Prolog

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Der Boden knarzte unter meinen Füßen bei jedem Schritt, den ich tat.
Das Licht des Flures schien in einem alt-gelblichen Ton auf mich herab
und das Schreien meines
Bruders ließ meine Ohren piepen,
meine Augen wässern
und mein Herz auf die schlimmste Art und Weise schmerzen.

Eine Vase ging zu Bruch,
wahrscheinlich die eine, die meine Mutter von unserer Großmutter zu
Weihnachten bekam.
Sie mochte sie sowieso nicht.
Sowohl die Vase, als auch unsere Großmutter.

Ich hoffte nur,
dass Vater dieses Mal bessere Laune hatte.

Auf Zehenspitzen schlich ich vorsichtig weiter,
was sich als ziemliche Zeitverschwendung herausstellte,
da der Boden so oder so Geräusche machte.

Am Ende des Flures angekommen,
klopfte ich kaum merkbar
an die graue Tür.
Große Kratzer zierten diese.
Und hinter jedem stand eine unbedeutende, schmerzhafte Geschichte,
die uns drei verfolgte,
aber für unsere Eltern nicht von Bedeutung war.

„Komm rein",
erklang es dumpf von der anderen Seite der Tür.
So leise wie möglich öffnete ich die Tür,
öffnete sie nur einen Spalt
und schlüpfte durch diesen schnell hindurch.
Danach schloss ich sie.

Die Schreie waren nun leiser,
aber sie waren da.
Sie waren nicht mehr so laut,
aber hallten dafür dreimal so laut in meinem Kopf wider.

Und schon wieder stand ich dort,
an die Tür gelehnt,
in einem riesigen Pullover, der mir bis zu den Knien ging,
mit rot unterlaufenden Augen
in dem Zimmer meines älteren Bruders,
bekam kaum Luft
und fühlte mich wie das letzte Stück Dreck.

„Können wir nicht wenigstens dieses Mal etwas dagegen tun?",
fragte ich mit heiserer Stimme,
versuchte dabei meine Schluchzer so gut es ging unter Kontrolle zu bringen.

Mit dem Rücken zu mir gedreht saß er an seinem Schreibtisch und schaute nicht auf.
Vor ihm lagen seine Mathehausaufgaben von letzter Woche, die schon längst hätten fertig sein sollen.
Natürlich tat er sie nicht.
Er hatte seinen Kopf auf seine verschränkten Hände gelegt und starrte aus dem Fenster.

Es beruhigte ihn, sagte er mir.
Es beruhigte ihn zu sehen, wie die Straßenlaternen angingen.
Wie die Scheinwerfer der Autos plötzlich heller erschienen.
Wie die ersten Sterne am Himmel aufgingen.
Das machte das Schreien zwar nicht erträglicher,
aber leiser.

Er atmete ein Mal tief durch.
„Du weißt, das können wir nicht riskieren",
antwortete er flach und drehte sich langsam mit seinem Drehstuhl um.

Seine müden Augen waren auf die meinen gerichtet.
Sie waren auch ein wenig rot angelaufen.
Seine Wange wurde von einem riesigen blauen Fleck verziert,
den ich zuvor noch nicht gesehen hatte.
Doch auf seinen Lippen lag immer noch ein beruhigendes Lächeln, doch selbst das war voller Müdigkeit.

Geschockt starrte ich in sein Gesicht.
Die nächsten Tränen schossen mir in die Augen bei seinem Anblick.
„Warum...?"
„Ich hab wohl zu viel geredet."
Sein Lächeln verschwand nicht.

Mit zitternden Beinen ging ich langsam auf ihn zu.
Vor ihm blieb ich stehen und streckte meine Hand nach seiner Wange aus.
„Es sieht schlimmer aus,
als es eigentlich ist",
versuchte er mich aufzumuntern,
was aber kläglich scheiterte.

Als ich seine Wange berührte, zuckte er nicht zusammen.
Er sah mir einfach mit einem warmen Blick in die Augen.
Das konnte er schon immer gut.
So tun, als wäre nichts.
Als wäre alles gut.
Als wäre er nicht geschlagen worden.
Als wäre er nicht kaputt.

Aber so war es nicht.
Es war etwas.
Er war geschlagen worden.
Er war kaputt.

Aber das zeigte er nicht.
Entweder er wusste nicht wie
oder er wollte einfach andere nicht sehen lassen, wie es ihm wirklich ging.
Oder beides.

„Es ist okay."
Verwirrt sah er mich an.
„Was ist okay?"
Mehr Tränen sammelten sich in meinen Augen und ließen mich verschwommen sehen.
„Zu weinen",
flüsterte ich und merkte, wie die erste Träne mein Auge verließ.
Mein Bruder lächelte wieder und schüttelte seinen Kopf.

„Es ist okay.
Aber ich habe keinen Grund zu weinen."
Ich schüttelte den Kopf.
Er nahm meine Hand von seiner Wange und schloss sie in seine eigene.
Er lag so falsch.
Er hatte allen Grund zu weinen.
Und es war okay.
Oder etwa nicht?

Er drückte meine Hand ein wenig.
„Es ist okay."

Die Schreie wurden immer leiser,
bis sie ganz verschwunden waren.
Für einen kurzen Moment dachte ich Reue in seinen Augen gesehen zu haben.
Er bereute es,
nicht ja gesagt zu haben,
als ich in sein Zimmer kam.
Das tat er immer.
Mit meiner freien Hand wischte ich meine Tränen von den Wangen.

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?"
Er nickte nur stumm und lächelte mich weiter an.
Er erhob sich von seinem Stuhl und ging Richtung Bett.
Er ließ mich zuerst in das Bett steigen,
da er wusste,
dass ich lieber an der Wand schlief.

Er legte die Bettdecke über uns beide und schaltete das Licht seiner Nachttischlampe aus.
Danach legte er sich so, dass er mich weiter angucken konnte.

„Denkst du, es geht ihm gut?",
fragte ich und kuschelte mich an ihn.
Das gleichmäßige Senken und Heben seiner Brust ließ mich langsam zu Ruhe kommen.
„Ich weiß es nicht",
antwortete er wahrheitsgemäß und schluckte ein Mal.

Ich zog die Decke noch ein wenig über meinen Kopf und versuchte, weitere Tränen zu unterdrücken.
Erst nach etlichen Stunden fielen mir die Augen zu und für ein paar Momente konnte ich der Realität entkommen.

devastated [h.rj x n.jm] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt