kiesweg endeten. Wenn sie hier abrutschte, würde sie in den sicheren Tod stürzen.
Vorsichtig robbte sich Schwester Amera nach vorne. Mit der einen Hand hielt sie den Sack fest umklammert, mit der anderen versuchte sie, sich irgendwo festzuhalten. Möglichkeiten für einen festen Griff gab es kaum, die Ziegel, die das Dach schmückten, waren zu glatt. Schwester Ameras Hände waren von Schweiß getränkt, was ihr das Festhalten erschwerte. Mehr als einmal drohte sie beinahe abzurutschen, doch dann schaffte sie es doch noch rechtzeitig, sich irgendwo festzuhalten. Sie kroch vorbei an den Fensterluken anderer Zellen und betete inständig, dass niemand herausschauen würde.   An der Abzweigung eines Daches angekommen, machte sie eine kurze Pause. Sie setzte sich hin und versuchte, nicht nach unten zu schauen. Sie befürchtete, ihr könnte schwindelig werden und sie würde nach unten stürzen. Flach atmend kauerte sie sich in die Ecke und versuchte sich in Gedanken abzulenken. Unwillkürlich musste sie lachen, denn die Vorstellung sie würde abstürzen und am nächsten Morgen mit einem Sack alter Brote gefunden, fand sie auf eine merkwürdige Weise komisch.
Nach einer kurzen Weile robbte sie weiter – um die große Gabelung des Daches herum zum vorderen Teil des Klosters. Dort angekommen suchte sie verzweifelt eine Möglichkeit, wie sie von diesem Dach heil herunterkäme. Hier kam ihr Bruder Arinors Vorliebe für Pflanzen zugute, denn der Mönche hatte am – von ihr aus gesehen – linken Teil der Außenfassade, die vom Kloster weg in einen halbrunden Turm überging, vor Jahren einen Blauregen gepflanzt. Anfangs war es eine schöne Zierpflanze gewesen, doch im Laufe der Zeit hatte die Pflanze ihre massiven Ranken um den Turm geschlungen und war an ihm herauf geschlängelt. Nun waren die Äste dick und robust, die veilchenblauen Blüten sprossen kräftig. Vorsichtig hangelte sich Schwester Amera dorthin. Sie umklammerte einen Ast mit der einen Hand. Sie klemmte dich den Sack mit den Broten zwischen die Zähne und angelte sich hinüber zu dem großen Stamm, den sie langsam nach unten kletterte. Die großen Blüten hingen ihr ins Gesicht, doch sie rochen süßlich und angenehm.
Immer weiter näherte sich Schwester Amera dem sicheren Boden. Sie war schon fast auf halber Höhe, doch sie hatte Mühe, an den immer dicker werdenden Ranken Halt zu fassen und mehrmals war sie ein Stück weit heruntergerutscht und hatte sich die Hände wund geschrammt.
In Gedanken pries sie Bruder Arinor und war froh, dass bis jetzt alles reibungslos funktioniert hatte.
Schließlich war sie nur noch neun Fuß vom Grund entfernt, als sie sich plötzlich in einer Ranke verfing und rückwärts in die Tiefe viel. Sie ließ einen erstickten Schrei von sich, verlor den Sack und plumpste unsanft in eine Hecke, die sich um das Kloster an die Fassaden drückte. Benommen blieb sie einen Augenblick liegen; sie hatte sich ihre Kutte zerrissen und einige blutige Schrammen durchzogen ihre Arme und Beine. Mit Mühe kämpfte sie sich aus der Hecke auf und sammelte den Sack auf, der ihr beim Sturz aus den Zähnen geglitten war. Nun erst nahm Schwester Amera wahr, dass sie es geschafft hatte, das Kloster zu verlassen. 
Den Rasen überquerend wandte sich dem kleinen Pfad zu, der hinter der Kapelle am Friedhof vorbeiführte. Schließlich erreichte sie den Marktplatz, der ganz verlassen da lag. Dunkelheit hüllte ihn in undurchsichtiges Schwarz und Schwester Amera war froh, dass sie den Weg zum Waisenhaus sehr gut kannte. Dort angekommen kramte sie den Schlüssel hervor und sperrte auf. Auf
Zehenspitzen lief sie über die knarrenden Treppenstufen, bis sie die Stufen erreichte, die die Treppe zum Keller bildeten.
Sie schlich hinunter und kam an die Tür, hinter der Martha gefangen war. Glücklicherweise hatte Schwester Alandra den Schlüssel stecken lassen. Vorsichtig drehte sie das Schloss herum und betrat das Zimmer. „Martha“, flüsterte die junge Nonne in die Dunkelheit hinein. Als keine Antwort kam, flüsterte sie erneut ihren Namen, diesmal ein bisschen lauter. Schließlich tastete sich Schwester nach vorne. Sie musste höllisch aufpassen, nicht aus Versehen gegen das kleine Mädchen zu laufen.
In einer Ecke auf alten Leinensäcken hatte sich das kleine Mädchen einen Schlafplatz gesucht. Flaches, regelmäßiges Atmen verkündete, dass sie gerade im Reich der Träume war. Die Nonne stupste sie vorsichtig an, woraufhin das Mädchen sofort verängstigt hochschreckte. „Martha, ich bin es, Amera.“ Das kleine Mädchen fing an zu zittern. „Ich will hier raus.“, flüsterte sie. Die junge Nonne tastete im Dunkeln nach ihrer Hand. „Das wirst du auch. Komm mit.“ Widerstandslos stand das Mädchen auf und folgte Schwester Amera, die dich blind durch den
Raum zur Tür tastete. „Ich bring dich aus der Stadt raus. Hast du Hunger?“, fragte sie. „Ja“, antwortete Martha.
„Kennst du den Wald vor der Stadt? Du musst laufen, so schnell du kannst, hörst du?“ Das Mädchen antwortete nicht, aber Amera vermutete, dass sie sehr gut verstanden hatte. Die beiden hatten die Türschwelle des Waisenhauses erreicht. Sie schlichen hinaus und blickten sich vorsichtig um. „Du musst versuchen, nach Aralath zu laufen. Aber nicht auf dem Weg, da würden sie dich verfolgen. Lauf immer etwas im Wald.“, flüsterte die Nonne.
Das kleine Mädchen zitterte und Amera machte kurz halt, um ihr ein Stück Brot zu geben. „Hier“, sagte sie und das kleine Mädchen griff hungrig zu.
Sie schlichen weiter in Richtung Burgtor, geduckt und den Schatten folgend. Die Straßen waren leer, die meisten Menschen schliefen, lediglich aus einer Taverne schimmerte noch matter Kerzenschein. „Du musst jetzt laufen, so schnell du kannst, verstanden?“, flüsterte Schwester Amera, als die beiden kurz vor der geöffneten Zugbrücke standen. Auf den Mauern gingen Wachen umher, doch sie sahen die beiden nicht kommen. „Ja“, flüsterte das Mädchen zurück. Die Nonne geleitete das Kind noch ein Stück außerhalb zum Rand. „Hier trennen sich unsere Wege. Pass gut auf dich auf“, sagte Amera fast schwerfällig. „Kommst du nicht mit?“, fragte das Mädchen. „Ich kann nicht. Ich wäre dir da draußen nur eine Last. Außerdem reicht das Essen nicht für uns beide. Bitte pass auf dich auf, versprich mir das.“ Das Mädchen nickte. Besorgt sah Schwester Amera auf den dunklen Wald, der sich vor ihnen erstreckte. Man konnte kaum die eigene Hand vor Augen sehen, dennoch musste sie Martha losschicken.
Sie gab ihr eine letzte Umarmung. Das Mädchen flüsterte ihr ins Ohr. „Danke“. „Nun musst du aber laufen, so schnell du kannst.“ Martha nahm den Sack von Schwester Amera – er war gerade groß genug, dass sie ihn mühelos tragen konnte. Dann drehte sie sich in Richtung Wald und rannte los. Schnell war das kleine Mädchen in der Dunkelheit verschwunden. Eine ganze Weile blieb Schwester Amera noch am Rand des Waldes stehen. Erst als der Tag schon dämmerte ging sie wieder zurück. Der Tag schien nicht so sonnig zu werden, wie der davor, graue Wolken zogen sich den Himmel entlang und verhinderten, dass die Strahlen der Sonne das zumeist noch schlafende Ereneth erfasste.
Nachdenklich fragte sich Amera den ganzen Weg über, ob sie das Richtige getan hatte und ob ihr die Göttin jemals verzeihen könnte. Die Nonne achtete nun nicht mehr darauf, ob sie jemand sehen konnte oder nicht. Wieder am Kloster angekommen schritt sie einfach durch das mittlerweile wieder geöffnete Tor und machte sich nicht einmal die Mühe, sich heimlich einzuschleichen. Mehrere Nonnen und Mönche beäugten sie kritisch und schritten wortlos an ihr vorbei.
Eilig hastete sie in ihre Gemächer und zog sich die Tageskutte über, um den anderen noch zur
allmorgendlichen Messe zu folgen. Sie hatte sich bis jetzt noch keine Sorgen über die Folgen ihrer Tat gemacht, doch nun, als sie in der Predigt von Priester Athráyos saß, kamen ihr zum ersten Mal die Gedanken in den Sinn. „Heute Morgen wird eine Sünderin den Scheiterhaufen am Marktplatz betreten. Sie wurde gezeichnet von Héphinór, und obwohl sie noch jung ist, muss ihre Seele durch das Feuer gereinigt werden.“ Schwester Amera lächelte verschmitzt, sie wusste genau, dass heute niemand am Marktplatz verbrannt wurde.
Dennoch, für ihre Tat würde man sie des Klosters verweisen. Dann würde sie wieder auf den Straßen umherwandern und nach Nahrung betteln müssen. Auch das Waisenhaus würde geschlossen werden und die ganzen Kinder waren wieder auf sich selber gestellt. Eigentlich hätte ich mit Martha mitgehen sollen, dachte sie sich im Nachhinein und ärgerte sich über ihren Entschluss.
Die Rede von Priester Athráyos schien sich in die Ewigkeit zu ziehen. Er zitierte das heilige Buch und versuchte so, die Hinrichtung des kleinen Mädchens – das es nicht geben sollte – zu rechtfertigen. Gebannt lauschten ihm die versammelte Gemeinde. Nicht nur die Bewohner des Klosters hatte sich eingefunden, manchmal kamen auch einfache Leute aus dem Volk und wohnten der Messe bei. Niemand hatte etwas dagegen, denn das Haus der Göttin stand allen reinen Seelen offen. „Die Dunkelheit ward von nun an Héphinór habhaft, seine dunklen Schwingen breiteten sich über die Welt aus und brachten Sünden unter die Schöpfung Cophréyas. Doch nicht Angst, sondern Licht wird herrschen. Die Nacht gehört den
Dieben und Mördern, den Blutsaugern und Formwandlern, doch der Tag war des reinen Seelen Besitzes, und niemand könnte sie ihnen jemals entreißen“, las er gerade vor, als die Glocken seine Predigt zum Essen unterbrach.
Doch niemand machte Anstalten sich zu erheben, gebannt lauschten sie den Worten des Predigers, der die Aufmerksamkeit der versammelten Menge genoss. Er wollte gerade darüber erzählen, wie Héphinór versucht hatte, die ganze Welt in eine einzelne Finsternis zu hüllen, als der Abt im Türrahmen der Kapelle auftauchte. Zeremoniell für eine Hinrichtung gekleidet – in eine schwarze Kutte. Sein Haupt zierte eine schwarze Mitra, ohne jegliche Stickmuster oder Gravuren. Das Haupt erhoben trat er in die Kapelle ein, dicht gefolgt von einigen Ordensbrüdern. Überrascht blickte der Priester in Richtung des Abtes und die Menge folgten seinem Blick. Schwester Amera war überrascht ihn zu sehen, sie hatte geglaubt – und gehofft – ihn erst bei der Hinrichtung zu sehen. Beschämt sah sie zu Boden. Sie konnte diesem Mann nicht ins Gesicht schauen – ihm, den sie für einen Heiligen gehalten hatte und ihn so niederträchtig hintergangen hatte.
Die versammelte Gemeinde erhob sich beim Anblick des Abtes. Einige wenige – ausschließlich die Leute, die nicht vom Kloster waren – hatten keine Ahnung, wer der Mann war, erhoben sich aus Anstand dennoch. Auch Schwester Amera erhob sich, dass Haupt demütig gen Boden gerichtet. Langsam ging der Abt an den Bänken vorbei. Er musterte sie liebevoll angerichteten Sträucher von Bruder Arinor mit einem Lächeln und schritt gebieterisch auf den Altar vor. Priester Athráyos ging in die Knie, bis ihn der Abt mit einer Handbewegung dazu anwies, sich wieder zu erheben. Er wandte sich der Menge zu, die immer noch stand, und forderte sie dazu auf, sich zu setzten.
Grabesstille herrschte in der Kapelle, als der Abt seine Worte verkündete. „Meine lieben Brüder und Schwestern. Es ist schön, euch alle zu sehen. Wie das heilige Buch verkündet, fährt Blitz auf jeden Sünder nieder, der sich keiner Buße bewusst ist. Heute jedoch fährt die Klinge nieder auf ein kleines Mädchen, kaum älter als fünf. Dieses Kind ist von Héphinór selbst gezeichnet, sie trägt den Sichelmond als Mal am Hals.“
Er hielt inne und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Schwester Amera hielt ihren Kopf geduckt, sie wollte nicht, dass er ihr ins Gesicht sah. Nun, wo sie im Hause der Göttin saß und seine Worte vernahm, schämte sie sich der Tat, die sie begangen hatte. Sie wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sich für Martha einzusetzen und ihr zur Flucht zur verhelfen, wusste aber auch, dass sie Verrat an ihrem Glauben begangen hatte. Ratlos saß sie da und wäre am Liebsten aufgestanden, um allen Anwesenden die Wahrheit zu beichten.
„Einige unter Euch werden sicherlich Mitleid mit dem Kind haben, und dass ist auch keine Sünde. Denn Héphinór versucht uns bewusst zur Sünde zu bewegen und wenn wir dieses Kind am Leben lassen, wird es Unheil und Verderben über Ereneth bringen.“, fuhr der Abt fort. „Wir werden das Kind reinigen. Im Lichte von Cophréya wird sie sterben und ihre Seele wird gereinigt vom Feuer. In einer Stunde wird sie auf dem Marktplatz hingerichtet. Der Scheiterhaufen ist bereits errichtet, die Entscheidung wurde mit dem Rat der Ältesten beschlossen. Möge dieses Kind als Warnung stehen, dass Héphinór – mit welchen Mitteln er auch immer versuchen möge – uns niemals brechen wird.“
Niemand sprach ein Wort. Alle – außer Schwester Amera, die die Wahrheit kannte – hingen gierig an seinen Lippen und verschlungen seine Worte. Als der Abt zu Ende gesprochen hatte, schritt er die Stufen hinunter. Die Menge erhob sich erneut und blickte ihn untertänig an. Priester Athráyos war erneut in die Knie gesunken, bis der Abt die Tür hinaus und um die Ecke verschwunden war.
Er entließ die Menge zum Frühstück und eilig strömten die Mönche und Nonnen zur Tür hinaus, um sich vor dem großen Ereignis zu stärken. Auch Schwester Amera folgte ihnen in die Halle. Absolute Ruhe herrschte im Raum, lediglich die Geräusche des Essens waren im Raum zu hören. Die Stille war unerträglich – doch Pflicht – und beinahe wäre Schwester Amera aufgestanden um das Schweigen zu brechen. Sie riss sich zusammen und hielt sich zurück – ihre Kräfte brauchte sie gleich noch. Sie hatte keinen Hunger, mit gemischten Gefühlen saß sie vor ihrer Schüssel und blickte diese unentwegt an.
Keinen Bissen hätte sie in dieser Lage herunterbekommen. Sie sah sich in der Halle um, und was jahrelang ihr Zuhause gewesen war fühlte sich nun fremd und unwirklich an.
Sie wünschte sich, dass dieser Moment hier niemals vorbeigehen würde. Spontan fiel ihr ein, sie könne sich überrascht geben, dass Martha weg sein, so tun, als wäre sie auf unerklärliche Weise verschwunden. Sie würde den Abt belügen und ewig mit dieser Sünde leben müssen, ohne irgendjemandem davon zu erzählen. Sie konnte nicht einmal Schwester Alandra einweihen, da diese sie ohne eine Miene zu ziehen ins offene Messer laufen lassen würde. Sie atmete schwerfällig ein und aus. Der Verdacht würde ohne Zweifel sofort auf sie fallen, dass sie dem Mädchen zur Flucht verholfen hatte, da sie die letzte – und neben Schwester Alandra – die einzige war, die zu dem Waisenhaus Zutritt hatten. Dem Sünder sei vergeben, wenn er Buße tut, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie konnte keine Buße tun, ohne jemandem davon zu erzählen. 
Für ihren Geschmack fiel zu schnell war das Essen vorüber. Wie die anderen Mönche und Nonnen ging sie in ihre Zelle, um sich für die Hinrichtung vorzubereiten. Schwester Amera holte eine Wanne aus Eisen hervor, ging hinunter zum Brunnen und füllte diese mit frischem Wasser. Balancierend trug sie diese wieder zurück in ihre Zelle. Mit einem alten Lappen wusch sie sich, das Wasser perlte ihre Haut hinab zu den Füßen. Lediglich ihre Haare wusch sie nicht, sondern kämmte sie stattdessen mit einer alten Bürste glatt.
Nachdem sie sich gewaschen hatte zog sie ihre festliche Kluft an. Sie streifte sich die schwarze Robe mit den goldenen Streifen über, die das Schwert Blitz bildeten. Dann setzte sie sich ihre Kappe auf und versteckte ihr Haar darunter. Ein seidener Schleier hing vorne und an den Seiten herab. Sie hatte diese Kluft immer geliebt, am heutigen Tage machte sie ihr Angst. Sie fühlte sich wie ein Schaf in einem hungrigen Rudel Wölfe. Bevor sie sich auf den Weg machte, kniete sie vor dem Dachfenster nieder und suchte Mut im Gebet.
Gnädige Göttin, ich hoffe, du kannst mir meine Sünden verzeihen, sprach sie in Gedanken. Einen kurzen Augenblick verharrte sie so und dachte an die nächtliche Flucht über das Dach, und wie es unbemerkt geblieben war. In diesem Moment klopfte es an die Tür. Einer der Ordensmönche stand vor der Tür. Einen Augenblick lang dachte sie, ihr Verrat wäre schon aufgefallen, stattdessen verneigte er sich leicht. „Der Abt persönlich wünscht, dass ihr das
Mädchen von der Kammer zum Scheiterhaufen führt.
Er möchte, dass Euch diese Ehre gebührt, da ihr das Mal entdeckt habt.“ Ihre Gedanken rauschten quer durcheinander, sie spürte, wie ihr Herz anfing, schneller zu werden. „Vielen Dank, ich werde dem Wunsch des Abtes nachgehen“, antwortete sie rasch, um ihre Angst zu überspielen.
Der Ordensmönch verneigte sich erneut und eilte davon. Schwester Amera ließ die Tür mit einem lauten Krachen ins Schloss fallen und dachte nach. Verzweifelt versuchte sie sich irgendeine Erklärung zurechtzulegen, wie das Mädchen entkommen sein konnte. Doch ihr fiel kein guter Grund ein. Sie könnte behaupten, eines der Kinder hätte sie rausgelassen, doch dann würde der Abt wahrscheinlich das Waisenhaus schließen lassen. Nein, sagte sie sich entschlossen. Ich habe gesündigt, und ich werde die Folgen meines Verhaltens tragen. Und wenn ich des Klosters verwiesen wäre. Sie überlegte sich schon einmal, wo sie dann hingehen würde, doch ihr fiel kein Ort ein.
In diesem Moment läuteten die Glocken der Kapelle und der Kirche zugleich, die verkündeten, dass sich alle Bürger der Stadt am Marktplatz einfinden sollten. Schwester Amera verließ das Zimmer und schloss sich den eifrig strömenden Scharen zur Hinrichtung an. Gleich war der Moment gekommen, da sie die Wahrheit sagen musste.
Ungewöhnlich lang kam ihr der Weg in Richtung Waisenhaus an diesem Morgen vor. Dicke, helle Wolken hingen am Himmel und sorgten bei Schwester Amera für ein mulmiges Gefühl. Wie würde der Abt reagieren, wenn er die Wahrheit erfuhr? Vielleicht war er gnädig und verstieß sie nicht des Klosters, sondern ließ sie bis zum Ende ihres Lebens einen Bußdienst absolvieren.
Als Schwester Amera den Marktplatz erreichte, hatte sich bereits eine beachtliche Menschenmasse gebildet. Weit um den Scheiterhaufen herum hatten sie sich versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen.  Alle hielten gehörigen Abstand, da keiner von ihnen sich traute, näher heranzukommen. Durch die Menschenmasse kämpfte sich die junge Nonne, bis sie in der ersten Reihe. Der Abt hatte sich eingefunden, hinter ihm standen fünf Leute, die Schwester Amera als den Rat der Ältesten erkannte.
Leibhaftig hatten sie sich hier versammelt um der
Hinrichtung beizuwohnen. Ehrfürchtig sah Schwester Amera sie an, noch nie zuvor hatte sie den Rat außerhalb der Hallen einer Kirche gesehen.
Gewöhnlicherweise wohnten sie im Palast des Königs, der auf einem kleinen Hügel in der Ferne erkennen zu war. Er selbst hatte sich nicht hierherbemüht, denn solchen Anlässen wollte er für gewöhnlich nicht beiwohnen. Schwester Amera konnte auch zu gut verstehen, weshalb. Sie selbst war noch nie bei einer Hinrichtung dabei gewesen – und war auch froh, dass sie heute keine sehen würde – und hoffte auch nie bei einer echten anwesend zu sein. Einen Menschen direkt vor seinen Augen sterben zu sehen, war fürwahr kein schönes Ereignis.
Nun hatte sich schon geifernd und nach Blut lechzend eine Meute gebildet, die den gesamten Marktplatz ausfüllte. An gewöhnlichen Tagen – wenn Markt war – hatte sie diesen Ort zwar immer als belebt angesehen, nun aber war überfüllt die richtige Beschreibung. Die Anwohner der Ortsnahen Häuser hatten die Fenster geöffnet und schauten neugierig heraus, einige Kinder waren auf kleine Vordächer geklettert, um einen guten Überblick zu haben. Als die Kirchenglocken verstummten, hob der Abt seine Hand und gebot der Menge zu schweigen. Er trat einen kleinen Schritt nach vorne und begann zu reden. „Wir haben uns hier versammelt, um eine Sünderin von ihrer gequälten Seele zu befreien. Unrein ist der Geist des Kindes, doch es gibt Hoffnung für sie, dass sie durchs Feuer gereinigt wird und sich Cophréya sich ihrer annehmen wird. Schwester Amera, wärt Ihr so gütig das Kind zu holen.“
Mit einem flauen Gefühl im Magen trat sie nach vorne auf den Geistlichen zu. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Vor ihrem inneren Auge erinnerte sich die junge Nonne an das Versprechen, dass sie sich selbst gegeben hatte, die Folgen zu tragen. „Sie ist nicht mehr da.“, gestand sie mit zittriger Stimme, während sie dem Abt immer näherkam. Fragend blickte der Abt sie an. „Wie meint Ihr das, sie ist nicht mehr da?“, entfuhr es ihm und er schien noch nicht verstanden zu haben.
Schwester Amera hatte genug vom Lügen. Sie holte tief Luft und wendete sich der Menge entgegen. „Liebe Brüder und Schwestern. Alle von uns haben sich hier eingefunden, um der Hinrichtung eines kleinen Kindes beizuwohnen. Jenes Kind wird beschuldigt, ein Kind des Teufels zu sein. Sagt mir, was hat das Mädchen verbrochen, dass ihr solche Schuld zugesprochen wird? Lediglich aufgrund eines Muttermals, dass zufällig wie ein Sichelmond aussah? Ich gebe zu, im ersten Augenblick erschrak ich mich auch, aber ein Kind deswegen zu
verbrennen? Ist es das was unsere Göttin will?“ Wütend trat der Abt an sie heran und zischte ihr ins Ohr: „Was soll den das jetzt? Was bezweckt Ihr zu erreichen. Geht und holt das Kind, sofort, das ist ein Befehl.“ Schwester Amera beachtete ihn gar nicht, sondern setzte ihre Rede fort. „Doch die Wahrheit ist, es wird heute keine Hinrichtung geben. Ich habe dem Kind zur Flucht verholfen. Schon seit Stunden ist es nicht mehr hier und auch wenn ich meinen Glauben verraten habe, ich stehe dazu.“ „Nein.“, rief der Abt ärgerlich. „Das habt Ihr nicht getan.“ 
Die junge Nonne drehte sich lächelnd zu ihm um.
„Überzeugt Euch selbst davon, wenn Ihr mir nicht glaubt.“ Ihr war, als überkäme sie ein Gefühl der Macht, als könnte ihr niemand mehr Schaden. Der Abt wies ein paar Ordensmönche nach dem Mädchen schauen gehen, doch als sie nach wenigen Augenblicken ohne Kind aus dem Waisenhaus kamen, wurde er wütend. „Was habt Ihr getan“, fauchte er sie an und sie konnte deutlich den Hass in seinen Augen sehen. „Ich habe nichts getan, was ich nicht wieder tun würde.“, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Abt holte aus und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht.
Ein betäubender Schmerz durchfloss die Stelle, wo er sie getroffen hatte; benommen taumelte sie einige Schritte zurück und stürzte zu Boden. „Seht ihr“, rief der Abt der versammelten Menge entgegen. „Das ist das Werk Héphinórs. Er hat eine fromme Frau auf den Pfad der Sünde geführt. Möge Blitz auf dich niederfahren und dich vernichten.“ Einer der Männer aus dem Rat der Ältesten trat an den Abt heran. „Wie wollt ihr mit ihr verfahren, Hochwürdigster?“ Einen Augenblick überlegte er, dann klatschte er einmal in die Hände. Ein Raunen ging durch die Reihen, doch mit einer Handbewegung wies er die Leute an, zu schweigen. „Jeden Geist kann man reinigen, sei er auch noch so besessen. Entledigt sie ihrer
Nonnenkluft, sie ist es nicht wert, sie zu tragen.“  Zwei Ordensritter traten an die junge Nonne heran, halfen ihr auf die Beine und zerrten ihr die Robe über den Hals und nahmen ihr die Kopfbedeckung ab. Nur in Unterwäsche gekleidet stand die junge Nonne – unter johlenden Zurufen aus der Menge – auf dem Platz. Sie schämte sich für sich und ihr Verhalten und wünschte sich, wie wäre mit Martha mitgegangen. Tosende Zurufe kamen aus den Reihen der Meute. Peinlich berührt schaute nie nach unten und wünschte sich, dass dies ihre Strafe sei. Der Abt geheißte der Menge zur Ruhe, dann trat er auf Schwester Amera zu und sagte mit gedämpfter Stimme: „Ich, Abt Marthúrus der Erste verurteile Euch hiermit zum
Tode durch den Scheiterhaufen.“
Die junge Nonne wusste nicht, wie ihr zumute war.
Sie sank auf die Knie und begann zu weinen. „Bitte, Euer Gnaden.“, flehte sie. „Verweist mich des Klosters, unterzieht mich jeder Strafe, die Ihr für angemessen erachtet, aber bitte lasst mich am Leben.“ Der Abt beugte sich über sie und sagte mit sanfter Stimme: „Aber dies ist die Strafe, die ich für angemessen erachte.“ Er nickte zwei
Ordensmönchen zu, die sogleich an Schwester Amera herantraten und sie packten. Sie zerrten sie – unter den wachsamen Augen der schweigenden Menge – zu dem Hoch errichteten Scheiterhaufen. Die junge Nonne wehrte sich mit Leibeskräften und schrie verzweifelt nach Hilfe. „Bitte“, brüllte sie so laut sie konnte. „Bitte verzeiht mir. Ich flehe Euch an,
Hochwürdigster.“
Mit kalter, ausdrucksloser Miene sah der Abt dabei zu, wie die Mönche sie auf den Haufen aus dicken Holzscheiten und trockenem Stroh trugen und sie an den Holzpfahl banden. Ihre Hände und Füße wurden mit schweren Ketten versehen hintenrum um den Pfahl festgebunden. Ihre Arme umschlungen den Masten und sie spürte, wie sich hartes Holz in ihren Rücken bohrte. Sie spürte den Pfahl im Rücken, versuchte sich zu wehren, schrie und tritt um sich, bis sie schließlich wehrlos angekettet war.
Schwester Amera begann zu weinen, der Abt kramte das heilige Buch aus seiner Robe hervor und begann zu lesen. „Reine Seelen werden Teil der Göttin, sie nimmt sie auf um größer und mächtiger zu werden; doch Schattenseelen, ungereinigt und verdorben, werden in ewigen Qualen leiden. Hört Ihr den Ruf des Totenvogels in den Fernen schallen?“  Seine Rede wurde unterbrochen durch die Schreie von Schwester Amera, die verzweifelt versuchte, ihrem Tod zu entrinnen. „Bitte“, schrie sie flehend in die Menge.
„Gnädige Göttin, bitte hilf mir. Ihr guten Leute von Ereneth, bitte helft mir.“ Inständig hoffte sie, dass jemand ein Wunder geschehen und jemand sie befreien würde. Doch das Wunder blieb aus. Niemand sprach ein Wort. Gebannt lauschten sie dem Abt, wie er mit der einen Hand erhoben vor ihr stand und rief: „Spürt Ihr das Beben der Erde und das Trommeln im Himmel? 'Blitz´ wird kommen und richten; hört ihr Sünder, hört, denn die Klinge wird kommen und euch tausendfach rächen, was Ihr getan habt.“ Mit diesen Worten schritt er zum Scheiterhaufen. Die beiden Ordensmönche, die Schwester Amera angekettet haben, entzündeten zwei Fackeln, die sie bedrohlich in die Luft hielten. Die junge Nonne sah das flackernde Licht - noch fern - und sie fürchtete sich vor dem, was gleich kommen würde. „Du hast Sünde begangen, bekennst du dich dessen schuldig?“, fragte sie der Abt. „Ja“, rief Amera verzweifelt, in der Hoffnung, dass es sie noch irgendwie retten würde. Einige verletzende Zwischenrufe kamen aus dem Volk, die Nonne meinte, Begriffe zu hören wie Hure oder Ausgeburt der Hölle. Sie schluckte.
„Vom jetzigen Augenblick lang bis in alle Ewigkeit bist du des Klosters verstoßen. Du bist nun keine Schwester mehr, denn die Ehre, als solche zu sterben steht dir nicht zu.“ Amera schwieg und begann leise zu weinen. „Bist du der Verbrechen bewusst, die dir vorgeworfen werden?“, fuhr der Abt fort. „Ja.“, antwortete Schwester Amera leise. Buhende Rufe tönten von den Reihen um sie herum, wieder wurden ihr gehässige Worte an den Kopf geworfen, doch der Abt ließ sich nicht beirren.
Einen kurzen Moment lang stellte sie sich vor, wie die Meute – die sie zu hassen schien – losstürmte und sie lynchte. Was ist schlimmer? Lebendig verbrannt oder gelyncht zu werden? fragte sie sich, doch die
Antwort darauf wollte sie lieber nicht wissen.
„Amera, aus unbekanntem Haus ohne
Familiennamen. Dir wird vorgeworfen, dich mit dem Teufel verschworen und ein Kind der Hölle befreit zu haben. Dir wird vorgeworfen, deinen eigenen Glauben hintergangen und betrogen zu haben. Du wirst der Lüge und der Missachtung von
Klosterregeln bezichtigt. Leugnest du das?“ Amera überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: „Ich leugne nicht, die Sünden begangen zu haben aber ich streite es ab mich mit dem Teufel verschworen zu haben.“ Sie versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben, was ihr im Angesicht der tobenden Menge und der Aussicht, gleich zu verbrennen, schwerfiel. Der Abt blickte sie einen Moment mit ernster Miene an, dann sprach er. „Gestehe noch deine letzten Sünden, wenn du möchtest. Dann besteht Hoffnung, dass die Göttin deine Seele errettet.“ Schweigend überlegte sie, ob sie ihre Hinrichtung hinauszögern und etwas sagen sollte. Doch Angst vor dem Tod überkam sie und wenn sie schon sterben musste, dann sollte es bald sein. „Ich habe nicht mehr zu gestehen.“ Die Leute rasten vor Wut, schrien Lügnerin und allerlei Schimpfwörter. Mehrere Menschen begannen, mit Steinen nach ihr zu werfen. „Lasst die Ratte brennen“, schrie einer. „Nieder mit der Macht
Satans.“, schrie eine andere.
Stumm blickte sich Amera um. Sie erkannte die
Leute vom Markt, den Schmied, den Fleischer. Ihr Blick blieb bei den Kindern des Waisenhauses hängen, die verängstigt hinter Schwester Alandra standen. Einige hielten sich die Hände vor die Augen, denn sie wollten nicht sehen, was gleich geschehen würde. Neben der alten Nonne stand der Bäcker, der sie mit einem mitleidigen Blick anschaute. Mit den
Lippen formte er die Worte: „Die Göttin sei bei dir.“
Bedrückt sah die junge Frau nach unten. Sie sah die
Holzscheite, die bald brennen würden… Sie wollte sich die Schmerzen nicht vorstellen und hoffte, dass sie vorher am Rauch erstickte. Der Abt trat einen
Schritt näher. „Falls du noch letzte Worte hast, ist nun die Zeit gekommen, sie zu sprechen. „Bitte kümmert Euch um die Kinder des Waisenhauses.“ Einen Augenblick starrte sie den Abt an, dieser nickte stumpf und drehte sich zu der tosenden Menge, die er gelinde mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. „Nun denn“, verkündete er und nickte den Ordensmönchen zu. Die beiden traten einen Schritt vor und entflammten den Scheiterhaufen.
Das trockene Stroh brannte schnell nieder und kokelte die großen Holzscheite an. Schnell hatte sich ein kleiner Ring aus Feuer um den Pfahl entfacht und als die ersten schwarzen Rauchwolken aufstiegen, wusste Amera, dass ihr Schicksal besiegelt war. Anfangs hielt sich das Feuer noch im Saum, schließlich wurde es größer und begann sich, langsam nach innen zu fressen. Der Rauch wurde unerträglich, Amera hustete und spuckte, jeder Atemzug schmerzte unbarmherzig in der Lunge. Gnädige Göttin, erlös mich schnell dachte sie, während die
Flammen schon dicht bei ihr waren. Die anfängliche Wärme entwickelte sich allmählich zu einer unerträglichen Hitze. Schnell hatten die Flammen ihre nackten Füße erreicht, die Schmerzen nicht mehr auszuhalten.
Amera begann zu schreien, zu kreisen und versuchte panisch, sich zu befreien. Ihre panischen Schreie füllten den Marktplatz und erfüllten die Menge mit Grauen. Die Schreie fuhren durch Mark und Bein und selbst der Abt war zusammengezuckt. Ihre Rufe um Gnade wurden immer kürzer, sie röchelte und hustete, brüllte sich die Kehle aus dem Leib. Schließlich verstummten ihre Schreie, leise hörte man das Feuer knistern und schwarze Rauchwolken in den Himmel steigen.












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