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Die kalte Luft ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Es war sechs Uhr morgens.

Geschlafen hatte ich nicht. Meine Kopfschmerzen waren vom ganzen weinen noch schlimmer geworden. Dabei wusste ich nicht einmal, wieso ich weinte. Das Gefühl von Heimweh war wieder da, als ob es nie weg gewesen wäre. Mein Körper zitterte und in meinem Kopf waren viele zu viele Gedanken.

Die breite Brücke war fast unbefahren, was mich ein wenig runterkommen ließ. Das Geländer reichte mir bis zur Brust, als mich dagegen lehnte und den Geruch das Wassers genoss. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, weshalb mir kalt wurde und ich meinen Mantel enger um mich schlung. Unter diesem trug ich schon meine Schuluniform. Neben mir lag mein gepackter Rucksack.

Was jetzt wohl die Jungs machen würden? Bei dem Treffen vor zwei Wochen hatten wir eine gute Zeit gehabt. Ob sie mich wieder einladen würden? Hoffentlich.

Ich befreite meine eine Hand von dem Ärmel des Mantels, den ich über sie gezogen hatte, und nahm die Kette um meinem Hals in die Hand. Der Anhänger hatte die Form eines Engels. Vor etwa einem halben Jahr hatte ich diese Kette gekauft.

Der kleine Engel baumelte vor sich hin, während ich leer an ihm vorbei starrte. Was war denn los mit mir? Es sollte nicht wieder anfangen.

Mit einem lauten Seufzen setzte ich mich auf den kalten Boden. Mein Atem war in der Luft zu sehen, wie er sich ausbreitete und schließlich verschwand. Gebannt sah ich ihm zu, bis meine Zähne zu klappern begannen. Meine Beine ließ ich durch das Geländer von der Brücke baumeln.

Was, wenn ich jetzt springen würde? Dieses Mal würde mich vorerst niemand finden, oder mein verschwinden bemerken. Zuhause lag ein Zettel auf dem Küchentisch, und erst in zwei Stunden fing die Schule an. Bis dahin wäre mein Körper wohl nicht mehr zu retten.

"Nein."
Leise murmelte ich zu mir selbst.
"Denk an Mama und Papa..."

Für sie musste ich stark bleiben. Sie sollten nicht wissen, wie schrecklich es sich anfühlen musste, sein eigenes Kind zu verlieren. Selbst wenn ich im Überlebensmodus weiter machen müsste, durfte ich sie nicht alleine lassen.

Zittrig atmete ich tief ein. Doch beim ausatmen entkam mir ein lautes Schluchzen. Verzweifelt klammerte ich mich an den kalten Metallstangen vor mir fest, und lehnte meinen Kopf gegen sie. Das Geräusch von einem vorbeifahrenden Auto übertönte mich.

Immer lauter und lauter schluchzte ich, aber keine Tränen verließen meine Augen. Ich konnte einfach nicht mehr, aber ich durfte nicht gehen.

In diesem Moment brach ich komplett zusammen. Schreiend hing ich am Geländer. Wenn es nicht da wäre, würde ich einfach ins Wasser fallen und versinken. Mein gesamter Körper wehrte sich dagegen, wieder aufzustehen und etwas zu tun. Ich wollte und konnte es nicht.

Dabei war ich dich noch so jung. Mit sechzehn Jahren sollte man nicht sterben wollen.

Langsam wurde ich immer leiser, bis ich komplett verstummte. Ich hatte nicht mehr genug Energie, um irgendetwas zu tun. Die Tränen auf meinen kalten Wangen trockneten.

Eine undurchdringbare Stille legte sich über mich. Das Wasser unter mir und die Autos hinter meinem Rücken waren das einzige, was mich daran erinnerte, dass die Zeit nicht stehen geblieben war.

Ich hatte mein Zeitgefühl komplett verloren. Vielleicht saß ich zwei Minuten dort, oder auch eine Stunde. Es war mir komplett egal.

Ein Windstoß pustete mir die Haare aus dem Gesicht. Es war bitterkalt; das Gefühl in meinen Fingern war schon lange verschwunden. Meine Nase kitzelte, und ich musste niesen.

Wie es wohl wäre, einfach hier sitzen zu bleiben? Vielleicht würde ich ein paar Stunden-

"Hey... Alles ok?"

Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. Alles schien wieder zurückzukehren. Die Sonne war inzwischen am aufgehen, ohne dass ich es bemerkt hatte.

Blitzschnell drehte ich meinen Kopf zu meiner rechten, wo eine Gestalt neben mir kniete. Die Sonne schien in mein Gesicht, also musste ich meine Augen zusammenkneifen. Es war ein schlanker Junge mit braunen Haaren und blasser Haut. Er trug eine graue Jogginghose, eine dicke schwarze Jacke und hielt eine Bäckertüte in der freien Hand.

Es war mir unangenehm, dass ich so vom jemanden gesehen wurde. Wenigstens war er alleine.

"Ja... Alles in Ordnung."
Ich schenkte ihm ein leichtes Lächeln. Ich wusste nicht einmal, ob es echt oder gefälscht war.

Der Junge neben mir sah mich prüfenden an. Es erinnerte mich an meinen Arzt, als er mir die Atemmaske abgenommen hatte. Der gleiche prüfende Blick. Gedanklich schlug ich mich selbst, um nicht daran zu denken.

"Es ist kalt... Wieso sitzt du hier?"
"Ich konnte nicht schlafen...", meinte ich ausdruckslos. Andere konnten mehrere Nächte durchmachen, ohne müde zu sein, aber ich brauchte meinen Schlaf.

Er nahm die Hand von meiner Schulter und hielt sie mir auffordernd hin. Zuerst wusste ich nicht, was er wollte, aber nach ein paar Sekunden ergriff ich sie und ließ mich von ihm auf die Beine, die aus dem Geländer befreit wurden, ziehen. Seine Hand fühlte sich in meiner schon fast heiß an, und wie auf Kommando begann ich wieder zu zittern.

Er war etwas größer als ich, und sah ein wenig älter aus. Mit schiefgelegtem Kopf sah er mich an, während ich nur auf den Boden sah und mit meinen zitternden Fingern spielte.

"Willst du mit mir frühstücken?"

𝗟𝗲𝘁'𝘀 𝗻𝗼𝘁 𝗳𝗮𝗹𝗹 𝗶𝗻 𝗹𝗼𝘃𝗲 | 𝐁𝐓𝐒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt