Noras Augen leuchten so hell, dass Ao durch die Blendung automatisch seine Augen schließt. Langsam und etwas unsicher, weil er gerade nichts sieht, geht er weiter auf das Mädchen zu, wobei er sich zum Teil an den Geräuschen um sich herum orientiert. Sein Instinkt sagt ihm, dass es sich hier keinesfalls um eine offensive Fähigkeit handelt, weshalb er eigentlich nichts zu befürchten hat. Er geht neben Nora in die Hocke und legt ganz vorsichtig seine Hand auf ihre Schulter.
Die Weißhaarige starrt wie in Trance ins Leere. Vor ihren Augen verschwimmt alles und der Boden unter ihren Füßen bricht weg. Sie befindet sich im freien Fall und ihr Sichtfeld besteht nur noch aus langgezogenen Strichen, als sähe sie bei hoher Geschwindigkeit aus einem Auto heraus. Von einem Moment auf den anderen befindet sie sich auf einer freien Fläche, alles um sie herum ist schwarz-weiß. Vor Panik zitternd sieht sie sich um und augenblicklich durchzieht ein starker Schmerz ihre Brust. Sie sinkt auf die Knie, ihre rechte Hand in ihr Oberteil gerammt. Verzweifelt versucht sie trotz des enormen Drucks auf ihrer Lunge zu atmen. Ein und aus..., befiehlt sie sich selbst und zwingt sich, tiefe Atemzüge zu nehmen. Es fühlt sich so an, als würde jemand mit voller Kraft auf ihre Brust treten und bei jedem Tritt noch mehr zu drücken.
Plötzlich ertönt nicht weit vor ihr ein Knall. Mit nur halb geöffneten Augen schaut sie auf und sieht eine riesige schwarze Kugel vor ihr, die unaufhörlich immer größer wird und alles verschlingt, was ihr in den Weg kommt, auch Nora. Nun bleibt ihr endgültig die Luft weg. Wieder bricht der Boden weg und sie fällt, während sie nach Sauerstoff ringt. Ihr Hals ist zugeschnürt, genauso wie ihre Lunge. Sie bekommt ein einengendes Gefühl, als würde man sie in einen winzig kleinen Raum hineinquetschen.
Auf einmal berührt sie etwas an der Schulter. Vor ihren Augen verschwimmt wieder alles und sie spürt wieder festen Boden unter ihr. Endlich kann sie wieder frei atmen, wenn auch nur schwer. Sie schaut vor Schmerz zuckend auf und direkt in die gelben Augen von Ao.
Der sieht sie mit besorgtem Blick an und legt seine Hand auf ihren Kopf. »Hey, alles gut.«, flüstert er sanft, wobei man bei seinem Verhalten zuvor nie hat denken können, dass er auch lieb sein kann. Ihr ängstliches Zittern ist ihm natürlich sofort aufgefallen, weshalb er mit seiner freien Hand ihre nimmt und vorsichtig mit seinem Daumen über ihre Handoberfläche streichelt. »Das gerade war deine Zweitfähigkeit, oder?«
Auch wenn sie sich schon ein wenig durch ihn beruhigt hat, zittert sie weiterhin. »S-sie nennt sich Visioneye.«
»Und was hast du gerade gesehen?« Er wirft einen kurzen Blick zu seiner Schwester, die immer noch wie erstarrt an derselben Stelle sitzt, an der er sie abgelegt hat.
»Dass etwas Schlimmes passiert.« Sie reibt sich ihre Augen.
»Geht das auch etwas genauer?«
Nora schüttelt ihren Kopf und blinzelt mehrmals, um wieder klarer sehen zu können, aber es funktioniert nicht. Sie sieht alles nur komplett verschwommen.
Erst jetzt löst sich Michiru aus ihrer Starre. Kaum merklich zitternd geht sie auf die beiden zu. Etwas Gefährliches steht bevor. Der Kampf um Leben und Tod beginnt., erinnert sie sich an die Worte der Stimmen in ihrem Kopf, die mit ihren Worten bis jetzt noch nie falsch gelegen haben. Sie bleibt direkt vor Nora stehen. »Was genau hast du gesehen? Jedes Detail ist wichtig.«
»I-ich weiß es nicht.« Ihre Atmung ist vor Angst immer noch beschleunigt, obwohl sie sich inzwischen um einiges beruhigt hat. Wenigstens zittert sie nicht mehr. »I-ich habe nichts gesehen.« Einerseits hat sie sowieso nur diese komische, alles verschlingende schwarze Kugel gesehen, andererseits will sie sich nicht weiter an ihre Vision erinnern. Allein der Gedanke daran, ließ wieder Panik in ihr aufsteigen.
Gefährlich... Etwas sehr gefährliches steht bevor... Als sie einen stechenden Schmerz spürt, hält sich Michiru den Kopf. Was genau? Gefährlich..., bekommt sie nur wieder als Antwort, den Rest des undeutlichen Gemurmels versteht sie nicht, dafür sind ihre Kopfschmerzen zu groß. »Auf jeden Fall stimmt es, dass etwas Schlimmes geschehen wird.«
Ao sieht seine Schwester an. »Die Stimmen?« Natürlich weiß er von der Fähigkeit seiner Schwester, die sie immer quält. Michiru antwortet mit einem Nicken.
Langsam und noch immer etwas wackelig auf den Beinen steht Nora auf. Sie hat genug von den beiden und will nach ihrer Vision nicht mehr, als alleine zu sein und ihre Ruhe zu haben. Doch als sie losgehen will, läuft sie schon wieder gegen Ao.»Das wie vielte Mal war das jetzt heute? Das dritte, oder?«, knurrt er, inzwischen hat er wieder einen genervten Unterton. »Du musst echt besser auf deinen Weg achten.«
»I-ich habe dich nicht gesehen.«
»Bist du blind, oder was?«
»N-nein...«
»Ich bin 1,78, du kannst mich gar nicht übersehen.«, stellt er fest und bemerkt, wie sich seine Schwester die Hand vor den Mund hält, um ihr Grinsen vor ihm zu verstecken. Dabei weiß er ganz genau, wie sie gerade verzweifelt versucht, ein Lachen zu unterdrücken.
»T-tut mir leid, aber ich hab dich wirklich nicht gesehen, zumindest zur Hälfte nicht...« Nora sieht auf ihre Hände, wobei sie aber nur schwache Umrisse erblickt. W-was passiert hier?, fragt sie sich in Gedanken.
Michiru wedelt ein bisschen vor dem Gesicht der Weißhaarigen herum. »Das sind Nebenwirkungen deiner Fähigkeit, oder?«
»Hör auf...«, murmelt Nora leise und schaut zu Boden, bevor sie auf die Frage der Älteren antwortet. »Ja, für alles zahlt man einen Preis.« Und bei ihr ist es wohl ihr Sehvermögen.
»Dann solltest du nach Hause gehen, bis die Nachwirkungen vorbei sind.«, schlägt Michiru vor, wobei sie sich selbst nie daran hält.
Nora senkt ihren Kopf. »Es geht schon wieder, wirklich. Auch wenn das erst meine zweite Vision war, habe ich mich bereits daran gewöhnt.«
»Was war deine erste Vision?« Die Neugier in Michiru ist einfach zu groß, genauso wie ihre Angst. Vielleicht deutet ihre erste Vision auch auf das gefährliche Ereignis hin und gibt mehr Aufschluss darüber, was passieren wird.
Unsicher schaut Nora zum verschwommenen Umriss ihres Gegenübers, während sie wieder zu zittern beginnt. Allein der Gedanke an diese Erinnerung vor drei Jahren, lässt Panik in ihr aufsteigen. Sie blendet alles um sich herum aus, als ihr die Bilder von damals in den Kopf kommen. »Als mein Bruder versucht hat, etwas Kriminelles anzustellen.« Sie schließt ihre Augen für einen Moment und atmet tief durch, um sich zu beruhigen.
Michiru muss lächeln. »Dann ist deiner ja nicht besser als meiner.«
Für diese Aussage bekommt sie von ihrem Bruder einen Schlag auf den Kopf. »Halt die Klappe, du blöde Kuh!« Es soll niemand wissen, wie er immer die Fähigkeiten der beiden vertuscht.
Nora beginnt leicht zu lachen, was aber sofort wieder verschwindet. Sie hasst es, da sich ihr Lachen immer wie das eines schüchternen, süßen, kleinen Mädchens anhört.
»Es ist schön.«, meint Michiru und lächelt freundlich, woraufhin Nora Farbe ins Gesicht schießt. »Das braucht dir nicht peinlich zu sein.«
Schnell dreht sie sich von den beiden Geschwistern weg und legt ihre Hand auf ihr linkes Auge. »Ob es wohl jemanden mit einer Heilkraft gibt...?« Auf einmal wirkt sie traurig und ihre Stimme hört sich auch so an.
»Ganz bestimmt.« Michiru legt ihre Hand auf die Schulter der Zwölfjährigen. »Irgendwann wirst du wieder ganz normal sehen können.«
Nora sieht sie unsicher an. »H-hab ich das gerade etwa laut gesagt?«
»Ja, aber das ist nicht schlimm. Auf der ganzen Welt gibt es genug Begabte mit komplett unterschiedlichen Fähigkeiten. Irgendwer muss einfach eine Art Heilkraft geben.«
Nach diesen Worten schaut die Weißhaarige zu Boden. »Man kann es nicht rückgängig machen.« Mit traurigem Blick starrt sie auf ihre verschwommenen Füße. Es geht nicht. Was einmal mit Fähigkeiten angerichtet wurde, kann man vermutlich auch nicht mit einer anderen Fähigkeit heilen.
»Das weißt du doch gar nicht.«, mischt sich Ao ein, der sich mit verschränkten Armen zum See gewendet hat. »Einen Versuch ist es wert, oder? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
»Wohl wahr.«, sagt sie, obwohl sie nicht gerade daran glaubt. Drei Jahre sieht sie nun bereits auf dem linken Auge blind und in all der Zeit ist es kein Stück besser geworden. Sie hat einfach die Hoffnung darauf verloren, dass sie je wieder wie ein normaler Mensch sehen zu können. Egal, was die beiden sagen, es war unmöglich, Nora vom Gegenteil zu überzeugen. Und sie will nun auch nichts mehr davon hören, denn es würde sie nur noch trauriger machen. Wortlos läuft sie los, keine Ahnung, wohin, aber sie will weg. Allerdings kommt sie nicht weit, weil sie durch ihre schlechte Sicht erneut mit dem Sechzehnjährigen zusammenstößt. Während dieser genervt knurrt, kann sich Michiru ein Lachen nicht länger verkneifen und kichert los.
»T-ut mir leid, i-ich...«, setzt sie an, wird jedoch von ihm unterbrochen.
»Willst du jetzt auch noch ein drittes Mal in mich rein rennen, obwohl ich an derselben Stelle stehe? Und das war insgesamt bereits das vierte Mal heute, dass das passiert ist.«
Dieser Junge machte der zwölfjährigen wirklich Angst. Selbst wenn sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen kann, weiß sie, wie genervt er von ihr ist. Seine laute und leicht wütende Stimme bestätigte ihr Gefühl zusätzlich, während sie seinen stechenden Blick deutlich auf ihrer Haut spürte. »I-ich habe dich nicht gesehen...« Natürlich muss sie vor Angst wieder stottern, was sie total stört.
»Aber inzwischen solltest du doch hoffentlich gemerkt haben, dass ich hier stehe.«
»J-ja.«
«Dann geh jetzt gefälligst um mich herum, anstatt mich anzurempeln.«
Michiru, die vor lachen schon weint, wischt sich schnell die Tränen weg, als Ao auch ihr einen bösen Blick zuwirft. Schnell wechselt sie das Thema: »Sollen wir dich nicht vielleicht doch nach Hause bringen?«
»N-nein.« Sie will das nicht. Erstens will sie ganz sicher noch nicht nach Hause, schließlich ist gerade einmal Mittag. Zweitens will sie endlich ganz alleine sein. Das ist heute ein wenig zu viel für sie gewesen: Die Sonne, die Vision, diese beiden nervigen Geschwister und die Erinnerung an den Vorfall vor drei Jahren.
»Sicher?«, hackt Michiru nach und wirft einen kurzen, unauffälligen Blick zu ihrem Bruder, der sich inzwischen wieder abgewendet hat. Dann spricht sie mit Flüsterton weiter, wobei sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht schleicht. »Nicht, dass du in noch mehr Leute reinrennst.«
Nora dagegen findet das nicht so witzig. Durch ihre verschwomme Sicht, kann sie inzwischen nicht einmal mehr sagen, wo sich der See befindet, geschweige denn, wo genau Ao steht.
»Du wohnst ja auch nicht all zu weit von hier entfernt, also wird es auch ganz schnell gehen.«
»T-trotzdem nein.« Sie gibt sich Mühe, ihre Stimme so selbstbewusst und stark wie möglich klingen zu lassen, doch leider funktioniert es nicht.
Ein Knurren weckt ihre Aufmerksamkeit und sie sieht in die Richtung aus der es kommt. Natürlich ist ihr klar, wer das ist. Mit den Händen in den Hosentaschen stolziert Ao zu ihr, um sie kurz darauf am Nacken hochzuheben, wie er es heute bereits ein paar Mal mit ihr und seiner Schwester getan hat. »Mir egal, ob du willst, oder nicht. Du bist fast blind und kommst wahrscheinlich keine zehn Meter weit, ohne mit jemandem oder etwas zusammenzukrachen. Außerdem kannst du hier nicht einfach so herumrennen, wenn du deine gemeingefährliche Fähigkeit nicht unter Kontrolle hast. Und deshalb bringe ich dich jetzt nach Hause.«
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Die Begabten Teil 1
FantasyVor über Hundert Jahren kam ein Kind mit besonderen Fähigkeiten zur Welt. Dieses Mädchen wurde seit Geburt an von den Menschen gemieden. An ihrem 12. Geburtstag entschied sie sich ihre Kräfte für die Menschen einzusetzen, was von allen beglückwünsch...