Die erste Schulwoche vergeht wie im Flug. Tatsächlich habe ich mich mittlerweile an Matts Flirtversuche gewöhnt. Jeden Morgen, wenn ich auf dem Weg zum Bus bin grinst er mich von seinem Motorrad aus an, wobei ich zugeben muss, dass ihm die schwarze Lederjacke ziemlich gut steht. Ich ignoriere ihn bewusst, wenn er in der Schule vor meinem Spind steht oder ich kleine Zettelchen unter meinem Tisch finde. Die meiste Zeit verbringt er mit seinen Freunden, zu deren Clique auch sein Bruder gehört, während ich die Mittagspause meist in der Bibliothek lerne oder still schweigend mein Brot esse. Ich war nie sonderlich gut darin Freunde zu finden, deswegen vermisse ich in Brighton auch kaum jemanden. Die Freundschaft zu Ana ist schon fast ein Privileg. Mich stört es auch nicht alleine zu sein, ganz im Gegenteil. So habe ich Zeit zum Nachdenken und kann mich besser konzentrieren. Als es zur Unterrichtsstunde klingelt packe ich schnell meinen Rucksack und laufe die Treppe hoch zum Klassenraum. Auf dem Gang werden stimmen laut, eine kleine Menschenmenge hat sich versammelt. Verwirrt bleibe ich stehen. Was ist da los? Eine Gruppe Jugendlicher hält einen Jungen in ihrer Mitte gefangen, sie schubsen ihn hin und her und halten seinen Rucksack in die Luft. „Bitte" fleht er. „Ich will nicht zu spät zum Unterricht kommen, gebt ihn mir wieder" „Hol ihn dir doch" Einer der Jungen grinst hämisch, dann wirft er den Rucksack seinem Kumpel zu, der sich lachend den Bauch hält. „Ich will keinen Ärger, bitte" „Was willst du denn tun?" spottet jemand in der Menge und zu meinem Erschrecken erkenne ich die Stimme. Matthew. „Nach deiner Mummy schreien?" „Ich bin sicher er macht sich gleich in die Hosen" entgegnet ein anderer. „Bitte" fleht der Junge erneut. „Ihr könnt mein Geld haben. Meine Essensmarken. Nehmt euch was ihr wollt" „Nehmt euch was ihr wollt" spottet ein vierter Junge, den ich als Matts großen Bruder identifiziere. „Wie süß. Als nächstes wischst du uns die Ärsche ab oder was?" Er lacht. Der Junge weicht zurück, doch sie versperren ihm den Weg. „Nicht so schnell, Kleiner wo willst du denn hin?" Derek packt den Jungen am Arm. Einer von Matthews Freunden verpasst ihm einen Kinnhaken, sodass er zu Boden stolpert. Schützend hält sich der Junge die Hand vors Gesicht, als Derek erneut zum Schlag ausholt und ihn an der Augenbraue erwischt. „Bitte" schluchzt er. „Ich tue alles was ihr wollt!" Er krabbelt über den Boden, sucht Schutz bei den anderen Schülern, doch sie weichen nur angewidert vor ihm zurück. Der Anblick des Jungen lässt etwas in mir brechen. Wutentbrannt stürme ich auf die Gruppe zu. „Sofort aufhören!" Meine Stimme hallt über den ganzen Flur und Derek erstarrt mitten in der Bewegung. „Was zum Teufel?" Er dreht sich zu mir um. „Ist das nicht deine kleine Schlampe, Matt?" „Sie ist nicht..." „Was bildet ihr euch überhaupt ein" Schützend stelle ich mich vor den wimmernden Jungen, der immer noch am Boden kauert. „Wie könnt ihr es wagen jemanden so zu erniedrigen? Seht ihr denn nicht, dass ihr ihm wehtut? Er weint!" Anklagend deute ich mit dem Finger auf Derek. „Das ist wirklich das Allerletzte!" Kopfschüttelnd beuge ich mich zu dem Jungen hinunter. „Ihr lasst ihn sofort in Ruhe oder ich informiere die Schulleitung" „Wow jetzt kriege ich aber Angst" spottet einer von Matts Freunden und ich werfe ihm einen giftigen Blick zu. „Ich meine es ernst, lasst ihn in Ruhe" Vorsichtig helfe ich dem Jungen auf, der sich panisch an meinen Arm klammert. „Erbärmlich wie du ihn verteidigst" Derek wendet den Blick ab. „Er hat es nicht verdient" „Verschwindet!" „Überleg dir gut was du tust, sonst bist du vielleicht als nächstes dran, Kleines" Spöttisch grinsend betrachtet Derek den Rucksack des Jungen, welchen er noch immer umklammert hält. „Heute ist dein Glückstag, Ryan. Wirklich schade, dass du keine Eier hast, dich selbst zu verteidigen" Er schleudert mir den Rucksack vor die Füße. „Viel Spaß damit" Derek lacht, sein Lachen hallt durch den Flur und seine Freunde stimmen in sein Lachen mit ein. Nur Matt schweigt. Er lehnt betreten an der Wand und betrachtet mich, die Hände im Nacken verschränkt. „Heather..." beginnt er, doch ich wende den Blick ab. „Matt!" brüllt sein Bruder. „Nun komm schon! Du kannst ihr später nachtrauern!" Derek packt ihn am Arm und zerrt ihn fort von mir.
Die Menge im Gang verteilt sich, die meisten tun so als wäre nichts passiert. „Danke" flüstert der Junge. Es sind die ersten Worte, die er an mich richtet. „Das hättest du nicht tun dürfen. Jetzt haben sie dich auch auf dem Kieker." „Mit denen werde ich fertig. Außerdem mag ich es nicht, wenn Menschen schikaniert werden" sage ich und betrachte seine bereits geschwollene Augenbraue. „Das solltest du kühlen, hier" Ich reiche ihm eine feuchtes, kühles Taschentuch. „Danke" erwidert er. „Dein Name ist Ryan?" frage ich. Er nickt. Ich gebe ihm seinen Rucksack. „Der gehört dir" „Wieso hast du das getan?" Ryan sieht mich an. „Wieso hast du mir geholfen?" Er durchwühlt den Rucksack nach seiner Brille und seufzt. „Ich dachte wenigstens dieses Mal wäre sie heile geblieben" Frustriert betrachtet er das gesprungene Brillenglas. „Ich ersetze dir deine Brille" sage ich. „Gib her" „Das ist nicht nötig" Ryan streicht über das Gestell. „Das ist bereits die vierte Brille dieses Jahr, die zu Bruch gegangen ist. Langsam glauben mir meine Eltern die Sache mit dem Unfall nicht mehr" „Die vierte?" Sprachlos starre ich ihn an. „Willst du damit sagen solche Vorfälle passieren öfters?" „Ständig" Ryan verstaut die kaputte Brille wieder in seinem Rucksack. „Derek ist der schlimmste von ihnen, doch sein Bruder Matthew ist auch nicht viel besser" „Was?" Ich schüttele den Kopf, kann nur schwer glauben, was der Junge mir erzählt. „Sie belästigen mich schon seit zwei Jahren." Er seufzt. „Und du lässt dir das einfach gefallen? Hast du denn mit niemanden gesprochen?" frage ich. „Ich habe es versucht. Es gab ein paar Gespräche mit Vertrauenslehrern, aber die haben nicht geholfen. Mittlerweile wehre ich mich schon gar nicht mehr dagegen und hoffe, dass sie irgendwann das Interesse verlieren, aber das tun sie nicht" „Ryan!" Ich helfe dem Jungen hoch. „Du kannst das doch nicht einfach so auf dir sitzen lassen. Wir müssen etwas dagegen unternehmen. Rede mit deinen Eltern." „Das kann ich nicht. Ich schäme mich viel zu sehr" „Aber du wirst gemobbt" Ich senke die Stimme. „Das ist nicht in Ordnung, Ryan. Das muss aufhören und zwar auf der Stelle" „Woher willst du wissen wie ich mich fühle?" Ryan zerrt mir seinen Rucksack aus der Hand. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung was sie mir schon alles angetan haben. Du weißt gar nichts! Du bist doch nur eine neue Schülerin!" Tränen schimmern in seinen Augen. „Ich weiß wovon ich spreche" erwidere ich. „Denn ich wurde an meiner alten Schule auch gemobbt" Fassungslos starrt Ryan mich an. „Wirklich?" fragt er schüchtern. „Ja. Damals haben mich alle für eine Streberin gehalten und ich wurde jedes Mal damit aufgezogen. Eine gute Note war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Deshalb kann ich auch nicht tatenlos zusehen, wenn jemand anderes gemobbt wird, denn ich weiß ganz genau wie sich diese Person in solchen Momenten fühlt" „Das tut mir leid" Ryan sieht mich an. „Ich heiße übrigens, Heather" sage ich und schenke ihm ein Lächeln. „Heather" Er nickt. „Danke, dass du mir geholfen, hast, Heather" Ryan senkt den Blick. „Ich fürchte nur, das werden sie mir jetzt ewig vorenthalten. Der Schwächling Ryan, der von einem Mädchen gerettet werden musste. Ich wette das hat sich bereits in der ganzen Schule rumgesprochen" „Das wird es nicht" sage ich entschlossen. „Denn von nun an hast du eine Freundin" Ich hake mich bei ihm unter. „Außerdem ist Matthew mein Nachbar. Ich werde mit ihm Reden und diesem Spuk ein Ende bereiten." „Was? Das darfst du nicht!" „Vertrau mir. Ich kenne ihn ganz gut und zufälligerweise schuldet er mir ein paar Gefallen" Ryans Augen weiten sich. „Ihr kennt euch?" „Wir sind Nachbarn, was erwartest du?" Ich zucke die Schultern. „Glaub mir, wenn ich die Wahl hätte, hätte ich mir auch lieber jemand anderen ausgesucht. Vielleicht eine nette Katzenoma. Aber Matt vertraut mir und ich glaube, das letzte was er will ist es sich mit mir zu verscherzen" Ryan starrt mich an. „Ich kann nicht fassen, dass du ihn gerade verteidigst. Der Typ ist schlimm. Einer von der ganz üblen Sorte" „Ich weiß" sage ich. „Ich will dir doch nur helfen, Ryan. Wenn ich dafür meinen Charme spielen lassen muss, dann ist das halt so. Ich hab gesehen wie er mich nach der Prügelei angesehen hat. Ich bin sicher, er brennt gerade zu darauf sich auszusprechen." Ryan schüttelt den Kopf. „Sei vorsichtig, Heather. Lass dich nicht mit ihnen ein. Die führen nichts Gutes im Schilde" „Keine Sorge, Ryan. Ich weiß was ich tue. Ich lasse dich nicht im Stich" Besorgt werfe ich einen Blick auf seine Augenbraue die sich mittlerweile blau verfärbt hat. „Ich verspreche dir, es wird alles gut werden. Du musst keine Angst vor denen haben, in Ordnung?" Ryan schluckt, dann nickt er. „Leichter gesagt, als getan, Heather" „Gemeinsam kriegen wir das schon hin" Ich lächele. „Aber jetzt bringe ich dich erst mal auf die Krankenstation. Jemand sollte sich dein Auge ansehen"
Matthew wartet vor meinem Haus. Ich ignoriere ihn gekonnt, doch er folgt mir die Veranda nach oben. „Heather..." „Versuch es gar nicht erst" Ich krame meinen Hausschlüssel heraus. „Heather, bitte, ich kann das erklären." „Verschwinde einfach" Eine kühle Brise weht mir aus dem Haus entgegen als ich die Tür öffne. „Heather" Matt legt eine Hand auf meinen Arm, doch ich schüttele sie ab. „Lass es" sage ich schroff. „Bitte. Wir müssen reden" Ich schnaube. „Ich habe dir nichts zu sagen, Matthew" „Hör mir wenigstens zu..." „Warum sollte ich? Nichts was du sagst wird auch nur ansatzweise meine Meinung ändern. Du bist für mich gestorben, Matt." Damit drehe ich mich um und schlage ihm die Tür vor der Nase zu.
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Nächstes Kapitel! Ich hoffe es gefällt euch!
Bis bald,
Eure Isa <3
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Matthew und Heather - #ProjectInnocence
RomansaRomy, Cas und dunkle Geheimnisse inmitten Italiens? Doch was ist eigentlich vorher passiert? Wie haben sich Romys Eltern kennengelernt und welche Hürden mussten sie in ihrer Beziehung überwinden? Der Prequel zu #ProjectHurricane (Unabhängig von der...