Kapitel 1

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Die untergehende Sonne spiegelt sich in den schimmernden Wasser des riesigen Sees in der Mitte des großen Nationalparks im Herzen des Staats Japan. Langsam färbt sich der Himmel in eine Mischung aus rot und orange, während die Sonne hinter den Bäumen verschwindet und es dunkler wird.
Wie jeden anderen Tag auch sitzt das vierzehnjährige Mädchen mit den hellbraunen, langen Haaren ein paar Meter vor dem Ufer entfernt. Von Morgens bei Sonnenaufgang bis Abends bei Sonnenuntergang bleibt sie hier und starrt auf die sich auf der Wasseroberfläche kräuselnden kleinen Wellen des Sees.
Ohne den Blick abzuwenden holt sie aus der kleinen Umhängetasche, welche neben ihr im weichen Gras liegt, eine kleine Brotbox raus und öffnet diese. In der Box befinden sich viel Apfelstücke von welchen sie sich eines heraus nimmt und genüsslich abbeißt. Das knacken des saftig frischen Apfels ist deutlich in der ruhigen Abendluft zuhören.
Es ist Anfang Frühling, trotz der kalten Temperaturen und dem frischen Wind trägt sie nur eine leichte Bluse sowie einen flauschigen Schal, in welchen sie sich ein wenig hinein kuschelt.
Als ihr Handy vibriert sieht sie drauf, um sogleich festzustellen das die Nachricht von ihrem Bruder handelt, in welcher er frägt, wann sie den nach Hause kommt. Sofort antwortet die Vierzehnjährige, das sie sich gleich auf den Weg machen würde.
Schweigend steht sie auf, packt ihre Sachen in ihre Tasche und sieht nochmal kurz zum See, bevor sie sich umdreht und geht. Langsam geht sie Gedanken versunken am Ufer entlang und schaut auf den Boden unter ihren Füßen.
Als sie aufsieht, um nirgends dagegen zu laufen, bemerkt sie an dem sonst so menschenleeren Ufer, im Augenwinkel ein etwas jüngeres Mädchen im Schatten eines Baumes sitzen. Sofort weckt sie ihre Neugier, denn normal war sie die einzige, die sich hier am See aufhielt. Auf ihren herangezogenen Knien liegt ein Zeichenblock auf welchen sie mit einem Bleistift zeichnet.
Mit einem freundlichen Lächeln gehe die Vierzehnjährige direkt auf sie zu. »Du kommst nicht von hier, oder?«, fragt die Braunhaarige sie.
Das Mädchen sieht auf. »Nein, komme ich nicht.«, meint sie ruhig und packt ihren Zeichenblock in ihren Rucksack.
»Mein Name ist Michiru Suzuki und wie heißt du?«
»Nora Kawasaki.« erklärte sie kurz, bis die Braunhaarige dann weiter fragt: »Was hast du denn da auf deinen Block gezeichnet?«
»Musst du nicht wissen.«
Michiru sieht sie bittend an. »Zeig es mir bitte.«
»Warum?«
»Weil es mich interessiert.«
»Man, na gut.«, kommt schließlich von Nora, als sie ihren Block wieder raus holt und ihr das Bild zeigt.
»Wow, das ist wirklich wunderschön.«, staunt Michiru und betrachtet mit großen Augen die schwarzweiß Zeichnung des Sees vor ihnen.
Unsicher ob sie das Ernst meint oder nicht, sieht Nora die Ältere verlegen mit einem leichten Rotschimmer an. »Wirklich?«, fragt sie ihr Gegenüber, welches nur lächelnd nickt. Als Michiru zum See sieht macht es ihr Zwölfjährige gleich, ein paar Minuten des Schweigens vergehen, bis sich die Braunhaarige zu Wort meldet.
»Er ist schön, oder?«
»Ja, das glaube ich zumindest.« Kurz schließt Nora ihre Augen um sich den See in Farbe vorzustellen.
»Du glaubst?« Leichte Verwirrung liegt in der Stimme der Älteren. »Was meinst du damit?«
Immer mehr weckt das Mädchen mit den weißen Haaren die Aufmerksamkeit der Vierzehnjährigen. »Ich kann dir nicht genau sagen, ob ich ihn schön finde.«, meint sie ruhig.
Fragend legt Michiru den Kopf schief. »Das verstehe ich nicht.« Schnell räumt die jüngere ihren Block weg und steht mit einem knappen »Musst du auch nicht.« auf.
»Du willst schon gehen?«
Das seltsame Mädchen mit den weißen Haaren nickt kurz und sieht dann in den Abendhimmel, der sich von einem tiefen rot langsam in ein schönes schwarz färbt. »Wieso nicht?«
»Weil es hier so schön ist.«
»Ist es das?« Ein leichtes Lächeln huscht ihr über ihr Gesicht, als die Sonne endlich komplett hinter dem Hügel verschwunden ist. »Endlich ist es Dunkel.«
»Magst du die Nacht?«
»Ja, ich halte mich nicht so gerne in der Sonne auf.«, erklärt sie und läuft los.
Michiru folgt ihr mit ein bisschen Abstand. Eigentlich soll sie längst nach Hause gehen, bevor ihr Bruder sich noch Sorgen macht. Doch irgendwas fasziniert sie an dem fremden Mädchen. Die Braunhaarige sieht ihren wütenden Bruder vor ihrem geistigen Auge schon vor sich stehen, wie er sie wie immer täglich am Abend darüber belehrt, dass es alleine viel zu gefährlich sei, um diese Uhrzeit draußen zu sein. Und auch wenn ihr das völlig klar ist, tragen ihre Beine sie immer weiter dem mysteriösen Mädchen hinterher.
»Warum folgst du mir?«
»Weiß nicht.«, antwortet sie kurz.
Nora bleibt stehen und dreht sich zu ihr um. »Wirklich?«, fragt sie mit einer Spur Unsicherheit wie sie darauf jetzt reagieren soll.
Auch jetzt lächelt Michiru immer noch freundlich weiter. »Ja. Wieso nicht?«
»Na gut.«, seufzt die Zwölfjährige und geht weiter den vom Mondlicht beleuchteten Kiesweg entlang. »Eigentlich will ich ja nicht, dass du weißt, wo ich wohne.«
»Ist das denn so schlimm?«
»Naja.«, meint sie nur und bleibt nach ein paar Minuten vor einem großen, weißen Haus stehen, das gar nicht so weit von dem See entfernt steht. Obwohl Michiru jeden Tag am See ist und dort gerne etwas spazieren geht, ist sie noch nie hier gewesen. »Und was jetzt?«
Die Braunhaarige zuckt bloß mit den Schultern und bestaunt dann mit großen Augen das Haus. Es hat viele große Fenster, vor den meisten sind rote Vorhänge, der Garten ist an sich auch schön groß. Eine Mauer auf der Straßenseite und eine Hecke auf der Seeseite umgeben das Grundstück, ein großes silbernes Tor ziert den Eingang.
»Na dann.« Mit ihrem Schlüssel öffnet Nora die schwarze, aus Zedernholz bestehende Eingangstür. »Ich hoffe, man sieht sich wieder.« Oder auch nicht. , fügt sie in Gedanken hinzu.
»Wir werden uns wiedersehen.«
Ich finde sie gruselig. »Ach wirklich?«, fragt Nora und beugt sich ein Stück zu ihr herunter, da sie auf einem Treppenabsatz steht. Sie neigt ihren Kopf leicht schief. »Was macht dich da so sicher?«
»Es wurde mir erzählt.«
»Und von wem?«
Zögernd deutet Michiru auf ihren Kopf. »In meinem Kopf sind Stimmen und was sie sagen, tritt immer ein.« »Pah. Und das soll ich dir glauben?« Als die Weißhaarige laut wird, zuckt Michiru zusammen. Ohne ein Wort zu sagen springt Nora die letzten Treppenstufen nach oben und knallt ihr die Tür direkt vor der Nase zu.
Eine Weile lang steht Michiru einfach nur weiter vor dem Haus und starrt die Tür an. Natürlich glaubt sie ihr nicht, das klingt schließlich auch wie das Geschwafel einer Verrückten. Wir haben dir doch gesagt, dass sie dir keinen Glauben schenken wird. Sie nickt nur und sieht weiter zur Tür. »Also dann, bis zum nächsten Mal.« Wieder setzt sie ein freundliches Lächeln auf, legt ihre Hände hinter den Rücken und springt einen Treppenabsatz nach dem anderen langsam nach unten. Sie entfernt sich vom Haus und sieht zu Boden. Ja, vielleicht ist sie auch verrückt, aber die Stimmen haben bis jetzt immer Recht behalten.
Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie fast mit einem jungen Mann zusammenstößt. »Hoppla, du solltest aufpassen wo du hinläufst, little princess.«
Langsam sieht die Vierzehnjährige auf. »T-tut mir Leid.«, entschuldigt sie sich schnell mit leiser Stimme und leichtem Rotton in ihrem Gesicht.
Er geht vor ihr in die Hocke und lächelt freundlich, wodurch ihre Aufregung ein wenig verschwindet. »Schon gut.«
Unsicher weicht Michiru einen Stritt zurück. »Wohnst du auch hier?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kennt.
Der Mann schüttelt den Kopf. »Ich besuche die beiden nur.«, antwortet er. Wie jeden Anfang des Monats will er seine beiden kleinen Geschwister, die in dem großen weißen Haus wohnen, einen Besuch abstatten, um nach dem Rechten zu sehen. Er steht wieder auf, lächelt ihr nochmal kurz zu und geht dann an ihr vorbei, wobei er ihr kurz durchs Haar wuschelt. Nach einem kurzen Winken, verschwindet er schließlich im Haus.
Noch eine Weile steht Michiru schweigend da und starrt auf die Eingangstür des Hauses. Ihr Gefühl sagt ihr, dass sie nicht das letzte Mal hier gewesen ist. Irgendwann, inzwischen ist es stockdunkel, setzt sie sich in Bewegung. Die Stimmen, die immer noch in ihrem Kopf vor sich her Murmeln, werden lauter. Das Einzige, das Michiru von ihren Worten die ganze Zeit versteht ist: Etwas Gefährliches steht bevor. Der Kampf um Leben und Tod beginnt.

Die Begabten Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt