D I E U N N A H B A R E
Am Mittwochmorgen nutze ich meine Freistunde, um in der Bibliothek an meiner Hausarbeit für Anatomie zu arbeiten. Um diese recht frühe Uhrzeit sind die kleinen Tische weitestgehend leer und ich suche mir in Ruhe meine Bücher zusammen, die nun zu einem ordentlichen Stapel neben mir liegen. Mein Schreibblock ist schnell mit allen möglichen Notizen gefüllt, die ich aus meiner Lektüre ziehe und teilweise im Internet in die Tiefe gehend recherchiere. Zum Glück bin ich nicht auf den Kopf gefallen und kann wissenschaftlich fundierte Fakten von falschen Behauptungen unterscheiden. Vor einigen Monaten erst war eine absurde Studie über das männliche Geschlechtsteil im Umlauf – ziemlich gut gemacht, aber ebenso schnell auch zu entlarven –, auf die viele meiner Mitstudenten hereingefallen sind.Mit angewinkeltem Bein und gedankenverloren auf einem Stift herumkauend sitze ich vor einem besonders dicken Wälzer und lese fasziniert einen Abschnitt über die Thymusdrüse als Teil des Immunsystems.
„Was würde ich jetzt dafür geben, dieser Stift zu sein", höre ich plötzlich und lasse erschrocken mein Schreibutensil fallen, sodass es über den Tisch rollt und kurz vor der Kante liegen bleibt. Diego sitzt mir gegenüber und schenkt mir ein derart dreckiges Grinsen, dass ich sofort das Gefühl habe, rot werden zu müssen.
„Wie lange sitzt du schon hier?", frage ich wie aus der Pistole geschossen und spüre die Hitze in meinem Gesicht.
„Lange genug, um wirklich neidisch zu werden."
Genervt über seine offensichtliche Übertreibung verdrehe ich die Augen und widme mich wieder meinem Buch.
„Lernst du für Physiologie?" Er streckt sich, um einen Blick auf die Seiten zu erhaschen, die zur Hälfte von meinem Block verdeckt werden.
Ich schüttle den Kopf. „Anatomie", korrigiere ich knapp und blättere bemüht lässig um.
„Wenn du ein Versuchsobjekt brauchst, stehe ich dir mit Vergnügen zur Verfügung."Glaubt er eigentlich, dass er mich mit seinem neckischen Zwinkern irgendwie beeinflussen kann?
„Ach, weißt du", säusle ich und nehme den Stift wieder in die Hand, um damit auf die Seiten des Buches zu tippen, „das hier befasst sich mehr mit den inneren Werten eines Menschen, ist also nicht gerade dein Fachgebiet."
„Ich gebe dir gerne die Chance, mich von innen und außen kennenzulernen", erwidert Diego nach einem seligen Moment der Stille, sodass ich nun restlos genervt mein Buch zuklappe.
„Bekommst du eigentlich für jeden blöden Anmachspruch, den du dem weiblichen Geschlecht an den Kopf wirfst, einen Dollar?"
Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Nein, aber Meilen auf meiner Überfliegerkarte."
Mit einem tiefen Seufzen und unnötig laut knalle ich mein Buch auf den Stapel und beginne damit, die Bücher zurück in ihre ursprünglichen Regalplätze zu räumen.
„Willst du immer noch nicht meine Nachhilfelehrerin werden?"
Großer Gott, jetzt folgt mir dieser Stalker auch noch.
Ich wirble herum und bemühe mich, ihn mit meinen Blicken zu erdolchen, während meine Hand am Regal lehnt. „Die Antwort lautet nach wie vor Nein! Hast du nichts anderes zu tun, als mir auf den Geist zu gehen? Dem Rock einer Cheerleaderin hinterherzusabbern beispielsweise?"
Er schüttelt amüsiert den Kopf.
Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich mich langsam auf den Weg zu meiner Verabredung mit Nika machen sollte, also lasse ich Diego einfach stehen, schnappe mir meine Tasche und eile aus der Bibliothek.
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Challenging Disasters - Losing You (ehemals Two Faces)
Chick-Lit[ INFO 17.04.2021 & 22.10.2021] Auf Leseprobe gekürzt. Am 22.10.2021 wurde diese Geschichte unter dem Titel Challenging Disasters - Losing You über einen Verlag veröffentlicht. _________ Als Anastasia von New York nach Montana zieht, ist es wie e...