Kapitel 4

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Henry

Bei allen Dämonen, was war bloß geschehen? Nachdem er Lucy bei sich zu Hause abgesetzt hatte, saß er nun vor dem Behandlungsraum des St Mary's Hospital, in das er sich teleportiert hatte, um das Leben der anderen Frau zu retten.

Er stützte sich mit den Ellenbogen auf seine Oberschenkel und vergrub den Kopf in den Händen. Erneut war er seinem Verlangen nach Blut verfallen und hatte sich das Blut eines Menschen ohne dessen Einwilligung genommen. Er war gefallen und noch früher als sonst vom Durst überwältigt worden. Blutrote Dunkelheit hatte ihn umhüllt und blind für jede Vernunft gemacht.

Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Fingernägel in die Haut stachen und Blut aus seiner Handinnenfläche rann. Am liebsten hätte er sich die Bank, auf der er Platz genommen hatte, geschnappt und gegen die Wand geschleudert. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass er sich so wenig unter Kontrolle hatte? Wann hatte er zugelassen, dass er so schwach wurde? Vor dem unberechenbaren Teil in seinem Innern, der mit jedem Tropfen Blut ein Stück mehr an Kraft gewann. Es war, als hätte ein Dämon von ihm Besitz ergriffen.

Jeden Tag wurde die Gier nach Blut präsenter in seinem Kopf, seinem Herzen, seinem Geist. Jeden Tag wurde der Durst stärker und der Dämon wollte mehr. Mehr Blut, mehr Platz in seinem Körper und mehr Kontrolle über seine Seele. Das Flüstern der Gier war in den letzten Monaten sein ständiger Wegbegleiter geworden, der ihm wie ein Tinnitus unablässig in den Ohren lag und sich wie ein Parasit in ihm ausbreitete.

Erst jetzt bemerkte er, wie still es in seinem Kopf geworden war. Er horchte in sich hinein, suchte nach Spuren von dämonischem Geflüster und Verlangen nach Blut. Doch da war nichts. Tief sog er einmal die Luft ein und atmete aus. Nichts als wohltuende Ruhe erfüllte ihn. Er versteifte sich. Wie war das möglich? Es schien eine kleine Ewigkeit her zu sein, dass er von solchem Frieden erfüllt war. Plötzlich erinnerte er sich: Er hatte von Lucy getrunken und nach wenigen Schlucken war sein bisher unstillbarer Durst nach Blut wie ausgelöscht gewesen. Selbst jetzt war er nicht durstig, obwohl er all das Blut um sich herum im Krankenhaus riechen konnte, genau wie das der jungen Frau, um deren Leben die Ärzte nun kämpften. Er hoffte, dass sie es schaffen würden, denn ansonsten hätte er eine Schuld auf sich geladen, die er nie wieder gut machen konnte. Obwohl ihm das im Grunde genommen gleichgültig war. Er hatte so lange gelebt, so viel erlebt, nichts vermochte ihn noch zu berühren, aufzuregen oder zu beunruhigen. Seitdem der Friedenspakt geschlossen worden war, gab es keine Schlachten mehr zu schlagen und Blut konnte man gefühlt an jeder Ecke kaufen. Sein Leben war langweilig und bedeutungslos geworden und das Einzige, was in ihm noch etwas ausgelöst hatte, war das Stillen seines Durstes gewesen.

Bis jetzt. Bis ihn diese Frau aus seinem Rausch gerissen hatte.

Näherkommende Schritte hinter der Tür des Behandlungszimmers unterbrachen sein Grübeln und er sah in dem Moment auf, als die Tür geöffnet wurde. Ein schlanker Mann mit kurzen blonden Haaren, einem markanten Gesicht und hohen Wangenknochen trat in seiner blauen OP-Kleidung auf ihn zu. Alexander.

Der erste von zwei Menschen, die er in einen Vampir verwandelt hatte. Eine Entscheidung, die er nie bereut hatte, denn inzwischen reichte eine Hand nicht mehr aus, um die Male zu zählen, die dieser Mann ihm das Leben gerettet hatte.

„Ich weiß nicht wie, aber du hattest verdammt viel Glück. Wir konnten ihr wieder ausreichend Blut zu zuführen. Der Rest braucht einfach Zeit."

Henry nickte.

„Ehrlich gesagt, glaube ich sogar, du hattest mehr Glück als Verstand", fuhr Alexander fort und musterte ihn. Henry konnte sich vorstellen, wie ungepflegt und schmutzig er aussehen musste, nachdem er tagelang im Kampf gegen den Durst seines Dämons herumgelungert war.

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⏰ Last updated: Nov 14, 2019 ⏰

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Ungestillter Durst - Die Macht des BlutesWhere stories live. Discover now