Anouk betrat etwas benommen ihr kleines, schlecht beleuchtetes Schlafzimmer.
Sie hatte heute Morgen vergessen die Jalousien hochzuziehen, aber dieses schummrige, einlullende Licht war ihr momentan durchaus lieber als die pralle und stechende Sonne.Ein ratterndes Geräusch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Nanu. Hatte sie tatsächlich die gesamte Nacht lang den Computer laufen lassen?
Daraus wird sich die Stromrechnung sicher noch einmal neu berechnen.
Anouk seufzte bei dem Gedanken, da sie ohnehin nicht viel Geld auf dem Konto übrig hatte und ihr Ex-Freund - sie nannte ihn gerne Mr. Money - logischerweise keinen Groschen mehr für sie übrig hatte.Er hatte noch bis vor drei Wochen gemeinsam mit ihr in dem kleinen Apartment gelebt, aber ihre Krankheit hatte ihn offensichtlich sehr überfordert.
Das Einzige, was ihr von Mr. Money geblieben war, war ein blau-kariertes Hemd, welches er wohl im Eifer des Gepäckpackens vergessen hatte, und ein Zettel, auf dem stand: "Es tut mir leid, die Sache ist mir über den Kopf gewachsen."Nachdenklich sackte die brünette Studentin auf das Bett, die Decke hing halb auf dem Boden. Sie nahm das Hemd jenes Mannes und umschloss es mit ihren zierlichen Armen, während sie sich den weichen Stoff gegen die kalte Wange drückte.
Sie hatte ihn geliebt, so sehr, dass es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, als sie vor freudiger Erwartung nach einem abendlichen Friseurbesuch, mit feinen, kastanienbraunen Locken zur Tür hineinkam und nur noch sein teures Eau de Cologne in der muffigen Wohnung gerochen hatte.
Der Mann war verschwunden und mit ihm Anouks Lebensfreude."Hm?", ein weiteres, eigenartiges Geräusch störte Anouks lieblich-schmerzenden Erinnerungen.
Ein kleines, blaues Licht leuchtete am Computer auf.
Zögerlich legte sie behutsam das Hemd beiseite und schlich zum lärmenden Rechner hinüber, um mit einem Knopfdruck den Monitor anzuschalten."Hallo, AnoukSinclair", dies war eine der Nachrichten, die auf ihrem Desktop aufgepoppt waren.
AnoukSinclair, diesen Benutzernamen hatte sie sich damals sehr sorgfältig überlegt.
Er war eine Anlehnung an einen amerikanischen Regisseur von Internet-Videos über die moderne Popkultur und ihre dekadente Wirkung auf die Gesellschaft, Titanic Sinclair, gewesen.
Sie bewunderte ihn sehr für seine Werke."Guten Tag, AnoukSinclair", las sie wiederum in einer anderen Nachricht.
Es mussten gut ein Dutzend sein und sie waren einfach so, ohne irgendeinen erkennbaren Hintergrund auf dem Bildschirm aufgetaucht.Vor ein paar Tagen hatte sich Anouk in einem Forum für Menschen mit einem Hang zum Esoterischen angemeldet, in welchem Fragen rund um die innere, geistliche Energie, philosophische Themen und sogar Geisterbeschwörungs-Rituale diskutiert wurden, und diese Nachrichten schienen allesamt von einem anderen User dieser Seite zu stammen.
"Hallo?", Anouk hatte sich ein Herz gefasst und dem geheimnisvollen Nachrichtensender zurückgeschrieben.
Kurz darauf erhielt sie eine sehr kryptische, wenn auch interessant klingende Rückmeldung:
"Auf Pfaden, dunkel, voller Grausen,
Wo nur böse Engel hausen,
Wo ein Dämon, Nacht genannt,
Auf schwarzem Thron die Flügel spannt,
Aus letztem düsterm Thule fand
Ich jüngst erst her in dieses Land –
Aus Zauberreich, so wild und weit,
Fern von Raum, fern von Zeit."Nachdem sie einigermaßen registriert hatte, dass es sich um ein Gedicht handelte, ergriff sie abermals die Initiative und versuchte ihren Chatpartner weiter auszuquetschen.
"Was willst du von mir?""Aus letztem düsterm Thule fand
Ich jüngst erst her in dieses Land –
Aus Zauberreich, so wild und weit,
Fern von Raum, fern von Zeit.
Darum will ich dir nun zeigen,
hin den Weg in dieses Land,
Fern von Raum, fern von Zeit.Sag mir nur .. bist du bereit?"
Langsam verstand die junge Frau nicht mehr genau, was der User von ihr wollte.
Eine Frage noch, dachte sie, mit der sie vielleicht herausfinden konnte, wer diese Person war.
"Wer bist du?"Ihre Augen verfolgten fragend die Buchstaben, die auf ihrem Monitor erschienen:
"I n t e r n a l R e a l i s m"
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Internal Realism
Mystery / ThrillerAnouk Ludwig befindet sich an dem Ort, den man gemeinhin als Abseits der Gesellschaft bezeichnet. Sie redet nicht gerne und auch nicht viel. Stattdessen beobachtet sie und sieht Dinge. Dinge, die nicht dort seien sollten. Die Medikation gegen...