Kapitel 4

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Trotz des Umzugs arbeite ich weiterhin im Café. Hoffentlich bekomme ich von meiner Chefin keinen Ärger weil ich zehn Minuten zu spät bin. Sie hat das Café nach ihrer Tochter Ana benannt. Die beiden sind Halbspanier und damals nach dem Tod von Anas Vater nach England ausgewandert. Seit der Middle School gehört Ana zu meinen besten Freunden und ab und an helfe ich ihr und ihrer Mutter im Café aus, um mir ein bisschen was dazu zu verdienen für mein Studium in LA. Gerade flechte ich meine Haare zu einem unordentlichen Zopf und binde mir die karierte Schürze, die mich eher an einen Schottenrock erinnert um die Hüfte. „Du bist spät dran" Camilla wirft mir einen mahnenden Blick zu. „Tut mir leid" keuche ich leicht außer Atem. „Ich musste meinem Vater noch beim Aufbau der Regale helfen." „Das hatte ich ja völlig vergessen! Wie ist denn der Umzug verlaufen, Heather?" „Großartig" erwidere ich. „Wir haben uns gut eingelebt und die Nachbarn sind auch nett" „Bueno" Camilla schenkt mir ein freundliches Lächeln. „Dann ran an die Arbeit Mädels, die Kundschaft wartet" Nach so vielen Jahren in London hört man den spanischen Akzent aus ihrer Stimme kaum noch heraus. „Braucht ihr noch irgendwie Hilfe?" flüstert Ana, während wir auf unsere erste Bestellung warten. „Ich könnte rüber kommen, das Wochenende habe ich frei. Das Haus benötigt doch bestimmt einen frischen Anstrich oder?" „Das haben wir gestern schon erledigt" flüstere ich. „Wir hatten Hilfe von unseren reizvollen Nachbarn." Bei diesen Worten verdrehe ich die Augen. „Heath?" fragt Ana. „Was verschweigst du mir?" Sie kennt mich einfach zu gut. „Da ist dieser Nachbarsjunge" Ich starre auf meine Hände. „Er heißt Matthew und er will mich einfach nicht in Ruhe lassen. Egal was ich tue. Er folgt mir auf Schritt und Tritt und taucht immer genau dann auf wenn ich es am wenigsten erwarte" „Er flirtet mit dir!" Ana schlägt sich eine Hand vor den Mund. „Oh Heather, das sind tolle Neuigkeiten!" „Was? Ana nein! Ich will doch gar nichts von dem Typen wissen! Er nervt mich" „Aber du findest ihn süß?" „Warum sollte ich?" Ana grinst. „Naja, sonst würdest du dich nicht so über ihn aufregen. So einen Eindruck hinterlassen nur süße Typen" „Ana du kennst ihn doch gar nicht." „Das muss ich auch nicht. Dein Blick verrät mir alles was ich wissen muss. Und hattet ihr schon Sex? Wie ist er so im Bett?" „Ana!" Ich stoße sie durch die Küchentür, damit sie ihrer Arbeit als Kellnerin nachgehen kann. Das Café ist heute gut besucht. Sie bedient einen Tisch mit einer Familie und zwei kleineren Jungen, während ich die Bestellung von zwei Mädchen aufnehme. Kurz darauf trage ich einen Teller mit Tapas, spanische Spezialitäten und zwei Cappuccinos hinaus. Ich bewege mich von Tisch zu Tisch und kritzele weitere Bestellungen auf meinen Block. Ana stupst mich an als ich mich schmutzigem Geschirr zurück in die Küche komme. „Du musst mir unbedingt alles über ihn erzählen" meint sie grinsend. Gott, jetzt fängt sie auch schon damit an. Kann man nicht einmal im Leben seine Privatsphäre haben? „Ana, zum letzten Mal da läuft nichts zwischen mir und Matt" „Komm schon, Heather, jetzt sei doch nicht so stur. Du könntest mal einen guten Typen gebrauchen, du hast es verdient, Süße" „Ich kann gerade überhaupt niemanden gebrauchen. Ich spare fürs College" „Ach ja richtig. Willst du immer noch nach LA?" „Was denn sonst?" Das schmutzige Besteck landet in der Spüle, während ich die Teller mit einem Schwamm abschrubbe. „Zwei Suppen und ein Salat, Heather, Lets go" Ana bugsiert mich erneut aus der Tür hinaus und nimmt die Anweisungen ihrer Mutter entgegen. Ich balanciere die Suppenteller auf einem Arm, darauf bedacht nichts zu verschütten. „Guten Appetit" wünsche ich dem Ehepaar, welches gerade mit einem Glas Prosecco anstößt. „Das sieht köstlich aus, vielen Dank" Die Frau lächelt mich an, dann stutzt sie. „Bist du nicht Heather?" fragt sie überrascht. „Wie bitte?" Perplex hätte ich beinahe den halbvollen Salatteller über ihrem Dekolleté verschüttet. „Das Nachbarsmädchen, ja du hast Recht Schatz" Der Mann sieht mich ebenso freundlich an. „Welches Nachbarsmädchen?" frage ich verwirrt. „Ihr seid doch nebenan eingezogen, nicht wahr?" Plötzlich dämmert es mir. „Sie sind Matthews Vater?" Ich stolpere schockiert ein paar Schritte zurück und wäre beinahe mit einem Gast zusammengestoßen. Peinlich berührt murmele ich eine Entschuldigung. „Eine Arbeitskollegin hat uns dieses Café empfohlen" erklärt die Frau, ganz offensichtlich Matthews Mutter. „Sie meinte der Nachtisch schmeckt ganz vorzüglich, den sollten wir unbedingt probieren" „Ja, die Churros sollen traumhaft sein" Mr. Morris wirft einen Blick auf die Speisekarte. „Kannst du sonst noch etwas empfehlen, Heather?" „Ich...ähm" Verwirrt schüttele ich den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Probieren sie sich einfach durch die Karte" Meine Wangen glühen. „Ich wusste ja gar nicht, dass du hier arbeitest. Das muss ich Matt unbedingt erzählen!" „Nein!" platze ich heraus und schlage mir sofort die Hand vor den Mund als das halbe Restaurant den Blick auf mich richtet. „Wieso denn nicht?" Ms. Morris lächelt noch immer. „Er redet ständig von dir. Er scheint regelrecht begeistert von deiner Art." „Sicherlich" Ich beiße mir auf die Lippe und fummele nervös am Saum meiner Schürze. „Was für eine angenehme Überraschung" Lächelnd schüttet sie eine Prise Salz auf die Suppe. „Wie lange arbeitest du denn schon hier, Heather? Bist du mehrmals die Woche hier?" fragt Mr. Morris „Meist nach der Schule" antworte ich. „Je nachdem wie es meine Zeit erlaubt" „Heather!" Ana steht an der Küchentür und winkt aufgebracht. „Ich sollte... ich..." „Ja natürlich wir wollten dich nicht von der Arbeit abhalten, Liebes. Übrigens der Rock steht dir reizend" Mit hochrotem Kopf stürme ich in die Küche und verstecke mich hinter der Theke. „Hey was ist denn los mit dir?" fragt Ana verwirrt. „Was war denn eben? Wieso hast du geschrien?" „Kannst du bitte die Nummer 42 übernehmen?" murmele ich in meine Handflächen. „Wieso denn? Waren die Leute nicht freundlich zu dir?" „Doch schon" Ich seufze. „Das sind die Eltern des reizvollen Nachbarsjungen" „Was?" Ana scheint ganz aus dem Häuschen zu sein. „Wie cool ist das denn?!" „Ana, das ist überhaupt nicht cool, sondern einfach nur peinlich. Ich habe mich total blamiert!" „Ach quatsch, du warst nur etwas nervös, weil du die übrigens ziemlich gut aussehenden Eltern deines zukünftigen Ehemannes kennengelernt hast. Das geht doch jedem so" „Ana!" Schockiert sehe ich sie an. „Matthew und ich sind verdammt nochmal nicht zusammen!" „Noch nicht" Sie zwinkert mir zu. „Er muss ja wirklich hinreißend aussehen, wenn seine Eltern schon so gut aussehen" „Ich glaub ich kündige meinen Job" Ich vergrabe das Gesicht in den Händen. „Nein, Süße das kommt überhaupt nicht infrage." Ana zieht mich hoch. „Du gehst jetzt daraus Heather, setzt eine selbstbewusste Miene auf und tust so als wären dir die Leute vollkommen egal." „Ich weiß nicht ob ich das kann" erwidere ich seufzend. „Ein Schock pro Tag ist wirklich genug" „Natürlich kannst du" Ana drückt mir ein Tablett mit zwei Wasserflaschen in die Hand. „Und wie du das kannst" Sie streicht mir über die Wange und schenkt mir ein ermutigendes Lächeln. „Ich bin nur froh, dass er nicht auch hier ist" Ich stoße einen erleichternden Atemzug aus und verlasse die Küche.

Ich besorge mir einen Bibliotheksausweis und schlage meine heiß geliebten Mathebücher auf. Nachdem ich ein paar Aufgaben gerechnet und den Stoff vom letzten Jahr wiederholt habe sehe ich mich nach ein paar Klassikern und Liebesromanen um. Die meisten meiner Bücher musste ich in Brighton zurücklassen und in meinem kahlen, kleinen Zimmer ist kaum Platz für ein großes Regal. Deswegen wird dieser Ort vermutlich mein zweites Zuhause. Ich leihe mir einen Stapel aus, sehr zu Verwunderung der Bibliothekarin. „So viele Bücher nimmt sonst nie jemand mit" sagt sie. „Es überrascht mich, dass sie solch ein Interesse an Literatur zeigen" „Literatur bildet" sage ich und unterschreibe das Dokument. „Hätten Sie vielleicht Lust ein paar Empfehlungen auszuschreiben?" Lächelnd reicht mir die Bibliothekarin einen Zettel. „Das würde vielleicht ein paar Kids animieren das ein oder andere Buch mitzunehmen" „Gerne" Ich lächele und schreibe rasch ein paar Titel auf das Blatt. „Vielen Dank, viel Spaß mit den Büchern" Als ich die Bibliothek wäre ich beinahe mit einem Jungen zusammengestoßen der auf den Treppenstufen steht. „Kannst du nicht aufpassen?" frage ich und lege schützend eine Hand auf den Bücherstapel auf meinem Arm. „Sollte ich?" Matthew zieht eine Augenbraue hoch. „Was machst du hier?" Ich ignoriere seinen neugierigen Blick und verstaue die Bücher in meinem Fahrradkorb. „Ich hab deinen Vater gefragt wo du bist. Er meinte du wolltest in der Bibliothek lernen" „Ich bin gerade fertig geworden." „Das sehe ich." Er deutet auf den Stapel Bücher. „Willst du die wirklich alle in einer Woche lesen?" „Ja" sage ich. „Was sollte ich sonst damit tun?" „Sind das nicht ein bisschen viele?" entgegnet Matt skeptisch. „Für dich vielleicht" Ich steige aufs Fahrrad, doch Matt versperrt mir den Weg. „Meine Eltern waren übrigens ziemlich angetan von eurem Café" sagt er. „Schön für sie" Bewusst weiche ich seinem Blick aus. „Sie danken für die Gastfreundschaft und ich soll dir das hier geben" Er drückt mir 20 Pound in die Hand. „Das kann ich nicht annehmen" sage ich. „Das ist zu viel" „Sie bestehen darauf." Matt zuckt die Schultern, dann betrachtet er mein demoliertes Fahrrad. „Vielleicht kannst du dir davon ein neues Fahrrad kaufen" schlägt er vor. „Ja, es hat schon bessere Tage gesehen" „Also?" „Also was?" „Kannst du das Geld gebrauchen" „Matt, ich kenne deine Eltern nicht mal" „Sieh es als Willkommensgeschenk an" Jetzt lächelt er, ein zauberhaftes, echtes, Lächeln, dass mir beinahe die Sprache verschlägt. „Willkommen in London, Heather. Soll ich dich morgen mit zur Schule nehmen?" „Nie im Leben" Ich stecke das Geld in meine Tasche und trete in die Pedale. „Aber richte deinen Eltern meinen Dank aus!"

Matthew und Heather - #ProjectInnocenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt