PROLOG

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12. Mai 2018

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Es gibt Menschen, die haben es ein Leben lang vor Augen, dass sie Gangster werden wollen. In GoodFellas spricht Henry Hill davon, dass er es bereits seit er denken kann werden will, weil er sie bewundert. Gangster. Manchen Leuten wird es in die Wiege gelegt, weil sie in einer Familie geborgen werden, die den Cosa Nostra angehört, den Triaden oder einem anderen Scheißpack. Andere Leute haben einfach verficktes Pech, setzten einen Fuß in das seichte Wasser und bevor sie reagieren können, werden sie von einer aufbäumenden Welle von ihren Füßen gerissen und kommen nie wieder aus dem Strudel des Gangster-Lebens hinaus.

Jimin Park war nicht Henry Hill. Er wollte nie Gangster werden, in keiner Sekunde seines abgefuckten Lebens hatte er darüber nachgedacht — gar mit dem Gedanken gespielt — eines Tages Gangster zu werden. Und verfickte Scheiße, warum sollte er das auch gewollt haben? Er hatte sogar Schiss davor mit ein paar Gramm Gras in seinen Taschen erwischt zu werden. Er war einer derjenigen armen Pisser, die da hineingerutscht waren, ohne es zu wollen. Und nun konfrontierten ihn die Konsequenzen, wie ihm langsam schmerzlich bewusstwurde.

Das Brennen seiner aufgeplatzten Lippe war das überwiegende Indiz für Jimin, dass seine gegenwärtige Situation real war. Beschissen real. Dass er sich gerade nicht in einem Rausch befand, beflügelt von einer Line Koks in seiner Blutlaufbahn und den getrockneten Pulverresten an seiner Nase, sondern komplett bei Sinnen war. Dass er tatsächlich seit mehreren Stunden auf einem unbequemen Stuhl in einem Verhörraum des Chicago Police Department saß und alles tat, außer den Fragen des Detectives Antwort zu leisten, der ihm gegenübersaß.

Der Detective schien einige Jahre älter zu sein als er selbst, aber nicht so alt, wie sich Jimin Detectives im Dienst vorgestellt hatte. Vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig. Wenn er seine Stirn in Falten legte und seine Lippen schürzte, wirkte er älter, als wenn er ihn ausdruckslos anschaute und mit seinem Blick vor sich fokussierte.

Der Detective hatte kurze Haare, die er augenscheinlich mit etwas Gel nach hinten gestrichen trug. Anstelle einer Uniform — die Jimin dank all der Hollywood Streifen die er gesehen hatte für Selbstverständlich gehalten hatte — trug er eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Oberhalb seiner Brust hing ein winziger Fussel, doch in den verstrichenen Stunden war diese Kleinigkeit Jimin wie ein Dorn in die Augen gestochen; er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, den Detective darauf hinzuweisen oder den Flusen gar selbst weg zu streichen, doch er hatte nichts riskieren wollen. Stattdessen lenkte diese Kleinigkeit ihn ab; drängte sich in seine Gedanken und half ihm dabei, die Stimme seines Gegenübers auszublenden. Er fokussierte sich auf dieses Detail, bis der Detective den Flusen wegstrich; ob unbewusst oder bewusst vermochte Jimin nicht zu sagen. Doch diese Bewegung ließ ihn aus seiner Starre erwachen.

»Jimin«, durchbrach die tiefe Stimme seines Gegenübers die Stille, die bereits seit unbestimmter Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte als der Detective irgendwann aufgegeben hatte, Jimin mit bohrenden Fragen zu quälen. »Ich weiß, dass die vergangenen vierzehn Monate traumatisierend für dich gewesen sind, dennoch musst du uns helfen.« Ihre Blicke trafen sich. Er erkannte etwas wie Mitleid in den dunklen Augen des Detectives — und es erregte Übelkeit in ihm. Er hielt ihn für ein Opfer. Dabei wusste Jimin es besser. »Du musst nicht befürchten, dass dich ein Bericht der Ereignisse negativ beeinflusst. Der Psychologe stellt ein psychiatrisches Gutachten für dich aus, du kannst vor Gericht zu keinerlei Rechenschaft gezogen werden. Du bist schuldunfähig, Jimin.«

Jimin wusste nicht, ob er wirklich schuldunfähig war. Er war sich immer sicher gewesen, dass wenn er eines Tages festgenommen werden sollte, er ins Gefängnis wandern würde — genau wie die anderen. Wieso war der Detective nun also so davon überzeugt, dass er ein psychologisches Gutachten bekommen würde, welches ihn als schuldunfähig darstellen würde? Er wusste, dass ein Psychologe ihr Gespräch über ein Mikrofon mitverfolgte; darüber hatte ihn der Detective aufgeklärt. Und er hatte auch mitbekommen, dass der Detective zwischendurch den Raum verlassen hatte, um mit ihm zu reden. Es waren ein paar Minuten, in denen sich Jimin nicht hatte auf den Flusen des Rollkragenpullovers konzentrieren können. Die Minuten waren ihm wie Stunden vorgekommen; er hatte an die helle Wand ihm gegenüber gestarrt, doch er hatte kein Fehler in dem Muster finden können; keinen Makel. Kein einziges fehlerhaftes Detail.

THE DRAGON'S FIRE | ʸᵒᵒⁿᵐⁱⁿWo Geschichten leben. Entdecke jetzt