Eine Frage der Selbstsicherheit

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In den nächsten Wochen ließ Harvey sie die Straßenkampfsimulation täglich wiederholen. Jedes Mal veränderte er aber in den Bedingungen ein entscheidendes Detail, welches es der Phoenix Einheit auf gar keinen Fall leichter machte gegen die Foxtrotter zu bestehen. An einem Tag gab er den Rekruten nur begrenzt Munition und dafür Nahkampfwaffen, an einem anderen wurde die Dachluke verschlossen, sodass sie sich in einer Sackgasse befanden. Doch so viele Versuche sie auch bekamen, sie gewannen keine einzige Runde und trafen eher selten mal mehr mit Glück als Verstand einen aus dem gegnerischen Team. Nach mehr als einem Monat und gefühlt tausenden Übungen mit anschließender Reflektion rief Harvey sie zusammen, baute sich vor ihnen auf und begann in einem ernsten Ton zu sprechen: "Ihr habt nun lange als Einheit versucht zu gewinnen, bisher erfolglos. Deshalb weisen wir euch jetzt ein individuell angepasstes und auf Algorithmen beruhendes Training zu. Dieses werdet ihr absolvieren und am Ende, wenn jeder seine persönlichen Stärken ausgebaut und die Schwächen kennengelernt hat, wieder zusammen finden." Ben blickte zu den anderen und sah in ihren Gesichtern teilweise Ausdrücke von Vorfreude und gleichzeitig auch ein wenig Traurigkeit von den anderen getrennt zu werden. Wie auf Kommando öffneten sich dann wie auf Kommando die Türen des Briefingcenters und fünf breit gebaute Männer betraten den Raum. Sie hatten die gleichen Overalls wie alle anderen an und auf ihren Schultern prankten Abzeichen mit jeweils vier goldenen Strichen, was heißen musste, dass sie in ihrem Rang direkt Harvey unterstellt waren. Die Männer stellten sich in einer Reihe an der Wand auf und blickten neutral in die Runde. Harvey deutete auf die Männer und fuhr fort: "Das werden für die Zukunft eure Ausbilder sein, das ich verständlicherweise nicht für jeden von euch sorgen kann und auch anderen Pflichten nachkommen muss. Das hier," Harvey zeigte mit dem Finger auf den Mann ganz links "ist Marcus, er wird sich zukünftig um Ally kümmern. Daneben, das ist Jason. Er wird für Clint da sein. Josh hier kümmert sich um Michael, Franklin um Johny und zu guter Letzt steht hier Roy, der für deine Ausbildung sorgen wird Ben!" Ben sah zu Roy hinüber und musterte ihn. Er war sehr groß gewachsen und muskulös gebaut. Seine Arme sahen wie die der anderen Trainer aus, als könnte er ohne großen Kraftaufwand einen Kleinwagen auf die Größe einer Cola Dose zerdrücken. Sein Gesicht war kantig und um sein Kinn war ein ordentlich rasierter Balbo-Bart zu erkennen. Sein helles blondes Haar war zurück gegelt worden, damit es ihm nicht im Gesicht hing. Alles in Allem fühlte sich Ben bei Roy ein wenig an den Schauspieler Channing Tatum erinnert, nur dass dieser zehnmal in Roy hineinpassen würde. Die Trainer drehten sich auf einmal um und machten Anstalten den Raum zu verlassen. "Na los, geht mit ihnen! Die meisten beißen nicht... jedenfalls nicht ohne Grund!" Lachte Harvey noch und schob die Kadetten dann einen nach dem anderen aus dem Raum, seinem jeweiligen Trainer hinterher. Roy ging zügigen Schrittes in Richtung Sporthalle und hatte ein zufriedenes Lächeln aufgesetzt. Offenbar war er zufrieden mit dem 'Schüler', der ihm zugeteilt wurde. Als sie die Halle betraten sah Ben, dass Roy bereits aus mehreren Kästen und Puppen einen Schießstand aufgebaut hatte, an dem alle möglichen Arten von Kurz- und Langreichweiten-Waffen lehnten. Roy ließ Ben ein paar Sekunden Zeit sich die Gewehre und Pistolen anzusehen bevor er ansetzte: "Ich hab dich in den letzten fünf Übungen beobachtet und ich muss sagen, dass dir beim Zielen echt der Mut fehlt abzudrücken! Du zielst zu lange und wenn du dann endlich schießt, hast du deine Chance verpasst. Fangen wir also leicht an und schießen ohne Zeitdruck auf unbewegte Ziele. Nimm zuerst das Gewehr da! Das ist eine AK-47, die häufig auf offenem Feld verwendet wird. Sie gilt als eine der berühmtesten Gewehrarten der Welt." Ben nahm sich besagtes Gewehr, zog ein Magazin aus der Munitionsbox und legte an. Roy nickte ihm ermutigend zu und streckte seinen Daumen als Startsignal aus. Ben schoss. Die Kugel zischte aus dem Gewehr und der Rückstoß hätte Ben fast von den Füßen gerissen. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte blickte er hinüber zum Ziel und erkannte, dass er die Zielpuppe meilenweit verfehlt hatte und stattdessen einen benachbarten Kasten durchlöchert hatte. Beschämt sah Ben zu Boden, er hatte insgeheim auf ein Wunder gehofft um seinen neuen Trainer zu beeindrucken. "Also daran müssen wir noch arbeiten, aber das kriegen wir hin. Das wichtigste jetzt ist, dass du den Kopf nicht hängen lässt. Wenn du bei mir bist, zeigst du dich mit all deinen Schwächen, es bringt nichts nur an den Stärken zu arbeiten. Ich bin ja auch nicht hier um dich für deine Schwächen zu verurteilen, sondern um mit dir daran zu arbeiten und einen Vorschritt zu erzielen. Jetzt nimm das Gewehr nocheinmal und dass mit deiner linken Hand etwas weiter vorne an. So zielst du stabiler. Jetzt stellt sich breitbeinig hin, damit du fest stehst und kneif beim Zielen ein Auge zu, damit du präziser durch das Visier gucken kannst. Jetzt probier es nocheinmal!" Ben atmete einmal tief durch, befolgte Roys Anweisungen und schoss erneut. Dieses Mal blieb er fest stehen, aber der Schuss verfehlte das Ziel trotzdem noch um grob einen Meter. "Das war schon besser! Fürs nächste Mal sei dir sicher, dass der Schuss treffen wird! Sag dir immer wieder, dass das jetzt ein Volltreffer wird! Du brauchst nur noch Selbstüberzeugung, damit deine Unsicherheit weg geht. Schieß nochmal!" Bevor Ben dieses Mal den Abzug drückte durchflutete ihn eine Welle der Zuversicht. Er würde diesen Schuss im Brustkorb der Puppe versenken, er würde in die Mitte des Ziels treffen, er würde sich selbst stolz machen. Sein Blick fokussierte sich auf das Ziel und alles um ihn herum verschwamm. Seine Wahrnehmung von allem um ihn herum war ausschließlich auf das Ziel gerichtet und dann drückte er ab. Die Kugel verließ mit einem kurzen Aufglühen den Lauf der AK-47 und folg wie in Zeitlupe auf das Ziel zu. Sie kam der Puppe immer näher und verschwand schließlich mit einem dumpfen Geräusch genau da, wo bei einem echten Menschen das Herz gewesen wäre. Roy blickte ihn lächelnd an und sagte: "Haha Junge, ich hab dir doch gesagt, dass das alles eine Sache der Selbstsicherheit ist! Jetzt kann man mit dir echt was anfangen, ich glaube, du hast es drauf! Aber werd' bloß nicht übermütig! Gut gemacht!"
Ben ließ die Waffe sinken und lachte in sich hinein. Dann packte Roy ihn am Arm und führte ihn weiter durch die Halle. Was Ben dann sah, verschlug ihm komplett die Sprache.

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