Kapitel 1: Peter

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„Lasst mich doch alle in Ruhe!“, schrie Peter. Seine Frau Mandy stand neben ihm und sah ihn nur verständnislos an. „Nicht vor unseren Kindern. Sie verstehen doch nicht, …“, begann sie. „Mir scheißegal, was die verstehen und was nicht. Sie sind nichts außer Ballast für uns.“, unterbrach Peter sie aufgebracht.  Die Kinder, ein Junge namens Phillip und seine kleine Schwester Sonja standen im Wohnzimmer der kleinen Wohnung in der sie alle lebten. Sie wollten ihrem Vater zum Vatertag gratulieren, allerdings war das Ganze etwas außer Kontrolle geraten. Er hatte wieder einmal zu viel getrunken. Seit er wegen Burn-Out aus seinem Job gefeuert wurde und ihn jede Nacht Depressionen heimsuchten, die ihn nicht einschlafen ließen bis er irgendwann vor Erschöpfung in sich zusammensank, war er nicht mehr derselbe. Er hatte sich von seiner Familie zurückgezogen, lag den ganzen Tag nur noch vor dem Fernseher und war meistens schon in der Früh betrunken. Die Kinder, Phillip (9) und seine kleine Schwester (7) verstanden nicht, warum ihr Vater sie nicht mehr so behandelte wie früher. Vor zwei  Jahren, als die Welt noch in Ordnung war, verbrachte ihr Vater so viel Zeit mit ihnen, wie er nur aufbringen konnte. Oft gingen sie auch zelten oder fischen. Jedes Wochenende machten sie einen kleinen Ausflug als Familie und jeden Donnerstag war Familien-Spieleabend. Alles war perfekt, wie es sich für eine kleine, glückliche Familie gehört. Peters größtes Hobby war das Fallschirmspringen und er hatte seinen Kindern immer versprochen, sie eines Tages mitzunehmen, sobald sie nur alt genug wären.

Doch als eines Tages der beste Freund Peters starb, angeblich bei einem Tauchertrip in Ägypten, war er nicht mehr derselbe. Immer öfter wirkte er abwesend und er unternahm immer weniger mit seinen Kindern.

Nun war es schon so weit gekommen, dass er sie nur noch anschrie. Sonja hatte Tränen in den Augen und wollte zu ihrem Vater gehen doch er packte seine Bierflasche und hob sie drohend über seinen Kopf. Sonja schrie auf und Mandy stellte sich schützend vor ihre Kinder. „Es reicht, du brauchst einen Arzt!“, schrie sie Peter an, drehte sich um und bat ihre Kinder, in ihre Zimmer zu gehen.

Als die Eheleute alleine waren und sich die ganze Lage etwas beruhigt hatte, sagte Mandy zu ihm: „Ich weiß, dass der Tod deines Freundes dich schwer getroffen hat…“. „Du hast ja keine Ahnung!“, schrie er sie wieder an. Anscheinend hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Dennoch sprach sie unbeirrt weiter. „…doch so kann es nicht weiter gehen. Wir sind eine Familie. Du hast zwei Kinder, die dich lieben und zu dir aufsehen. Du hast eine Frau, die dich liebt und zu dir hält. Aber all das wirst du verlieren, wenn du dich nicht änderst.“ Sie nahm seine Hand und sah ihm in die Augen. Sein Blick war leer. „Wir müssen was ändern, so kann es nicht weitergehen.“, sagte sie und strich beruhigend über den Handrücken ihres Mannes. Sein Blick wurde weicher und er sah sie an: „Du hast ja recht, Mandy. Aber ich falle immer wieder in dieses Loch. Ich will mich ja ändern, aber jedes Mal wenn ich denke, ich hätte es geschafft, muss ich an Marvin denken und daran, wie er gestorben ist. Manchmal frage ich mich, warum der Tod so etwas tut. Und dann frage ich mich, ob wir überhaupt sicher sind. Jeder von uns könnte der nächste sein. Also was sagt mir, dass ich dieser Jemand nicht ich bin?“

Seine Frau sah ihn an, überlegte kurz und antwortete dann in sanftem und beruhigendem Ton: „Wenn der Tod dich wirklich haben wollte, warum hat er dich dann noch nicht geholt? Und warum machst du dir über so etwas Gedanken? Es gibt so viele Menschen auf der Welt und das mit Marvin war ein Unfall, wie sie jeden Tag passieren. Dahinter steckt weder eine böse Macht noch eine Verschwörung.“. „ich hoffe du hast recht.“, sagte Peter nachdenklich und legte die Arme um sie. Sie küsste ihn auf die Wange. „Schick die Kinder wieder rein, ich hab mich noch gar nicht bedankt.“, sagte Peter und zwang sich zu einem Lächeln.

Die Tage vergingen und Peter schien wieder in dieses Loch zu stürzen, deswegen arrangierte Mandy ein Treffen mit einem befreundeten Piloten, der früher immer mit Peter geflogen war, als er noch Fallschirm springen gegangen war.

Er schien der Idee nicht abgeneigt und vielleicht half es ihm ja aus dem  Selbstmitleid und den Depressionen. Sie fuhren zum Flugplatz und stiegen in die Maschine. Peter war nervös, er war schon lange nicht mehr in der Luft gewesen. Außerdem war dies der erste Familienausflug seit langem. Die Kinder setzten sich zu den Fenstern und Peter und seine Frau setzten sich daneben, um die Kinder gut im Blick zu haben. Sie flogen zuerst eine kleine Runde mit der Maschine um die Gegend von oben zu sehen. Das war das erste Mal, dass die Kinder mitflogen und deswegen waren sie sehr aufgeregt. Sie waren ausgelassen, sprangen von der einen Seite der Maschine zur anderen um ja nichts zu verpassen und für einen Moment waren alle Probleme vergessen. Auch Peter fühlte sich wohl in seiner Haut- er wusste, nach diesem Ausflug würde es bergauf gehen. Er hielt die Hand seiner Frau als plötzlich die Stimme des Piloten durch die Lautsprecher hallte „Wir haben nun die vorgeschriebene Höhe erreicht, der Absprung erfolgt in 02:00 Minuten.“ In der Kabine leuchtete eine Stoppuhr auf, auf der 2 Minuten stand. Sie begann, herunter zu zählen und Peter machte sich bereit, abzuspringen. Er sagte seiner Frau, dass nun alles besser werden würde und dass sie sich keine Sorgen mehr machen müsse. Als er sich von seinen Kindern verabschiedete, wurde Sonja plötzlich ganz still und sagte „Spring nicht Papa. Bitte spring nicht.“ Doch Peter meinte nur „Mir kann nichts passieren. Ich bin schon so oft gesprungen und es ist noch nie was passiert. Vertrau mir.“ Er strich ihr langsam über ihre Wange und lächelte sie an und auch als sie weiterflehte, er solle es doch nicht tun, ließ er sich nicht davon abhalten. „Bereit machen zum Absprung“, ertönte die Stimme des Piloten wieder. Die Stoppuhr war nun bis auf zehn Sekunden abgelaufen und langsam öffnete sich die Luke am Ende der Maschine. Ein letztes Mal drehte sich Peter um und sah seine Familie an. Er sagte „Wir sehen uns unten.“ Und mit diesen Worten sprang er ab.

Im freien Fall fühlte er, wie seine alte Stärke zurückkam. Er fühlte sich stark und unbesiegbar.  Peter stieß einen Freudenschrei aus und verlagerte sein Gewicht nach vorne, um schneller zu werden. Plötzlich sah er zwei rote Punkte zwischen den Wolken. Doch als er genauer hinsah bemerkte er, dass es keine Punkte waren sondern Augen. Sie durchbohrten seinen Körper und plötzlich hörte er eine Stimme flüstern „Jetzt gehörst du mir. Es gibt kein Entkommen mehr für dich“. Peter wurde nervös, der Boden kam immer näher. Er wusste nicht, ob er sich die Stimme nur einbildete, allerdings bekam er es mit der Angst zu tun. Er wollte nur noch hier runter. Es warennoch 70 Meter bis zum Boden. Zeit den Fallschirm zu öffnen. Er zog an der Reißleine und sein Rucksack ging auf. Der Fallschirm kam heraus, allerdings bremste er seinen Fall nicht sondern flatterte einfach hinter ihm her. Der Fallschirm hatte durch die ganze Länge einen riesigen Riss. Auch der Rettungsfallschirm war in der Mitte gerissen. Als Peter dies bemerkte, stiegen ihm die Tränen in die Augen. Er schrie „Neeiiinnn!!!“, jedoch half ihm das nichts. Ungebremst kam der Boden immer näher und näher.

„Warum ausgerechnet jetzt?“, dachte sich Peter. Er wollte sein Leben doch ändern, er hatte sich doch vorgenommen, ein besserer Mensch zu werden also warum holte der Tod ihn jetzt zu sich?

Es waren nur noch 40 Meter bis zum Boden.

Die Tränen verschwammen vor seinen Augen, es gab doch noch so vieles, was er seiner Familie sagen wollte. So vieles, was er noch mit seinen Kindern unternehmen wollte. Wie würden sie damit klar kommen? Zu diesem Zeitpunkt machte er sich mehr Gedanken darüber, was aus seiner Familie wurde als über das, was aus ihm werden würde wenn er am Boden ankam.

Er schloss die Augen „Ich konnte mein Versprechen nicht halten. Ich hoffe ihr verzeiht mir. Ich liebe euch, euch alle.“ Er dachte an seine Familie, plötzlich war es so, als erlebe er all die schönen Zeiten mit seiner Familie noch einmal. Aber es waren auch schlechte Zeiten dabei. Zeiten, wo er seine Kinder anschrie, sie schlecht behandelte und einmal sogar schlug. Doch trotzdem hatten sie immer an ihn geglaubt und hatten zu ihm gehalten. „Verzeiht mir“, flüsterte er noch einmal. Er hörte den Schrei seiner Tochter, sie war weit weg und doch konnte er ihr hören. Es war ein Mark erschütternder Schrei, der Schrei eines kleinen Kindes, wenn sein Herz brach. Peter sah noch einmal die roten Augen vor sich und fing auch an zu schreien. Er schrie um Hilfe, um seine Familie. Es war das letzte, dass er hörte denn noch während er den Schrei seiner Tochter vernahm, schlug er auf den Boden auf. Sein ganzer Körper wurde in sich zusammengestaucht und all seine Knochen schienen auf einmal zu brechen. Das Blut spritzte in alle Richtungen und sein Schädel grub sich durch die hohe Geschwindigkeit in den Boden ein. Er spürte keine Schmerzen und war sofort tot.

Es kann jeden treffenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt