VIII

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Lolas Tag war fürchterlich.

Am Morgen hatte sie verschlafen, auf der Arbeit stand ein Projekt kurz vor seinem Abschluss und machte darum alle im Team nervös, am Telefon hatte sie sich mit ihrer besten Freundin gestritten und schließlich war sie, wieder mit Verspätung, zu ihrem Termin bei Dr. Lupus gehetzt. Sie hasste es, zu spät zu kommen.

Seine Augen hatten heute so merkwürdig geglänzt, als ob er auf Drogen wäre, aber vielleicht täuschte sie sich und es war nur der Ärger über ihre Unpünktlichkeit.

Kurz hatten sie die letzte Sitzung Revue passieren lassen und dann hatte sie sich in das T-Shirt und die knappe Hose gezwängt, die sie im Behandlungszimmer zu tragen hatte.

Wie immer hatte sie sich in die Mitte des Raumes auf den Fußboden gesetzt und ihm über die Lautsprecheranlage das Okay gegeben, dass er starten konnte.

Der Projektstress und der Streit mit ihrer Freundin ließen sie heute nicht so schnell zur inneren Ruhe kommen wie sonst. Sie hatte die Augen geschlossen und versuchte sich zu konzentrieren, aber als sie das erste Bienensummen hörte, war sie noch viel zu abgelenkt, um es aktiv wahrzunehmen und sich darauf einzulassen. Erst als das Summen sich verstärkte und ihr Körper bereits instinktiv mit Herzklopfen reagierte, konnte sie den Alltag zur Seite schieben.

Beim letzten Mal hatte Dr. Lupus das Geräusch der Insekten schon um mehrfaches verstärkt und obwohl sie mit ihrem Verstand gewusst hatte, dass sie keiner echten Bedrohung ausgesetzt war, war ihre Angst so massiv gewesen, dass sie kurz vor einer Panikattacke gestanden hatte.

Lola hielt die Augen verschlossen und lauschte auf das verhasste Geräusch von fliegenden Wespen und Bienen. Ihre Handflächen wurden feucht und ihr Herzschlag beschleunigte noch mehr. Ihr Atem ging heftiger und unregelmäßiger, während sie auswendig gelernte Sätze zur Beruhigung vor sich hin murmelte.

Es klang so echt! Als wären bestimmt zehn Bienen hier im Raum. Sie riss die Augen auf. Suchend sprang ihr Blick durch den Raum und hielt Ausschau nach den fliegenden Ungeheuern, obwohl sie doch wusste, dass keine hier im Zimmer sein konnten. Sie hielt sich die Ohren zu und schnappte nach Luft. In ihrer Brust wurde es eng und kleine, schwarze Punkte hüpften vor ihren Augen hin und her. Der Angstschweiß drang ihr aus allen Poren und durchtränkte die Wäsche, die sie hier tragen musste.

Warum machte Dr. Lupus ausgerechnet heute so einen großen Sprung, wo sie doch schon beim letzten Mal die Situation nicht aushalten konnte?

«Stop! Dr. Lupus, bitte Stop!» Sie schrie, sich die Ohren zuhaltend, nach Erlösung und hoffte, er würde auf sie eingehen.

Gefühlt nach einer Ewigkeit hörte das Summen abrupt auf und ihr lautes Keuchen und nach Luft ringen erfüllte den Raum. Die Tür öffnete sich und Dr. Lupus trat zu ihr hinein. Er schloss die Tür hinter sich und schien kurz zu schnuppern. Seine Augen waren noch glasiger als vorhin, oder täuschte sie sich?

«Dr. Lupus, ich kann das nicht», wimmerte sie. «Nicht heute. Der Tag war zu stressig, ich kann mich nicht konzentrieren, es ist zu mächtig.» Sie spürte, wie die ersten Tränen sich ihren Weg bahnten.

Sie saß, erbärmlich schluchzend, auf dem Fußboden eines kahlen Zimmers, ihr T-Shirt war angstschweißdurchtränkt und sie fühlte sich vor dem kleinen Mann, der halb über ihr stand, jämmerlich.

«Sie müssen sich konzentrieren. Manchmal sind solche Überschreitungen nötig, um den Durchbruch zu erreichen. Vertrauen Sie mir.»

Er hatte ihr die Hand auf den schweißnassen Rücken gelegt. Die Geste sollte sie wohl beruhigen, aber sie spürte einen Ekel, den sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie rutschte ein wenig von ihm weg.

«Ich kann das heute nicht!» Mit allem, was sie an Selbstbeherrschung aufbieten konnte, versuchte sie, ihn trotzig anzusehen.

Er ging in die Knie und sah sie an.

«Wir sind kurz vor dem Durchbruch. Ein wenig noch, dann haben Sie es für heute geschafft und dann werden Sie sehen, wie stolz Sie auf sich sein werden. Denken Sie immer daran: Ihnen droht hier keine Gefahr. Ihr Gehirn weiß das bereits, nun müssen sie es nur schaffen, sich der Angst aktiv zu stellen.»

Sie starrte auf den Fußboden. Sie wollte ihre Angst besiegen. Dafür war sie zu ihm gekommen. Sie schloss kurz die Augen. Sie könnte es schaffen.

Als sie wieder zu Dr. Lupus sah, runzelte sie für einen kurzen Moment die Stirn. Roch er an seiner Hand? Er war schon ein wenig merkwürdig.

Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, räusperte er sich kurz und wich ihrem Blick aus.

«Gut. Was sagen sie, wollen wir weiter machen?»

Bevor Lola nicken konnte, öffnete sich die Tür. Verwirrt sah sie eine große Person in einem Imkeranzug, die eine Holzbox in den Raum warf, die Tür energisch wieder zuzog und Lola hörte, dass die Tür von außen verriegelt wurde.

Was um aller Welt sollte das denn?

«Dr. Lupus, was ...»

Ihre Stimme versagte, als sie das Geräusch hörte und aus den Augenwinkeln eine schwarze Masse aus der Box fliegen sah.

Bienen.

Ein Schwarm Bienen.

Hier im Raum.

Ihre Sinne drohten ihr den Dienst zu verweigern. Mit letzter Kraft rutschte sie rückwärts in die nächste Ecke und erstarrte dort. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in ihren persönlichen Alptraum. Die Bienen schwärmten im Raum umher, aber obwohl ihr Herz raste, als wolle es explodieren und ihr Atem nur noch stoßweise vor Entsetzen ging, war Lola jetzt nicht mehr in der Lage sich zu bewegen. Ihr Körper war im Fluchtmodus, aber sie war hier in dieser Zimmerecke gefangen.

Die Szene, die sich im Raum abspielte und die sie sehr deutlich sehen konnte und wahrnahm, verstärkte ihre Panik noch um Vielfaches, bis ihr Körper endlich gnädig mit ihr war und sie in eine Ohnmacht gleiten ließ.

Lola erlebte nicht mehr, wie ihr Arzt sich die Fliege vom Hals riss, in der Hoffnung mehr Luft zu bekommen.

Sie sah nicht mehr, wie Uwe panisch die Bienen angriff, versuchte die Tür zu öffnen, wild um sich schlug und hysterisch kreischte.

Sie sah nicht mehr, wie der Schwarm den fuchtelnden Angreifer attackierte und Dr. Lupus schließlich, zerstochen von den sich verteidigenden Tieren, mit einem anaphylaktischen Schock zu Boden sank und röchelnd starb.

SchweißWo Geschichten leben. Entdecke jetzt