Kannibalismus für die Psyche

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// dieser Text ist soeben sehr spontan entstanden, inspiriert von ausgewählten Zufallswörtern (erhältlich, enorm, optional, fanatisch und Kannibalismus - welcher abgesehen vom Titel nirgendwo mehr auftaucht). für mich hat der text ein ziemlich klares zentrales Thema, wer allerdings etwas eigenes hinein interpretieren will, nur zu. künstlerische Freiheit für alle.


Dieses Ticket für die Zukunft ist auch noch in blau erhältlich, sagt der Fachverkäufer an der Theke.

In blau?,frage ich.

In blau,sagt er.

Ich frage, okay, was ist daran der Vorteil?

Ja,sagt der Verkäufer, ja, das bringt vor allem Vergesslichkeit, aber nicht im Alltag sondern an die besonderen Momente, das bringt Risiko und Schmerz nach Anwendung, individuell je nach Dosierung, Körpermaß und psychischer Belastbarkeit.

Aber, warum kaufen Leute das?, frage ich den Verkäufer, den ich unterbrechen muss, bevor ich mir noch weitere Stunden negative Eigenschaften eines Produktes anhören muss, das ich gar nicht haben will.

Weil,sagt der Verkäufer, es die schönen Momente schöner macht, weil es nach dem Alltag und noch vor dem Schmerz das Risiko zur Freiheit umbenennt, und, sagt er nun etwas nachdenklich,weil alle es haben, braucht es nun jeder.

Ich runzle die Stirn. Aha. Was bedeutet das jetzt? Brauche ich jetzt auch dieses Ticket in blau?, frage ich den Fachverkäufer an der Theke meines Vertrauens.

Es ist optional dazu buchbar.

Hm.

Und außerdem enorm beliebt. Jeder hat es, jeder will es. Extra Spaß, extra Fun.

So wie er Fun sagt, habe ich das Gefühl, er hätte das Wort zuvor extra in einem roten Duden für Fremdwörter nachgeschlagen. Ich will nicht wie ein Spießer wirken, der zu allem nein sagt, also frage ich ihn nach dem Kostenpunkt.

Der Fachverkäufer für Zukunftswünsche an der Theke meines Vertrauens irgendwo im Niemansland dreht ein kleines Etikett zu sich und ließt den Wert, dann lacht er mich an, natürlich ist das preislich schon eine Investition, aber nirgendwo finden Sie ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis als bei uns.

Ich sehe mich um. Außerhalb des Geschäfts befindet sich eine karge Wüstenlandschaft, ich weiß, dass es etwa 12 Meilen bis zur nächsten Tankstelle sind, da gibt es jedenfalls keine Zukunftspläne zu kaufen. Nur Sprit. Aber der bringt einen nirgendwo hin, ohne Zukunft.

Es bimmelt an der Tür, erstaunt drehe ich mich um, ein weiterer Kunde betritt den Laden. Der Geschäftsführer wirkt ruhig und entschuldigt sich einen Augenblick um mit dem jungen Mann zu sprechen, offensichtlich bin ich immer noch unentschlossen. Ich stehe hier mit meinem weißen Ticket, das ich mir leisten kann, eigentlich hätte ich gerne das grüne genommen, aber das ist praktisch unbezahlbar.

Der Junge neben mir bestellt das blaue. Er wirkt cool und gelassen. So als hätte er das schon tausendmal getan, dabei kann er kaum älter sein als ich. Vielleicht geht das Leben schneller rum mit blauem Ticket, denke ich, das wär ja mal ein plausibler Grund. Und während ich fanatisch meine Pro-und-Kontra-Liste im Pingpongpronzip durch meinen Kopf laufen lasse, erhält der Typ neben mir seine Bestellung und verlässt den Laden mit einer Hand in der Hosentasche, der anderen um den Plastikbecher mit blauem Slush-Eis, während er seine Zukunft wortwörtlich in sich aufsaugt.

Mit einem gewinnenden Lächeln kommt der Verkäufer meines Vertrauens im Niemandsland-Zukunftswunschgedanken-Geschäft zu mir zurück, Sie wünschen, wir schaffen, lese ich das Logo, das überall im Laden prangt. Haben Sie sich entschieden, Miss?

Ähm ja... ich nehme das blaue Ticket.Ich rede mir schon jetzt ein, dass es das wert ist und mich zu einer besseren Person macht.

Sehr gerne, erwidert der Fachverkäufer. Er tippt an seinem Computer alle Einstellungen durch über die wir bereits gesprochen haben, dann druckt er ein Formular aus. Einmal hier unterschreiben.

Er deutet auf ein kleines Kreuz, an dem ich nun den Kuli ansetze, den er mir in die Hand gedrückt hat. Ich schreibe den ersten Buchstaben meines Namens. Es ist blaue Tinte. In diesem Moment kehrt der Junge zurück, er wirkt etwas neben der Spur, der Becher in seiner Hand ist leer. Er stellt ihn auf der Theke ab. Einmal blau, sagt der Junge. Der Fachverkäufer geht zu ihm herüber, wirft den Becher in einen Mülleimer, wischt über die Theke. Dann stellt er einen frisch gefüllten auf den Tisch. Ich denke vor allem daran, dass, hätte er den grünen Tarif gewählt, er den wiederverwendbaren, hochwertigen Keramikbecher erhalten hätte, mit schönen Blumenökomustern drauf. Ich sehe dem jungen Mann hinterher wie er gerade zum zweiten Mal innerhalb einer viertel Stunde schon eine Investitiongemacht hat und sein Gang langsam etwas unvorhersehbarer wirkt.

Der Fachverkäufer wirkt nun schon nicht mehr ganz so motiviert, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. Ich schiebe das halb unterschriebene Dokument von mir weg. Entschuldigen Sie, aber ich glaube, ich bin noch nicht bereit für diese Zukunft.Mit diesen Worten verlasse ich das Geschäft ohne Zukunftspläne und fahre zur nächsten Tankstelle 12 Meilen entfernt. Ich kaufe mir erst mal Sprit für die nächsten 100 Meilen, damit komme ich weiter als mit dem Plan mir mehr Pläne zu machen.

NON:SENSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt