«Ich glaube, ich bin voll»
Ich blickte Harry entschuldigend an und machte Anstalten aufzustehen, doch er klammerte sich an meinen Arm und zwang mich damit auf meinem Platz zu bleiben.
«Willst du mich verarschen? Du bist erst seit zehn Minuten am Tisch. Das war nur die Vorspeise, mein Lieber!», zischte er und funkelte mich mahnend an.
Harry wusste sich durchzusetzen, und so blieb ich am Tisch und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum.
«Harry?», fragte ich wehleidig und musterte ihn fragend.
«Nate, du hörst dich an, wie ein quengelndes Kleinkind! Halt endlich den Rand!», fauchte mein bester Freund und schüttelte den Kopf.
Jetzt verkrampften sich meine Finger bereits in der weißen Tischdecke. Es wurde grade ein Tablett mit Kaviar rumgereicht, als ich mit meiner Geduld am Ende war. Ich wollte aufspringen und die Feier verlassen, als das Schicksal mir unter die Arme griff.
Der Kellner übergab das Tablett einem Gast, welcher sich unbedingt selbst bedienen wollte. Dieser gab es an seinen Sitznachbarn weiter und dann geschah die Katastrophe.
Zumindest hatte Harry es danach so genannt.
Der Kaviar landete auf der alten Dame, die mich auf der Feier abgefangen und zu ihren Freundinnen gebracht hatte. Sie verfluchte Gott und die Welt, aber auch den armen Kellner, der mit der Sache eigentlich nichts zu tun hatte. An einem anderen Tag hätte ich den Mann im schwarzen Frack und den weißen Handschuhen verteidigt, aber an dem Tag flüchtete ich.
Ich hörte die Frau noch schreien, dass das Kleid ein Einzelstück wäre und dass es mehr gekostet hat, als diese ganze Fete. Das löste natürlich einen empörten Aufschrei der Braut aus und kurz daraufhin stritten sich die Anwesenden untereinander.
Als Harry mein Fehlen bemerkte und nach mir rief, war ich schon in dem kleinen Park verschwunden.
Diese Grünanlage glich aber mehr einem Wald, als einem Park, der zu einer Villa gehörte.
Die Äste versperrten mir den Weg und die Wurzeln schienen es darauf angelegt zu haben, mich zu Fall zu bringen.
Ich stolperte durch die Gegend, fühlte die Zweige an meinen Haaren ziehen und atmete erst auf, als ich bei dem See ankam, der in der Mitte des Waldes war.
Sofort erblickte ich das Blumenmädchen.
Sie saß am Ufer und als ich näher kam, sah ich, dass sie Steine flitschte.
Die runden Kiesel hüpften über die Wasseroberfläche, hinterließen große Kreise auf dem Wasser und sanken dann lautlos auf den Seegrund.
«Hallo...», begrüßte ich sie zögerlich und setzte mich neben sie auf den Boden.
«Ich bin Nate», fügte ich etwas selbstsicherer hinzu und schaute sie von der Seite an.
Sie hatte ausgeprägte Wangenknochen, schmale Lippen und lange Wimpern.
«Taissa», antwortete sie mir und warf einen neuen Stein in den See.
Gemeinsam beobachteten wir, wie er über die Seeoberfläche hüpfte.
«Du warst bei der Hochzeit», stellte ich fest und schaute sie erneut an.
«Ja, mein Vater ist dort Gärtner», erklärte sie und ich wusste, dass ich mich schon allein in ihre Stimme verliebt hatte.
«Wir wohnen die Straße runter am See»
Ich hatte den See auf der Hinfahrt gesehen.
Es war ein schönes Fleckchen unberührter Natur und ich konnte mir vorstellen, dass sie und ihr Vater sich dort ein kleines Paradies aufgebaut hatten.
«Erzähl mir mehr über dich», die Worte rutschten aus mir heraus und ich hatte Angst, dass sie mich nur schief ansehen würde, aber sie nickte freudig und fing an zu reden.
«Meine Freunde und ich, wir fahren diese Ferien runter in den Süden. Kennst du die Klippen dort?»
Ich war noch nie im Süden Englands gewesen, also hatte ich auch keine Ahnung, wie die Klippen dort aussahen.
«War noch nie dort», gab ich von mir.
«Wir werden springen und wie Vögel fliegen. Daniel liebt das Springen. Und das Meer», erzählte sie.
Ich hoffte sehr, dass dieser Daniel sich nicht im nächsten Satz als ihr Freund entpuppen würde.
Es war ungewöhnlich, dass ein Mädchen mit so einer Geschichte anfing.
Meistens wird erst der Geburtstag, die Hobbys oder die Herkunft erzählt.
«Daniel...dein Freund?», hakte ich nach.
Sie winkte ab.
«Nein, aber Kit. Also Kit war mein Freund. An meinem Geburtstag, da waren wir am Strand. Auch im Süden. Die Möwen dort sind unglaublich. So laut und so schön. Aber mit Kit war ich auch in London. Wir waren zusammen auf dem Riesenrad!»
«Du meinst das London Eye?», fragte ich.
«Nein! Das Riesenrad auf dem kleinen Jahrmarkt. Da waren auch Pferde Karussells. Kennst du diese Pferde aus Holz, die so bunt angemalt sind?»
«Ja, darauf fährt die kleine Schwester von Harry gerne», antwortete ich und musste schmunzeln.
Sie schwärmte so von diesen Attraktionen für kleine Kinder.
Ich konnte sie mir sehr gut auf einem graziösen lackierten Holzpferd und ihr Lachen dabei vorstellen.
«Ja, Accrington war toll», seufzte sie und blickte verträumt auf das Wasser.
«Accrington?», schüttelte ich ratlos den Kopf, «Ich dachte ihr wart in London»
Sie drehte den Kopf zu mir und blickte mich etwas verwirrt an.
«London...ja, London...», murmelte sie leise.
«Der Ozean sieht bei Sonnenuntergang fantastisch aus», meinte sie fröhlich und lächelte mich an.
Sie wechselte die Themen so schnell.
Jede Geschichte hielt sie nur einige Minuten fest.
Es war so, als ob für sie keines ihrer Erlebnisse spannend genug wäre.

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The Flower Girl
CerpenSie war anders als alle anderen Mädchen, die ich je gesehen hatte. Sie lachte, wenn sie traurig war. Sie lief davon, wenn sie glücklich wurde. Sie malte Bilder von Wolken, wenn sie sauer war und kam als Blumenmädchen auf eine Hochzeit, auf die sie n...