Lucidity

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'Was nun?', fragte sich Anouk, die Augen stur auf den Bildschirm gerichtet, auf welchem der Tor-Browser nur ausharrte, bis jemand mit ihm im Internet etwas suchte.

Es dauerte gar nicht so lang, wie sie ursprünglich angenommen hatte, da erschien endlich eine neue Nachricht von Internal Realism.
Ein weiterer Link.

Und dieses Mal war sich Anouk überhaupt nicht sicher, um was es sich hierbei handeln könnte, denn zuerst einmal enthielt der Link keine namentlichen Hinweise und zum Anderen war es ganz offensichtlich eine Top-Level-Domain, die sie nicht kannte. Der letzte Bestandteil der Adresse war weder com, noch de oder org, sondern onion.
'Zwiebel', überlegte das Mädchen, 'ist das ein Scherz?'

Sie wartete einige Augenblicke. Jedoch hatte sich Internal Realism wieder dezent aus dem Geschehen zurückgezogen. Es schien ihr fast, als wartete er, beziehungsweise sie selbst - das war immer noch eines der vielen Heimlichkeiten, die diese Person umgaben - nur darauf, dass Anouk auf die Webseite gelang.

"Was ist das für ein Link?", fragte Anouk voller Misstrauen. Wenn sie dieser Gestalt, die sich nur über konfuse Formulierungen mit ihr unterhielt, Vertrauen schenken sollte, musste diese ihr auch irgendwie ein vertrauliches Gefühl vermitteln können.

"Ewig bodenlose Schlünde,
Klüfte, Schlüfte ohne Gründe,
Unbegrenzte Wassermassen,
Die sich nie in Ufer fassen,
Wälder, die kein Ende nehmen,
Die – titanenhafte Schemen –
Tropfend stehn in Nebeltau,
Endlos wuchtend, endlos grau!"

Anouk seufzte. Dieser Mensch, oder was auch immer es war, wirkte wenig aufschlussreich und das, was es von sich gab, war schlichtweg diffus und unverständlich.
"Wie soll ich das verstehen?", hinterfragte sie, ohne näher auf das Gesendete auf ihrem Desktop einzugehen.

"Berge, endlos niederfallend,
Meere, in kein Ufer wallend,
Meere, die urewig fluten,
Himmel, die urewig gluten,
Weiher, die unendlich breiten
Stummer Wasser Einsamkeiten,
Die in Tod und Stille liegen
Und den Schnee der Lilie wiegen."

'Jetzt reicht es aber!', tobte Anouk gedanklich. Wild schmetterte sie auf ihrer Tastatur:
"Was soll das?! Wenn du etwas von mir willst, dann drück dich klar und deutlich aus! WAS IST DAS FÜR EIN LINK, DEN DU MIR GESCHICKT HAST?"

"D R E A M L A N D", genau wie zuvor der Name des geheimnisvollen Users im Nachrichtenfenster aufgetaucht war, erschien dieses Wort nun und die tiefschwarzen, flimmernden Buchstaben spiegelten sich in Anouks Pupillen.
War es das, was sich hinter der Adresse verbarg? Etwas, was den Namen 'Dreamland' trug?
Anouk wollte das eigentlich gar nicht genau herausfinden, zumal ihr der Schock von vorhin noch tief in den Knochen saß und sie bei jedem kleinen Geräusch erschaudern ließ.

"Was ist Dreamland?", fragte sie stattdessen und erhielt einen weiteren Teil des Gedichts:

"Für das Herz voll tausend Wehen
Ist es hier ein friedvoll Gehen –
Für den Geist, den Schatten bannt,
Ist's ein paradiesisch Land!
Doch wer wandert durch dies Grauen,
Wage niemals aufzuschauen,
Nie den schwachen Blick zu heben
In das Weben und das Beben,
Senke das bewimpert Lid,
Daß es kein Geheimnis sieht.
So des Königs Machtbefehle.
Und so darf die trübe Seele
Hier nur im Vorübergehen
Durch getrübte Gläser sehen."

Diese Zeilen blieben Anouk ganz besonders im Gedächtnis hängen. Bei wiederholtem Lesen wurde ihr allmählich klar, worum es hierbei ging: Um etwas fernab der Realität. War es das, was ihr Internal Realism zeigen wollte? Eine virtuelle Welt?
Zu ihrer Überraschung wiederholte die Person noch einmal die allerersten Zeilen, die er oder sie ihr gestern geschickt hatte, wobei der letzte Abschnitt des letzten Satzes deutlicher markiert war.

Internal RealismWhere stories live. Discover now